Inga Humpe im Gespräch: „Wer nicht wählt, ist ein Arschloch“
Die Sängerin von 2raumwohnung über die politische Dimension des Tanzens, den alltäglichen kleinen Weltuntergang und die freie Liebe.
taz.am wochenende: Frau Humpe, Sie scheinen Expertin für das Thema Apokalypse zu sein: Wann geht denn nun die Welt unter?
Die Welt geht doch nicht unter. Die geht immer nur ein bisschen unter, dann geht sie wieder auf. Aber seit wann bin ich Expertin für dieses Thema?
Wenn man „Nacht und Tag“, das neue Album Ihres Projekts 2raumwohnung, hört, drängt sich dieser Eindruck auf. „Was ist mit der Welt, will sie untergehn?“, fragen Sie da in einem Song. In einem anderen singen Sie: „Wo sind die Augen, in die ich sehen will, bevor alles schwarz wird?“
Ich gebe zu, ich denke schon öfter über dieses Thema nach.
Seltsamer Zeitvertreib. Macht Ihnen das keine Angst?
Ich mache mir Sorgen, aber ich verschwende ziemlich viel Energie darauf, keine Angst zu haben. Angst hilft ja auch nicht weiter. Ein gutes Mittel gegen die Angst ist, aktiv zu werden, zu Pro-Europa-Demos gehen. Man darf sich der Angst nicht hingeben, sonst ist man empfänglicher für die Angstmacherei von Politikern und Medien, für Fake News. Ich bin ja ein Fan der Aufklärung. Ich glaube, die hilft immer noch am besten gegen die Angst.
Person: Geboren am 13. Januar 1956 in Hagen. Inga Humpe ist eine deutsche Sängerin, Komponistin und Texterin. Sie ist die jüngere Schwester von Annette Humpe. Mit Tommi Eckart ist sie heute erfolgreich als 2raumwohnung aktiv.
Ausbildung: Nach dem Abitur begann sie 1975 ein Studium der Kunstgeschichte und Komparatistik an der RWTH Aachen, wechselte aber im folgenden Jahr an die Freie Universität Berlin. Außerdem besuchte sie zeitweise die Max-Reinhardt-Schule.
Werdegang: Ende der 1970er Jahre gründete sie die Punkband Neonbabies, in der sie bis 1983 als Sängerin aktiv war. Einer breiten Öffentlichkeit wurde Humpe als Mitglied der Gruppe DÖF („Codo“) bekannt. Von 1985 bis 1988 trat sie mit ihrer Schwester als Humpe & Humpe auf.
Aktuelles Album: Am 16. Juni erscheint das neu 2raumwohnung-Album „Nacht und Tag“.
2raumwohnung sind allerdings eher bekannt geworden mit entspannten Liedern zum unbeschwerten Feiern.
Wir hatten aber, auch wenn das gern überhört wurde, immer auch düstere Lieder. Es gab auf jedem Album ein Lied über den Tod. Aber ja, ich muss zugeben: „Nacht und Tag“ ist in gewisser Weise ein Wendepunkt. 2Raumwohnung ist ein Kind der Club-Kultur, des Techno und des Gefühls, der Weltfrieden stände kurz bevor. Das haben wir jahrelang gelebt. Aber daran kann man heute ja nun nicht mehr glauben. Leider, muss ich sagen.
Tatsächlich hätte ich mir vor zehn Jahren nicht vorstellen können, dass sich die Welt so negativ entwickeln könnte, dass wir wieder ernsthaft Angst vor Krieg haben müssen, dass sich so ein komischer Machismo breit macht, dass überall Despoten an die Macht kommen.
Haben Sie damals tatsächlich an dieses Heilsversprechen des Techno geglaubt?
Ja, wir haben daran geglaubt im Jahr 1993.
„1993“ heißt auch der zentrale Song Ihres neuen Albums.
1993 war der Sommer der Liebe in Berlin. Ich habe bis Anfang der nuller Jahre fest daran geglaubt, dass es nie mehr schlimm werden kann, dass jetzt alles nur noch besser wird, dass sich die USA und Russland vertragen, dass in Afrika niemand mehr hungert, Palästina als Staat anerkannt wird und im Nahen Osten der Frieden ausbricht.
All das schien Ihnen 1993, während Sie tanzten, tatsächlich möglich?
Ich dachte damals allerdings nicht groß über China nach, muss ich zugeben (lacht). Aber ja, wir haben fest daran geglaubt, dass sich die Welt im Übergang in eine hippieähnliche Utopie befindet. Bald würde es allen mit einem schönen Grundeinkommen richtig gut gehen.
Wie naiv war es zu glauben, dass der Weltfrieden durch Tanzen zu erreichen wäre?
Hinterher ist man immer schlauer. In der Rückschau war es natürlich sehr naiv. Es war ein einfacher Gedanke, aber gerade einfache Gedanken können ja manchmal eine ungeheure Kraft entwickeln und besonders stark sein. Und ja, heute kann man an diesen Gedanken nicht mehr glauben. Andererseits entstehen durch solche Idioten wie Trump, Putin oder Erdoğan aber auch Gegenbewegungen – und damit neue Hoffnung.
Im Song „Sie geht los“ von 2013 beschreiben Sie jemanden, der von der Party quasi direkt in die politische Aktion startet. Kann Tanzen tatsächlich politisieren?
Ein Sound kann mitreißen und Menschen zusammenführen. Und jeder Sound verkörpert ein Lebensgefühl und hat damit eine Wirkung auf Menschen. In meiner Erfahrung kann ein Sound, kann ein Song – auch unabhängig vom Text – eine Aussage haben. Ein Sound kann Widerstand ausdrücken oder Durchbruch, kann Freiheitswillen ausdrücken, ein Sound kann etwas bewusst machen. Diese Erfahrung habe ich jedenfalls damals in den neunziger Jahren gemacht.
Von ihrem Frühjahrshoch ist die SPD unter Martin Schulz schnell wieder abgestürzt. Alles schien möglich. Und nun? Eine Vorwahlanalyse lesen Sie in der taz.am wochenende vom 20./21. Mai. Außerdem: Der FC Bayern München hat jetzt einen eigenen TV-Sender und schottet sich gegenüber Journalisten ab. Und: Inga Humpe, die Königin der Club-Kultur, im Gespräch über Nichtwähler und freie Liebe. Das alles – am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Aber kann ein Sound politisch zielgerichtet sein? Ich fürchte, auch Nazis hören gern Kirmes-Techno.
Ja, das kann schon sein. Es gibt doch immer drei bis sieben Leute, die etwas völlig falsch verstehen. Das war ja auch damals schon so in den Neunzigern, dass in den Clubs im Osten viele Rechte waren. Und denen hat man dann wirklich absichtlich Ecstasy gegeben.
Dann hat der Techno die Welt ja tatsächlich ein wenig besser gemacht …
Ja, in meiner Wahrnehmung ist die Welt damals tatsächlich immer ein bisschen besser geworden. Ich bin in Berlin aufgewachsen mit der Mauer. Dann fiel die Mauer, die Leute tanzten zu Millionen auf dem Ku’damm. Ich bin einmal während einer Love Parade mit dem Flugzeug über Berlin geflogen – und da konnte man sehen, dass auf jedem Platz, überall getanzt wurde. Viele mögen das vergessen haben, aber das war damals so, das hat diese Stadt verändert.
Viele Menschen sind damals nach Berlin gekommen, weil die Stadt ein großer Freiraum war. Da kamen Millionen zusammen, und nie ist jemand angegriffen worden, zu Schaden gekommen. Selbst wenn man halbnackt da herumlief, ist man nicht begrapscht oder angestarrt worden. Es gab Freiraum für Individualismus und sogar Exzentrik, aber vor allem wurde da ein großer Frieden demonstriert.
Wenn das nicht politisch ist? Und das ist ja auch noch nicht zu Ende. Es gibt keine Love Parade mehr, aber es gibt immer noch Clubs überall auf der Welt, in denen getanzt wird, und ein Club ist immer auch ein Freiraum.
Deswegen werden heute Clubs von Extremisten angegriffen …
… in Istanbul, in Miami oder Paris, genau. Deswegen wird das Tanzen für mich auch immer ein politischer Akt sein, auch wenn er keine politische Parole hat. Ich glaube noch an den alten Spruch: Alles ist politisch. Deswegen glaube ich auch, dass die Welt eine bessere würde, wenn jeder sich ein bisschen mehr um den anderen kümmern würde.
Wir müssen weg von dieser sehr menschlichen, aber auch kindlichen Sichtweise, immer das Beste für sich selbst haben zu wollen. Und deshalb tragen das Feiern und die Musik übrigens auch zu einer besseren Welt bei. Denn das geht nur in der Gruppe und nur, wenn man aufeinander Rücksicht nimmt. Allein feiern, das geht nicht. Ich glaube, die Gesellschaft könnte viel lernen von der Partykultur.
Na, dann kippen wir jetzt einfach Ecstasy ins Leitungswasser, und alles wird gut.
Die Idee hatten ein paar Leute auch schon damals. Aber ich fürchte, es reagieren nicht alle gleich auf Ecstasy. Nein, das wäre kein gutes Experiment. Obwohl …
Also doch lieber wählen gehen?
Na klar! Wer heute nicht wählt, der ist ein Arschloch. Weil er die Demokratie gefährdet. Wenn ich das immer höre: Die Roten sind scheiße, die Schwarzen und die Grünen auch, alle Politiker sind scheiße. Man muss doch nicht heiraten, sondern bloß wählen.
Sie haben sich mal als grüne Stammwählerin bezeichnet.
Ja, ich fürchte, ich komme da nicht mehr von runter.
Fühlen Sie sich von den Grünen noch vertreten?
Mehr als von allen anderen jedenfalls. Dass jetzt eigentlich alle Parteien für Umweltschutz und für den Atomausstieg sind, das ist ein Verdienst der Grünen. Klar hab ich auch schon mal an den Grünen gezweifelt, aber die SPD ist mir immer noch zu männerlastig und die Linke zu durchgeknallt. Sarah Wagenknecht hat einfach einen Schuss.
Könnten Sie sich mit Schwarz-Grün anfreunden?
Ja, als Experiment. Hauptsache, grün. Ich bin ja auch Merkel-Fan. Ihre Partei finde ich grauenhaft, aber sie finde ich schon sehr gut, ihren Pragmatismus, das Unemotionale, das harte Arbeiten, dass sie sich nicht aufspult und zu jedem Scheiß ihren Senf dazugeben muss. Es ist mir zwar ein wenig peinlich, aber ich fühle eine gewisse Verwandtschaft zur Kanzlerin. Auch wenn ich weder ihre Besonnenheit noch ihre Klugheit besitze. Sie ist einfach eine gute Regentin.
Ein erstaunlicher Sinneswandel: In den achtziger Jahren waren Sie noch Punk, da spielten Sie in einer Band namens Neonbabies und hätten jemandem wie Merkel wahrscheinlich am liebsten ein Bier über den Kopf gekippt.
Ja, so war das damals. Punk war Wut. Ich war ein Punk, und ich war jahrelang wütend, sehr wütend. Vielleicht hätte ich Merkel damals das Bier über den Kopf gekippt, aber ich kann mich an die Achtziger nicht mehr allzu gut erinnern.
Dann stimmt der Spruch von Falco: Wer sich an die achtziger Jahre erinnern kann, hat sie nicht erlebt?
Der stimmt schon, der Spruch. Aber bei mir liegt es nicht an den Drogen. Ich kann mich nicht so gut erinnern, weil ich die Achtziger verdrängt habe. Die haben mir lange nicht so gut gefallen wie die Neunziger. Die Achtziger waren mir zu kalt. Das war das Zeitalter der Großkotze. Und wenn wir schon von Falco sprechen: Der war total nett, aber nach außen auch ein sensationeller Großkotz.
Es war eine schlimme Zeit: Die Musikindustrie war eine einzige Ansammlung von Großkotzen. Jeder fand alle anderen blöd und nur sich selbst gut. Ich war auch nicht besser, ich fand ja auch alle scheiße. Nein, ich habe nicht viel übrig für die Achtziger. Die Partykultur der Neunziger hat mich viel mehr und vor allem positiver geprägt.
Diese Partykultur hat nicht zuletzt auch zu einem offeneren Umgang mit Sex geführt. Auch die Lieder von 2raumwohnung handelten immer wieder davon. Nun aber auf dem neuen Album scheint der Sex nicht mehr so wichtig zu sein. Täuscht der Eindruck?
Heutzutage sind doch alle Popsongs voll mit Sex. Ich hab das Thema in den Jahren zuvor lang und breit behandelt, in Songs, in Interviews. Da darf ich jetzt etwas kürzertreten.
Spielt Sex auch in Ihrem Leben eine kleinere Rolle?
Nein, mich langweilt nur das Reden über Sex mittlerweile. Mir wird mittlerweile zu viel über Sex gesprochen, aber da bin ich ja nicht ganz unschuldig. Ich habe eine Zeit lang das Thema immer wieder von mir aus angesprochen, weil ich das Gefühl hatte, da muss sich etwas ändern. Und das hat es ja auch, zum Glück: Wenn man im Sommer durch Berlin läuft und die tollen Mädchen sieht, die in Hotpants rumlaufen und sich schön und stark fühlen, dann freue ich mich darüber.
Sind Sie auch ein wenig neidisch, weil Sie noch in einer ganz anderen, in dieser Beziehung schwierigeren Zeit aufgewachsen sind?
Neid ist jetzt nicht gerade mein Lieblingsgefühl, aber es kann schon sein, dass ich so ein Mädchen mal beneide. Aber diese Kämpfe, die ich geführt habe, die habe ich ja gewonnen – und das ist ein sehr schönes Erfolgserlebnis, sich als Kämpferin zu erleben, das werden diese Mädchen nicht so einfach haben.
Sie haben sich die Freiheiten einfach genommen. Seit mehr als zwanzig Jahren leben Sie nun schon mit ihrem 2raumwohnung-Partner Tommi Eckart in einer offenen Beziehung. Die jungen Leute nennen das heute Polyamorie.
Endlich sagt mir mal jemand, wie das heißt, was ich schon ewig mache (lacht). Aber als das Thema Polyamorie durch die Presse ging, habe ich schon gedacht: Schön, dass das endlich ein normales, gesellschaftlich akzeptiertes Thema geworden ist. Bei uns hieß das halt noch freie Liebe, aber das Prinzip ist dasselbe: Mach, was du willst, solange du anderen nicht damit schadest.
Haben Sie das Gefühl, dass es diese sexuelle Befreiung wirklich gibt?
Ja, die sexuelle Befreiung hat stattgefunden. Zugleich gibt es aber auch diesen Porno-Kahlschlag, der die Gefühle junger Menschen verwirrt. Die sexuelle Befreiung ist heute kein gesellschaftliches Problem mehr, sondern eher ein persönliches: Ich kann mir vorstellen, dass es schwer ist für einen jungen Menschen, heute eine individuelle Sexualität aufzubauen.
Sie selbst sind jetzt 61 Jahre alt. Wie erfahren Sie das: Ist Sex im Alter noch immer ein Tabuthema?
Lange nicht mehr so, wie es das früher war. Nicht zuletzt, weil es mittlerweile ein paar Filme wie „Wolke 9“ gibt. Für mich ist es eh eigentlich kein Thema. Sex im Alter ist sogar eine besonders schöne Sache, weil es nicht mehr so um die Performance geht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei