Hamburger Abschiebebeobachter hört auf: „Da wurde es mir zu viel“

Nahezu täglich gibt es Abschiebungen über den Hamburger Flughafen. Moritz Reinbach hat die Abzuschiebenden in den Stunden vor dem Abflug begleitet.

Moritz Reinbach in einer blauen Weste der Diakonie

Will künftig unabhängige Abschiebebeobachtung an der EU-Außengrenze erforschen: Moritz Reinbach Foto: Miguel Ferraz

taz: Herr Reinbach wie haben Sie die Abschiebungen zur Beobachtung ausgewählt?

Moritz Reinbach: Ich habe immer eine Liste der Abschiebungen des folgenden Tages bekommen. Daraus habe ich ausgewählt, welche ich beobachte. Zu einer Abschiebung nach Rumänien bin ich eher gefahren als zu einer Überstellung in die Niederlande. Auch die Überstellung einer Familie mit Kleinkindern habe ich priorisiert. Und in der Liste der Bundespolizei gab es die Spalte „Sonstiges“ – die ist die interessanteste, weil darin polizeiliche Hinweise über die Abzuschiebenden stehen. „Mit Widerstand ist zu rechnen“, steht dann da etwa oder ob jemand suizidal ist.

Wie häufig sind Sie zum Flughafen gefahren?

Im Schnitt etwa drei Mal die Woche.

Was wussten Sie über die Menschen, die abgeschoben werden?

Von ein paar Eckdaten abgesehen, lernte ich die Menschen erst dort kennen. Etwa zwei Stunden vor dem Flug werden sie von den Ausländerbehörden der Bundespolizei am Flughafen zugeführt. Als die Personen dann warteten, zum Flugzeug gebracht zu werden, war das der Moment, in dem ich in Kontakt trat, mich vorstellte und versuchte, Vertrauen aufzubauen.

Setzten die Menschen dann Hoffnungen in Sie?

Man muss am Anfang klarmachen, wo die Grenzen liegen – dass ich also nicht die Kompetenz habe, diese Maßnahme zu unterbinden, sondern ich die Person dort unterstütze, wo es geht.

Wie haben die Menschen reagiert?

Da erlebte ich Menschen, die nicht mehr reden wollten, als Sie erfuhren, dass ich die Abschiebung nicht verhindern kann, bis hin zu Menschen, die in Tränen ausbrachen und die ich dann erst mal umarmte.

Seit 2018 gibt es das Abschiebe-Monitoring am Hamburger Airport in Trägerschaft der Diakonie. Nachdem es bereits von 2011 bis 2015 einen unabhängigen Abschiebebeobachter gegeben hatte, einigten sich SPD und Grüne 2015 darauf, die Stelle wieder zu finanzieren.

Auch an weiteren Flughäfen, etwa in Berlin, gibt es Abschiebebeobachtungen. In seinem Jahresberichten stellt der Beobachter Abschiebungen vor, die problematisch verliefen. Bis 2025 ist das Projekt von Rot-Grün finanziell gesichert.

Also waren Sie kein reiner Beobachter.

Das stimmt insofern, als dass ich während einer Beobachtung Gespräche führe. Aber erst in den Gesprächen erfahre ich ja etwas über die Menschen und ihre Abschiebungen. Wenn ich im Gespräch den Verdacht bekomme, dass gewisse rechtliche Voraussetzungen für die Abschiebung nicht gegeben sind, frage ich nach. Vielleicht teilt die Bundespolizei die Einschätzung, dass die Abschiebung so nicht stattfinden darf. Oder ein Betroffener berichtet mir, dass es bei der nächtlichen Abholung zum Flughafen aus seiner Perspektive zu fragwürdigen Situationen kam. Ich kann das zwar nicht verifizieren, aber die Zuführkräfte danach befragen und am Ende auch die Schilderung der Betroffenen in meinen Bericht mitaufnehmen, um ihrer Stimme Gehör zu verleihen.

Was bringt so ein Bericht?

Die Rolle des Abschiebebeobachters wurde geschaffen, um humanitäre Mindeststandards zu wahren. Meine Berichte dienen dazu, mit den Behörden diskussionswürdige Fälle zu besprechen und zu überlegen, wie man in solchen Situationen anders reagieren kann. Aber das bedeutet eben auch: Wenn wir über solche Fälle reden, sind die Menschen bereits abgeschoben. Es gibt Stimmen, die die Rolle des Abschiebebeobachters als zahnlosen Tiger ansehen oder sagen, dass man sich gemein machen würde mit dem bestehenden Abschiebesystem. Ich glaube, dass es darüber kritische Debatten braucht, allerdings komme ich zu dem Schluss: Wenn aus dieser Kritik folgt, dass es keine unabhängige Beobachtung mehr geben soll, wäre das kein Fortschritt.

Haben Sie den Impuls verspürt, in kritischen Situationen einzugreifen?

Am Anfang sicherlich mehr. Die Routine führt dazu, dass dieser Impuls nicht mehr so häufig da ist. Dennoch beschäftigen mich viele Fälle noch eine längere Zeit, weil ich mich mit den Betroffenen über ihre Lebensgeschichte unterhalte und ich die Fluchtgründe aus ihrem Heimatland erfahre. Da kommen dann, wie ich finde, ganz natürlich Reflexe: Man wünscht sich, mehr ausrichten zu können. Aber da muss ich auch professionell meine Rolle einnehmen. Den Abschiebebeobachter gibt es nur unter der Voraussetzung, dass er keine Maßnahme gefährden darf: Wenn ich das täte, gäbe es das ganze Projekt nicht mehr.

Wie haben Sie reagiert, wenn Sie den Eindruck hatten, dass die Bundespolizei humanitäre Mindeststandards nicht wahrt?

Natürlich darf ich nicht dazwischengehen, wenn die Polizei Gewalt anwendet. Ich besitze auch nicht die Expertise, situativ die Rechtswidrigkeit einer Zwangsmaßnahme festzustellen. Die Polizei hat das Recht, auch unmittelbaren Zwang anzuwenden. Aber ich kann in solchen Momenten nachfragen, warum das so ist, ob das sein muss und ob es nicht eine Alternative gibt.

Und bringen solche Nachfragen etwas?

Es gab mal eine Situation, in der eine Person auf dem Weg zum Flugzeug mitteilte, dass sie zuvor Benzin getrunken hatte. Die Person begann sich dann zu übergeben, es roch nach Benzin und nach der medizinischen Behandlung sagte der Sanitäter, dass er so einen Fall zwar auch noch nicht hatte, aber er die Person nun für flugreisetauglich hält. Da ging ich dann zum Polizisten, teilte ihm meine Zweifel daran mit. Dann stimmte mir der Polizist zu und die Abschiebung wurde abgebrochen.

War das als Erfolg Ihrer Tätigkeit zu werten?

Was die individuelle Ebene angeht: Wenn ich brenzlige Situationen beobachte, ist das schon ein Erfolg, weil solche Abschiebungen ja Vorgänge sind, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschehen. Die Arbeit des Abschiebebeobachters dient andererseits dazu, im Flughafenforum, dem Begleitgremium des Projekts, gewisse Praktiken genereller zu betrachten. Kürzlich hatten wir einen Sachverständigen geladen, der ein Referat zur Zwangsmedikation bei Abschiebungen hielt, weil das auch vorkommen kann. Die Be­hör­den­ver­tre­te­r*in­nen hatten mir bislang immer gesagt, dass sie sich kein Urteil über den Einsatz von Zwangsmedikation anmaßen, weil sie selbst ja keine Mediziner sind. Mir schien jedoch, dass die Me­di­zi­ne­r*in­nen damit fast schon einen Freifahrtschein haben. Der Sachverständige hat dann die brisante Rolle von Ärz­t*in­nen bei Abschiebungen geschildert und ich hatte den Eindruck, dass sich die Be­hör­den­mit­ar­bei­te­r*in­nen während des Vortrags fleißig Notizen machten. Wenn es gelingt, dass es bald eine Handreichung an die eingesetzten Ärz­t*in­nen gibt, werde ich das als Erfolg werten.

Als Sie im Frühjahr ihren Jahresbericht vorstellten, sagten Sie, dass Ihre Aufgabe „emotional schwer auszuhalten“ ist. Haben Sie es auch mal nicht ausgehalten?

In der Anfangszeit gab es Momente, in denen ich mit Tränen in den Augen aus der Beobachtung kam. Da half es, hinterher mit Kol­le­g*in­nen zu sprechen, die ein offenes Ohr für mich hatten. Strukturell verankert ist ohnehin eine regelmäßige Supervision.

Gab es Situationen, denen Sie nicht ausgesetzt werden mochten?

Ein Fall bleibt mir in Erinnerung: Eine Person sollte nach Mali abgeschoben werden. Der erste Versuch war gescheitert, weil die Person sich im Flugzeug gewehrt hatte. Ich gab ihr meinen Kontakt, sie meldete sich später auch ein paar mal bei mir und natürlich entwickelt sich im Lauf der Gespräche eine gewisse Nähe. Irgendwann wusste ich, wann die Person abgeschoben werden soll. Ich wusste, dass die Person nicht auf einem normalen Linienflug oder in einer Sammelabschiebung nach Mali gebracht werden soll, sondern mit einem gecharterten Kleinflugzeug nur für sie und eine weitere Person. Der Abschiebetag war zudem mein Geburtstag und ich durfte das alles der Person nicht sagen. Das war dann ein Moment, in dem es mir zu viel wurde.

Gibt es Ansichten zu Abschiebungen, die Sie jetzt anders sehen?

Wahrscheinlich habe ich vor dieser Tätigkeit mehr in Utopien und weniger in der Realpolitik gelebt. Auch in der Realpolitik wünsche ich mir, dass es keine Abschiebungen braucht, aber wenn wir uns die aktuelle Stimmung anschauen, sind wir ja weit davon entfernt. Was manche Einzelfälle betrifft: Wenn ich von einer Person im direkten Gespräch erfahren habe, dass sie Schwerstkriminalität begangen hat, denke ich mir: Sie hat alles dafür getan, kein Bleiberecht zu bekommen. Das ist dann der realpolitische Blick auf Verfahren, den ich mir angeeignet habe – auch wenn ich weiterhin denke, in vielen Fällen gäbe es bessere Alternativen als eine Abschiebung.

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