Holocaust-Gedenkstunde im Bundestag: „Eine moralische Verpflichtung“
Der israelische Historiker Saul Friedländer erinnert mit bewegenden Worten an den Holocaust. Er mahnt, das Existenzrecht Israels zu verteidigen.
Geigentöne schweben durch den Plenarsaal im Bundestag. Ein Streichquartett spielt ein Stück des tschechischen Komponisten Erwin Schulhoff, der im August 1942 in einem Internierungslager der Nazis starb. Dann geht Saul Friedländer mit langsamen Schritten zum Redepult. Er werde auf Deutsch, der Sprache seiner Kindheit sprechen, sagt der 86-Jährige. Er habe sie viele Jahre vergessen, später zurückerworben – und bediene sich ihrer nur selten.
Der Bundestag hat am Donnerstagmorgen an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Höhepunkt der Gedenkstunde vor der regulären Plenarsitzung war Friedländers Rede. Er, der anfangs um Verständnis für seine „unsichere Vortragsweise“ bittet, ist einer der international geachtetsten Holocaust-Forscher. Seine eigene Geschichte liefert ein Beispiel für Verfolgung und Flucht vor den NS-Massenmördern. Friedländers Eltern wurden in Ausschwitz ermordet, er überlebte als Kind versteckt in einem katholischen Internat in Frankreich.
Friedländer spricht ruhig, eindringlich, und das, was er sagt, berührt tief. Der israelische Historiker zitiert aus alten Tagebüchern von Zeitzeugen und macht so das Grauen anschaulich – ein Ansatz, den auch sein wissenschaftliches Werk auszeichnet. So liest er im Bundestag vor, wie ein deutscher Unteroffizier schildert, dass er von einem Bahnpolizisten und dessen Frau das Vernichtungslager im polnischen Bełżec gezeigt bekommt.
Man habe in hohen Kiefernwäldern nur eine Hecke von Tannenbäumen gesehen, notiert der Offizier. Ein starker süßlicher Geruch sei zu bemerken gewesen. „Die stinken ja schon“, habe die Frau gesagt. „Ach Quatsch, das ist ja das Gas“, habe ihr Mann lachend geantwortet. Später, als ein scharfer Brandgeruch in der Luft lag, habe der Polizist erklärt: „Das ist vom Krematorium.“ Friedländer schaut in den weiten Saal. Ende 1942, sagt er, spätestens im Laufe des Jahres 1943 hätten Millionen Deutsche gewusst, „dass die Juden im Osten systematisch ermordet wurden“.
Antisemitismus in altem und neuem Gewand
Besonders ergreifend ist, wie Friedländer aus seiner eigenen Geschichte erzählt. Er habe sich oft gefragt, erzählt er ruhig, ob seine Eltern während der drei Tage dauernden, höllischen Fahrt nach Auschwitz zusammen gewesen seien. „Falls ja, was mochten sie einander gesagt haben? Und was mochten sie gedacht haben? Wussten sie, was sie erwartete?“ Von Tausend Juden in dem Transport mit der Nummer 40 hätten nur vier überlebt.
Kanzlerin Angela Merkel sitzt ein paar Schritte vor Friedländer. Sie lauscht mit ernstem Gesicht. Neben ihr sitzen die Vertreter der deutschen Verfassungsorgane – Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, und Bundesratspräsident Daniel Günther. Vor ihnen liegen drei Blumengebinde mit weißen Rosen auf dem Tisch, vor dem sonst Protokollanten die Reden mitschreiben. Die allermeisten Abgeordneten tragen schwarz.
Friedländer belässt es nicht nur bei Schilderungen, er hat auch politische Botschaften. Ganz vorne die eine: „Das Existenzrecht Israels zu verteidigen ist meiner Überzeugung nach eine grundsätzliche moralische Verpflichtung.“ Dieses Existenzrecht werde von extremen Rechten und extremen Linken infrage gestellt. Der Antisemitismus „in seinem traditionellen wie in seinem neuen Gewand“ nehme unübersehbar wieder zu, sagt er.
Der Fremdenhass, die Verlockung autoritärer Herrschaftspraktiken und ein sich verschärfender Nationalismus seien überall auf der Welt „in Besorgnis erregender Weise“ auf dem Vormarsch. Friedländer muss immer wieder Pausen einlegen, weil er von langem Beifall unterbrochen wird. Zu den absurden Szenen der Veranstaltung gehört, dass auch die AfD-Abgeordneten und deren Fraktionschef Alexander Gauland klatschen, für den die Nazi-Zeit nur ein „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte ist. Als merkten sie nicht, dass Friedländer vor Leuten wie ihnen warnt.
„Scham allein reicht nicht“
Dann spricht Friedländer dem Land der Täter noch ein großes Lob aus. Er habe erst gezögert, aber die Einladung, im Parlament zu reden, dann doch angenommen, sagt er – weil er wie viele Menschen „im heutigen Deutschland ein von Grund auf verändertes Deutschland“ sehe. Das Land sei „eines der starken Bollwerke“ gegen die beschriebenen Gefahren geworden. Er appelliert an die Abgeordneten: „Wir alle hoffen, dass Sie die moralische Standfestigkeit besitzen, weiterhin für Toleranz und Inklusivität, Menschlichkeit und Freiheit, kurzum, für die wahre Demokratie zu kämpfen.“ Am Ende stehen die Abgeordneten und die Gäste auf der Besuchertribüne auf, applaudieren minutenlang.
Bundestagspräsident Schäuble würdigt Friedländer vor dessen Rede ausführlich. Sein Werk gewinne seine Kraft aus der spannungsvollen Beziehung zwischen der abstrakten Darstellung der Verwaltungs- und Mordmaßnahmen und den lebendigen Erinnerungen der Zeitzeugen. Auch Schäuble spricht den erstarkenden Antisemitismus an: „Es beschämt uns, dass Juden wieder mit dem Gedanken spielen, auszuwandern, weil sie sich in unserem Land nicht sicher fühlen.“ Sie seien Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt, jüdische Kinder würden in der Schule angepöbelt und gemobbt.
Scham allein reiche nicht, sagt Schäuble. Es brauche neben der Härte der Gesetze vor allem im Alltag „unsere Gegenwehr gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung aller Art.“ Dann zitierte er einen Satz Friedländers. „Humanität, Toleranz … Das ist die einzige Lektion, uns menschlich zu verhalten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Russland droht mit „schärfsten Reaktionen“
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Diskussion um US-Raketen
Entscheidung mit kleiner Reichweite