Israelische Angriffe auf Gaza: Können Journalisten Terroristen sein?
Gaza ist ein Friedhof für Journalisten. Doch Israel behauptet immer wieder, eigentlich Terroristen zu treffen. Die Unterscheidung ist manchmal schwer.
Die Szene ereignete sich in der Nacht zum 26. Dezember in Nuseirat im zentralen Gazastreifen. Die israelische Armee (IDF) spricht von einem präzisen Luftangriff gegen eine Zelle des Palästinensischen Islamischen Dschihads (PIJ), einer kleineren islamistischen Terrororganisation, die ebenfalls am Angriff vom 7. Oktober 2023 gegen Israel beteiligt war. Sie veröffentlichte die Namen der fünf mutmaßlichen Terroristen, einer soll der lokale Sicherheitschef des PIJ gewesen sein.
Der Sender Al-Quds Today sieht das anders. Die fünf Getöteten seien Journalisten, Kollegen. „Wir bitten Gott, den Allmächtigen, sich unserer Märtyrer zu erbarmen und sie mit den Märtyrern und den Gerechten aufzunehmen“, schreibt der Sender in einem Instagram-Beitrag. Der Kanal werde seine „mediale Botschaft des Widerstands fortsetzen“, heißt es weiter.
Die Palästinensische Journalistenunion spricht vom „Märtyrertod von fünf palästinensischen Journalisten“, ihr Blut werde „ein Leuchtfeuer bleiben, das den Weg zu Freiheit und Gerechtigkeit erhellt“. International ist von „getöteten palästinensischen Journalisten“ die Rede, von der BBC über Al Jazeera bis zum Guardian. Auch in der taz.
145 tote Journalisten
Der Luftangriff auf den Pressebus in Nuseirat ist kein Einzelfall. Reporter ohne Grenzen zählt inzwischen 145 tote Medienschaffende in Gaza seit Kriegsbeginn im Oktober 2023. „Uns liegen zudem belastbare Informationen vor, die nahelegen, dass das israelische Militär Journalist*innen gezielt ins Visier nimmt“, sagt Sprecher Christopher Resch. Solche bewussten Angriffe seien Kriegsverbrechen.
Doch der Fall der mutmaßlichen PIJ-Mitglieder des Senders Al-Quds Today wirft die Frage auf: Wer entscheidet auf welcher Grundlage, wer im Gazakrieg als Journalist zählt – und wer als Terrorist?
Zugang zum weitgehend zerstörten Küstenstreifen gewährt der internationalen Presse weder Israel noch Ägypten, die die Grenzen kontrollieren – offiziell aus Sicherheitsgründen. Bis auf einige organisierte Presserundgänge der IDF ist eine freie, unabhängige Berichterstattung vor Ort für internationale Journalisten kaum möglich. Stattdessen machen es Palästinenser selbst.
„Es gibt eine fast exklusive Rolle für palästinensische Journalisten, die Geschichte dieses Krieges zu erzählen“, sagt Ahmed Fouad Alkhatib der taz. Er ist politischer Analyst und aktuell Senior Fellow beim Atlantic Council in Washington, seine Familie kommt aus Gaza, wo er teils aufgewachsen ist. „Doch Fakt ist, dass viele den Widerstand und die Hamas offen unterstützen.“
Für Alkhatib bleiben sie dennoch Nichtkombattanten, die nicht zum Ziel der IDF werden sollten. Nach der Genfer Konvention verliert ein Journalist nur sein Recht auf Schutz, wenn er direkt an Gewaltakten teilgenommen hat.
Dünne Beweislage des israelischen Militärs
Die Beweislage der IDF im Fall des Pressebusses in Nuseirat bleibt dünn. Sie teilte einen Screenshot von einer Excel-Tabelle, die in Gaza gefunden worden sein und Mitglieder der Terrororganisation PIJ zeigen soll, aber von der taz nicht verifiziert werden konnte.
Vier der Tabellenreihen sind gelb markiert und wurden von der Armee ins Englische übersetzt. Sie zeigen Namen, Dienstgrad, Rolle, Brigade, Einheit, ID-Nummer und Militärnummer – und sollen belegen, dass vier der Mitarbeiter von Al-Quds Today aktive Mitglieder waren. Für die IDF sind sie „Kampfpropagandisten“. Weitere Belege will sie mit der taz nicht teilen.
Ob Al-Quds Today überhaupt als journalistischer Sender gilt, bleibt fraglich. Er bietet regelmäßig Funktionären des PIJ eine Plattform, verbreitet die Ideologie der Terrororganisation. Nachdem im Dezember die islamistischen Huthis in Jemen Israel zehnmal mit Drohnen und ballistischen Raketen angegriffen und eine Grundschule bei Tel Aviv getroffen hatte, feierte Al-Quds Today am 1. Januar mit einem Foto eines Raketenstarts und den Worten: „Sieg für Palästina. Jemen-Raketen sind Botschaften des Feuers“. Reporter ohne Grenzen hat den Fall nicht in seine Statistik aufgenommen, weil der Sender vom PIJ finanziert werde, heißt es.
„Doch es gibt auch eine große Grauzone“, sagt Alkhatib. Kämpfer der Hamas und des PIJ würden auch Doppelleben führen, als Bauarbeiter, Lehrer oder eben Journalisten. „So kann man nicht einfach und endgültig sagen, ob jeder dieser fast 200 Getöteten Journalisten oder Terroristen gewesen seien.“ Alkhatib fragt sich, wo man die Grenze zieht.
Geiseln im Haus
Ein Doppelleben führte etwa Abdallah Aljamal: Der Mann, der 2019 einen Gastbeitrag für Al Jazeera schreiben durfte, dort als Reporter und Fotojournalist bezeichnet wird und regelmäßig für die US-Seite Palestine Chronicle berichtete, hielt zusammen mit seinem Vater bei sich zu Hause drei israelische Geiseln gefangen, die vom Musikfestival Nova entführt worden waren. Als die IDF im Juni 2024 die Geiseln befreite, wurde er getötet.
Andere Fälle sind jedoch uneindeutiger. Im vergangenen Juli tötete die IDF den Al-Jazeera-Korrespondenten Ismail al-Ghoul – ein Hamas-Mitglied, sagt die IDF. Belegen soll das laut der Armee der Screenshot einer Excel-Tabelle, die al-Ghoul als Mitglied der Al-Qassam-Brigaden listet. Die Echtheit der Tabelle konnte die taz ebenfalls nicht verifizieren.
Eine IDF-Sprecherin sagt, al-Ghoul habe Anschläge gegen israelische Soldaten aufgezeichnet und veröffentlicht, was „ein wesentlicher Bestandteil der militärischen Aktivitäten der Hamas“ sei. Er habe zudem am 7. Oktober teilgenommen. Reporter ohne Grenzen sagt, dass es begründete Zweifel an dieser Argumentation gebe – und forderte zu diesem und weiteren Fällen eine Untersuchung durch den Internationalen Strafgerichtshof, der dazu noch ermittelt.
Am 15. Dezember tötete ein israelischer Luftangriff Ahmad al-Louh, einen Al-Jazeera-Kameramann. Die IDF sprach wieder von einem „präzisen Schlag“ auf ein Kommandozentrale der Hamas und des PIJ, die einen „unmittelbar bevorstehenden Terroranschlag gegen IDF-Truppen“ geplant haben soll. Al-Louh sei ein „Terrorist“ gewesen, sagt eine IDF-Sprecherin. Belege dafür lieferte die Armee nicht. Laut den Informationen, die Reporter ohne Grenzen aktuell vorliegen, treffen die Vorwürfe nicht zu, heißt es.
„Eines ist klar“, sagt Alkhatib. „Es gab tatsächlich legitime Journalisten, die getötet worden sind, und es gab Journalisten mit sehr fragwürdigen Verbindungen, die ebenfalls getötet worden sind. Beide Dinge können wahr sein, ohne dass das eine das andere rechtfertigt.“
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