Historikerin über Nato-Osterweiterung: „Die Ukraine im Stich gelassen“
Putin begründet den Angriff auf die Ukraine auch mit der Nato-Osterweiterung. Historikerin Mary Elise Sarotte rekonstruiert, wie das damals genau war.
wochentaz: Frau Sarotte, Sie haben sich als Historikerin intensiv mit der Geschichte der Nato-Osterweiterung und dem Zerbrechen des Warschauer Pakts beschäftigt. Gibt es etwas, das sie dabei besonders überrascht hat?
ist Professorin für Geschichte an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies in Washington, D.C. Ihr Buch „Nicht einen Schritt weiter nach Osten“ (C. H. Beck) ist gerade auf Deutsch erschienen.
Mary Elise Sarotte: Die Bedeutung der Ukraine. Als ich anfing, an meinem Buch über die Nato-Osterweiterung zu arbeiten, habe ich zunächst gedacht, dass es sich um Polen, Ungarn, Tschechien, die baltischen Staaten drehen werde. Die sind jetzt auch alle drin. Aber die Mächtigen haben damals ganz früh gesagt, sinngemäß: Der Frieden in Europa hängt von der Ukraine ab. Aus heutiger Sicht ist es verblüffend, diese Einsicht in den historischen Quellen zu lesen.
Damals ging es vor allem um die Atomraketen, die in der Ukraine stationiert waren.
Als die Ukraine 1991 unabhängig wurde, war sie auf einmal die drittgrößte Atommacht der Welt. Mehr als 1.000 nukleare Sprengköpfe lagerten dort. US-Außenminister James Baker ist im Dezember 1991 Hals über Kopf nach Kiew geflogen, um zu fragen: Wer hat, bitte schön, die Kontrolle über diese Raketen? Es hieß, die Kontrolle sei noch in Moskau – aus technischen Gründen, weil die Waffen zu Sowjetzeiten ja aus Moskau kontrolliert wurden.
Was aber nicht so bleiben musste.
Es war klar, dass die Ukraine die Ingenieure hat, das zu ändern. Baker kam zurück und sagte seinem Freund und Präsidenten George H. W. Bush: Es gibt keine wichtigere Herausforderung als die Sicherung der ehemaligen sowjetischen nuklearen Waffen, die außer in Russland hauptsächlich in der Ukraine lagerten. Er hat dann sehr viel dafür getan, das Land und auch Belarus und Kasachstan zu überzeugen, diese Waffen zu zerstören oder abzugeben. Bush hat aber 1992 überraschend die Präsidentschaftswahl gegen Bill Clinton verloren, Baker musste gehen und hat seinem Nachfolger das dringend zu lösende Problem hinterlassen. Es ging dabei um die Quadratur des Dreiecks.
Wie meinen Sie das?
Man musste eine Lösung finden, mit der die Ukrainer, die Russen und die Länder in Mittel- und Osteuropa leben konnten, die auf eine schnelle Aufnahme in die Nato drängten. Die Idee war dann: Statt viele Länder sofort in die Nato aufzunehmen, müssen wir eine Zwischenstation schaffen, zu der alle dazugehören können. Das ist gesichtswahrend für Moskau, es ist eine Zwischenlösung für die Ukraine, damit sie nicht außen vor bleibt – und es hilft den Mittel- und Osteuropäern, sich technisch an die Nato-Standards anzupassen. So entstand 1994 die „Partnerschaft für den Frieden“, der auch Russland beigetreten ist. Das schaffte Handlungsmöglichkeiten.
Inwiefern?
Die mittel- und osteuropäischen Staaten konnten an die Nato herangeführt werden und kurz vor der Mitgliedschaft stehen bleiben – wenn es mit der Demokratisierung in Russland schlecht laufen sollte, könnten sie schnell beitreten. 1994 arbeiteten die USA und Russland aber eng in der nuklearen Abrüstung zusammen. US-Verteidigungsminister William Perry warnte deshalb Präsident Bill Clinton, wenn er bei der Nato-Erweiterung zu schnell vorgehe, würde das die Abrüstung gefährden.
Worauf sich Clinton zunächst einließ. Er wollte keine neue Trennlinie durch Europa ziehen.
Ja, später hat er dann aber aus verschiedenen Gründen seine Meinung geändert und ist bei der Nato nach der Alles-oder-nichts-Methode vorgegangen. Die Ukraine wurde dabei im Stich gelassen. Ich persönlich halte die Partnerschaft für den Frieden in der damaligen Zeit für eine sehr gute Lösung. Ich wünschte mir, es wäre dabei geblieben. Es kam anders. Ich werde manchmal als Gegnerin der Nato-Osterweiterung dargestellt. Das bin ich nicht. Die mittel- und osteuropäischen Länder hatten jedes Recht, ihr Bündnis frei zu wählen, die Nato hatte das Recht, sie aufzunehmen. Ich kritisiere nur die Methode, es war zu schnell und zu konfrontativ.
Das lag aber nicht nur an Clinton.
Nein, der russische Präsident Boris Jelzin sollte eigentlich der große Demokrat sein, hat dann aber wieder mit dem Blutvergießen angefangen. Im Oktober 1993 hat er sein eigenes Parlament beschießen lassen, 1994 hat er den extrem blutigen ersten Tschetschenienkrieg begonnen. Da haben die Polen und Ungarn gesagt: Die Methode kennen wir – und drängten auch deshalb, umso vehementer auf die Nato-Mitgliedschaft.
Mit dem Budapester Memorandum hat die Ukraine 1994 dann auf ihre Atomwaffen verzichtet. Dafür wurde ihr von den USA, Großbritannien und Russland zugesichert, ihre Souveränität und ihre bestehenden Grenzen zu achten. Eine Vereinbarung, die Wladimir Putin dann 2014 mit der Annexion der Krim erstmals gebrochen hat.
Ich bin überzeugt, dass wir im Westen viel schärfer auf die Annexion der Krim hätten reagieren sollen. Das Budapester Memorandum heißt aber Memorandum, weil es kein Vertrag ist. Es ist nicht wie Artikel 5 der Nato, der alle Mitgliedstaaten zum Beistand im Falle eines Angriffs auf ein Nato-Land verpflichtet. Das Memorandum war eine Anerkennung, die die Ukraine dafür bekam, ihre Waffen abzugeben. Als es hart auf hart ging, war es dann aber nur ein Stück Papier.
Heute gibt es zur Nato-Osterweiterung zwei Erzählungen. Auf russischer Seite heißt es, 1990 sei als Preis für die deutsche Wiedervereinigung versprochen worden, die Nato nicht weiter nach Osten auszuweiten. Das sei nur nicht schriftlich fixiert worden. Auf westlicher Seite heißt es, ein solches Versprechen habe es nicht gegeben und am Ende von Verhandlungen zähle das, was im Vertrag steht.
Ob es ein Versprechen gab oder nicht, hängt stark davon ab, was man unter einem Versprechen versteht. Insofern ist das eher eine psychologische Frage. Laut den Quellen ist eindeutig klar: Das Thema Nato-Osterweiterung kam in den Verhandlungen auf. Ende 1989, Anfang 1990 hat man auf westlicher Seite überlegt: Was kann man Michail Gorbatschow anbieten, damit er der Wiedervereinigung zustimmt? Vielleicht will er, dass wir ihm versprechen, dass die Nato sich nicht ausdehnt? Dann haben US-Außenminister Baker und BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher beide mit ihm darüber gesprochen. Gorbatschow meinte: Ja, hört sich gut an, wir werden weiter darüber sprechen.
Wie ging es dann weiter?
Nach seinem Treffen mit Gorbatschow im Februar 1990 kam Baker zurück nach Washington und hat Präsident Bush von den Gesprächen berichtet. Bush sagte, er sei schwer enttäuscht. Das sei ein Fehler gewesen, er sei nicht der Ansicht, dass über die Zukunft der Nato verhandelt werden solle. Baker solle das zurücknehmen. Baker meldete sich daraufhin schriftlich beim Auswärtigen Amt, er schrieb Folgendes – ich paraphrasiere, die genauen Zitate und Quellennachweise stehen in meinem Buch –: Tut mir leid, ich habe für Verwirrung gesorgt; ich habe eine klare Linie vom Chef, wir verhandeln nicht über das zukünftige Ausmaß der Nato-Jurisdiktion. Genscher hat diesen Brief aber mehr oder weniger ignoriert.
Und Helmut Kohl?
Als Kohl Bush in Washington traf, sagte er zu ihm, wenn man Gorbatschow keine Zugeständnisse bei der Nato mache, müsse man ihm etwas anderes anbieten. Dann werde es eine Frage des Geldes. Bush antwortete: Na und, Sie haben tiefe Taschen. Kohl akzeptierte das. Genscher sprach unterdessen aber immer weiter über die Nato. Kohl hat sich dann mehrmals bei Genscher gemeldet und ihn sinngemäß aufgefordert: Hören Sie damit auf. Es ging sogar so weit, dass er ihm einen offiziellen Brief schickte. Kohl schrieb: „[…] möchte ich Dir in aller Form mitteilen“, dass er Genschers Position nicht teile und nicht unterstütze. „Darüber hinaus bin ich nicht bereit zu akzeptieren, daß die Bundesregierung in diesen Fragen ohne jede Rücksprache festgelegt wird.“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Wie wurde das dann gelöst?
Als es im September 1990 darum ging, den Zwei-plus-Vier-Vertrag zu unterzeichnen und schon Politiker für die Zeremonie nach Moskau reisten, gab es richtig Streit zwischen den westlichen Alliierten und Genscher. Am Ende einigte man sich auf eine Protokollnotiz. Sie legte fest, dass ausländische Nato-Truppen die frühere deutsche Grenzlinie überschreiten durften, sofern dies nicht eine Verlegung genannt würde. Was als solche definiert werde, sollte die Regierung des vereinten Deutschlands entscheiden. Das gilt heute noch.
Was die russische Seite ein Versprechen nennt, war also nur ein Gedankenspiel, das durch Uneinigkeit auf westlicher Seite in den Verhandlungen aber ein langes Leben hatte?
So kann man das sagen. Ich bin der Meinung, was am Ende im Vertrag steht, ist wichtig. Wir reden hier nicht von unerfahrenen Menschen oder Kindern. Wir reden von internationalen Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen, es ging um sehr viel, um die Einheit Deutschlands, des ehemaligen Nazideutschlands. Die sowjetischen Diplomaten haben das damals nicht vergessen aufzuschreiben. Moskau hat den Vertrag unterschrieben, ratifiziert und die Überweisungen dafür erhalten. Sie bekamen ja 15 Milliarden D-Mark. Auf Englisch würden wir sagen: They cashed the cheque. Das vergisst Putin immer.
Putins Umgang mit der Nato-Osterweiterung hat sich im Laufe der Jahre stark verändert. 2004, bei der zweiten Runde der Erweiterung, als mit den baltischen Staaten auch frühere Sowjetrepubliken dem Bündnis beitraten, hat er noch gesagt, es gebe keine Probleme in den Beziehungen zwischen der Nato und Russland.
Putin hat sich radikalisiert. Je mehr Gewalt er angewendet hat, um so nützlicher war dieses Thema für ihn als Rechtfertigung für Gewalt. Er begann mit dem Tschetschenienkrieg und den Morden an Journalisten wie Anna Politkowskaja. Dann gab es seine Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, worin er sich beklagte, dass die Nato mit ihrer Osterweiterung angeblich gegebene Garantien nicht eingehalten habe. Genauso beschwerte er sich über den angeblichen Verrat in seiner Rede zur Annexion der Krim 2014 und in seinen Äußerungen Ende 2021 vor dem großflächigen Überfall auf die Ukraine.
Jetzt stellt sich Europa darauf ein, dass der Konflikt mit Russland auch lange nach einem möglichen Kriegsende in der Ukraine weitergehen wird.
In meinem Buch geht es um die Wechselwirkungen deutscher, russischer, amerikanischer Politik und jener der mittel- und osteuropäischen Staaten. Und da sieht man, dass es am Ende eine Tragödie war, dass das Fenster der Möglichkeiten nicht besser genutzt wurde. Kalte Kriege sind nicht kurzlebig, sie halten lange an. Und wenn es Tauwetter gibt, muss man das schätzen. Das haben wir damals nicht genug getan. Jetzt sind wir wieder da, wo wir sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren