Hajo Funke über Proteste an den Unis: „Autoritäre Tendenz wird stärker“
Die propalästinensischen Proteste an Universitäten dürfen nicht pauschal als antisemitisch bezeichnet werden, sagt Politikwissenschaftler Hajo Funke.
taz: Herr Funke, die Proteste gegen den Krieg in Gaza beschäftigen seit Monaten die Berliner Universitäten. Stimmt der Vorwurf, die Proteste seien antisemitisch?
Hajo Funke: Einige äußern sich antisemitisch. Das Protestcamp des „Palästina-Komitees“ an der Freien Universität (FU) im Juli – das sogenannte Heba-Camp – war allerdings trotz unbelegter Vorwürfe definitiv nicht antisemitisch. Ich habe es mehrfach besucht und auch Vorträge dort gehalten. Ich kann also keine pauschale Antwort auf diese Frage geben.
Hajo Funke
ist emeritierter Professor für Politik und Kultur am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Er war 1968 studentischer Fachschaftssprecher am OSI.
taz: Sie sagen, es gab durchaus antisemitische Äußerungen?
Funke: Zum Beispiel das rote Dreieck, das an der Humboldt-Universität (HU) gesprüht wurde, ist meines Erachtens im Kontext des Gazakriegs antisemitisch, weil es sich auf die Hamas bezieht. Auch wer Zionismus delegitimiert und Juden das Recht auf Selbstbestimmung verwehrt, handelt antisemitisch. Ich folge der klugen, ausführlich begründeten „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“. Ohne Differenzierung sollte man nicht einfach davon reden, vor allem Verantwortliche nicht, was antisemitisch sei oder nicht.
taz: Während der Proteste an der FU sprachen Sie von einer „Hetzkampagne gegen die Studierenden“.
Funke: Ja, im Mai wurde der Theaterhof an der FU besetzt, kurz darauf erklärte eine Polizeisprecherin, dass angeblich antisemitische Parolen gerufen wurden, ohne das zu belegen. Zeitnah folgten ähnliche Äußerungen des Regierenden Bürgermeisters Kai Wegner. Das geht gar nicht. Man muss solche Behauptungen begründen.
taz: Was war die Konsequenz?
Funke: Auf Anordnung des FU-Präsidiums wurde die Besetzung geräumt. Es ist belegt, dass die Polizei dabei sehr brutal vorgegangen ist. Nach wie vor laufen Ermittlungen gegen Studierende. Ich habe mich zusammen mit über tausend Kolleg:innen in einer öffentlichen Stellungnahme an die Seite der Studierenden gestellt. Darin fordern wir, das Recht auf Versammlungs-, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit zu verteidigen. Danach kam es zur Hetze der Bild-Zeitung, die uns des „Juden-Hasses“ bezichtigte. FU und HU haben Beschwerde beim Deutschen Presserat eingereicht. Übrigens hat auch die Bundeswissenschaftsministerin Bettina Stark-Watzinger sich in diesem Bild-Artikel entsprechend geäußert.
taz: Wie kam es zu der, wie Sie sagen, Kampagne und warum beteiligte sich die Wissenschaftsministerin?
Funke: Wie gesagt: Es gab Situationen, in denen antisemitisch agiert wurde, aber es gibt auch ein breites Spektrum von Äußerungen, die man diskutieren muss. Aber wenn keine Diskussion stattfindet und stattdessen die Berliner Studierenden, meine Kolleg:innen und ich pauschal des Antisemitismus bezichtigt werden, zeigt das einen Verfall der Diskussionskultur – eine autoritäre, gefährliche Entwicklung.
Die Anfänge Bereits wenige Wochen nach dem Angriff der Terrormiliz Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 sowie dem Beginn des Kriegs im Gazastreifen protestierten Studierende an der Freien Universität Berlin (FU) gegen das Vorgehen des israelischen Militärs. Es folgten über den Winter verteilt mehrere Aktionen an den Berliner Hochschulen.
Gewalttat Mit dem Angriff eines FU-Studierenden auf einen jüdischen Kommilitonen im Februar rückte die propalästinensische Uni-Protestszene in den Fokus. Schwarz-Rot änderte in der Folge das Hochschulgesetz, sodass Studierende leichter zwangsexmatrikuliert werden können.
Camps, Besetzungen, Polizei Die Aktionen an US-Unis als Vorbild versuchten Studierende im Mai, ein Protestcamp an der FU zu errichten. Die Uni-Leitung ließ sofort räumen. Die Humboldt-Universität verfolgte wenig später einen anderen Ansatz und duldete die Besetzung eines Institutsgebäudes – bis sich der Senat einschaltete und eine Räumung veranlasste. Doch es geht auch anders: Die Präsidentin der Technischen Universität suchte den Dialog mit Studierenden – und ein neuerliches FU-Protestcamp im Juli blieb bis zum geplanten Ende stehen. (hno)
taz: Was sagen Sie zu den Forderungen der Studierenden?
Funke: Die muss man sich einzeln anschauen. Ich befürworte zwar einen Stopp der Waffenlieferungen aus Deutschland mit dem Ziel eines Waffenstillstands, jedoch teile ich nicht die pauschale Forderung nach einem Boykott aller israelischen Universitäten. Ich bin zum Beispiel für ein Ende der Kooperation mit der Ariel-Universität. Die wurde von radikalen Siedlern in der Westbank errichtet.
taz: Eine weitere Forderung richtete sich gegen die Wiedereinführung des Ordnungsrechts im Berliner Hochschulgesetz. Die Studierenden fürchten eine willkürliche Anwendung gegen politisch missliebige Aktivist:innen. Was halten Sie davon?
Funke: Die Einschätzung teile ich. Wie ich vorher sagte: Die autoritären Tendenzen werden stärker. Und die Willkür haben wir ja an der vom Präsidium angeordneten polizeilichen Räumung gesehen. Mittlerweile findet ein Dialog mit Teilen des Präsidiums statt, hoffentlich bald auch mit einer größeren Öffentlichkeit. Man muss sich dieser schwierigen Situation kommunikativ stellen.
taz: Was sind die Ergebnisse des bisherigen Dialogs mit dem Uni-Präsidium?
Funke: Zunächst einmal, dass es überhaupt einen Dialog gibt. Auch muss eine Rücknahme der Anzeigen geprüft werden. Das sind erste Schritte, der Prozess kommt langsam voran. Wir haben eine Mehrfachproblematik, die immer wieder Kurskorrekturen und neue Einsichten erfordert: Der Angriff der Hamas, der furchtbare Krieg, den die israelische Regierung trotz weltweiter Kritik auch nach mehr als 130.000 Toten und Verletzten verlängert und ausweitet, aber auch die Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland und eine Öffentlichkeit, die nicht angemessen darauf eingeht.
taz: Ich höre heraus, dass Ihnen in der Diskussion die Differenzierung fehlt.
Funke: Ja, wir brauchen in aufgeheizten, polarisierten Situationen ein besonderes Maß an Differenzierung, Genauigkeit und Mut, besonders wenn es um Kriege geht. Das ist eine große Herausforderung und ich messe Politiker:innen und Universitätspräsidenten auch daran, ob sie diesen Ansprüchen gerecht werden. Man braucht in Krisensituation nicht nur anständige, sondern auch couragierte Persönlichkeiten. Die Präsidentin der Technischen Universität Berlin, Geraldine Rauch, die glaubhaft Fehler eingeräumt hat und keineswegs Antisemitin ist, war ein Vorbild in Sachen Courage.
taz: Und ist FU-Präsident Günther Ziegler diesen Ansprüchen gerecht geworden?
Funke: Ich erwarte, dass Präsident, Präsidium und akademischer Senat sich intensiv mit den Interessen der Studierenden, und natürlich auch der Protestierenden auseinandersetzt, die Anzeigen zurücknimmt und sich der Diskussion stellt. Dies ist bisher kaum geschehen. Das ist sehr enttäuschend. Das sage ich im Wissen darum, dass das Präsidium unter massivem politischen und öffentlichen Druck steht; und angesichts der angedeuteten Erpressungsversuche des Bundeswissenschaftsministeriums ist der Druck nochmal gewachsen.
taz: Sie meinen die Streichung von Forschungsgeldern?
Funke: Stark-Watzinger droht jedenfalls damit. Sie betreibt mehr oder weniger subtile Angstmache nach dem Motto: „Passt auf, was das für Euch bedeuten kann.“ Auch ihre skandalösen Aussagen in der Bild-Zeitung zeigen Wirkung. Ein indirekter, erpresserischer Druck ist da, ja. Ich denke, dass sie zurücktreten wird.
taz: Wie hätte das Präsidium im Umgang mit den Protesten besser handeln können?
Funke: Sich an die Seite der Studierenden stellen und die Situation für den Dialog nutzen! Als klar war, dass der Krieg sich ausweitet, hätte man entschieden mehr Diskussionsforen an den Berliner Unis organisieren und die Perspektiven von Friedensforschern, von Vertretern jüdischer Gemeinden und anderen Gruppen und Fachleuten einbeziehen müssen. Ich habe das früh gefordert, es ist kaum geschehen. Dabei waren offene, offensive Debatten an der FU früher möglich. Durch die komplexe Lage ist der Dialog bisher nur unzureichend gelungen. Das liegt an dem internen und berlinweiten Druck. Daraus resultiert auch die Angst, etwas falsch zu machen. Trotzdem fordere ich das Präsidium auf, mehr zu tun.
taz: Hat sich die Stimmung an Berliner Bildungseinrichtungen durch den Gaza-Krieg nachhaltig verändert?
Funke: Hat sie und sie wird sich auch weiter verändern. Wie genau hängt jetzt davon ab, ob sich der Dialog differenziert gestaltet. Es kann eine ungeheure Chance sein, aus den Ecken dieses Kulturkampfs herauszutreten.
taz: Das Thema Nahostkonflikt ist ja gewissermaßen die Gretchenfrage der Linken. „Wie hältst Du es mit Israel, wie hältst Du es mit Palästina?“
Funke: Ich halte es mit dem völkerrechtsbegründeten Recht, dass alle nebeneinander friedlich leben können. Im Moment haben wir eine sich vertiefende Spaltung. Wenn man sich in Kulturkämpfen verliert, wird jedes vernünftige Dazwischen immer schwieriger. Damit verbunden ist die Erkenntnis, dass Empathie und Solidarität nicht wie im Fußballverein mit den einen gegen die anderen erfolgen kann. Wir müssen aus dieser Eskalationsfalle herauskommen.
taz: Als Extremismusexperte sind Sie in Anbetracht des Umgangs mit den Protesten bestimmt frustriert – oder? Wie werden Sie damit fertig?
Funke (lacht): Das ist eine falsche Unterstellung. Ich habe Niederlagen und Erfolge erlebt und bin eher versöhnlich aufgestellt. Ich finde Sinn in den Bemühungen und Kämpfen um mehr Dialog, Demokratie und weniger Konflikte nach der Freund-Feind-Masche. Es ist eine Art funktionaler Optimismus, der mich prägt. Und wenn das die Grundlage ist, dann hält man auch Niederlagen gut aus. Ein Dialog ergibt auch dann Sinn, wenn er nicht überall geteilt wird und er zunächst nicht erfolgreich erscheint; für mich ist es schon ein Erfolg, wenn es weniger destruktiv und weniger gewalttätig zugeht. Ich möchte Camus’ Sisyphos gerne ergänzen: Den Stein rollt man nicht alleine hoch.
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