Grünen-Spitzenkandidatin Terry Reintke: „Nicht um jeden Preis“
Nach der Wahl am 9. Juni wollen die Grünen in eine Koalition mit Ursula von der Leyen. Welche Kompromisse macht Spitzenkandidatin Terry Reintke dafür?
taz: Frau Reintke, einer Umfrage zufolge sind Sie von allen deutschen Spitzenkandidat*innen für die Europawahl die unbekannteste. Wie wollen Sie das noch ändern?
Terry Reintke: Ich glaube, dass wir in den nächsten Wochen einiges rausreißen können. Aber natürlich zeigt die Umfrage eine allgemeine Herausforderung: Gemessen an dem Einfluss, den sie auf den Alltag der Menschen nimmt, müsste die Europapolitik auch außerhalb des Wahlkampfs eine größere Rolle spielen.
Den seit Jahresbeginn größten Artikel über Sie hat der Stern veröffentlicht. Es ging um Belästigungsvorwürfe gegen den Grünen-Abgeordneten Malte Gallée. Aus der Europa-Fraktion wurde Ihnen Untätigkeit vorgeworfen. Was haben Sie falsch gemacht?
Dass es zu Fehlverhalten gekommen sein kann, macht mich natürlich sehr betroffen. Wir haben als einzige Fraktion im Europäischen Parlament ein Ombudssystem. In den letzten Monaten haben wir zusätzliche Maßnahmen beschlossen, damit Betroffene einfacher Beschwerden einreichen können. Es ist mir wichtig, dass unsere Fraktion ein sicherer Arbeitsplatz ist.
37, stammt aus dem Ruhrgebiet und ist seit 2022 Fraktionsvorsitzende der Grünen im EU-Parlament. Für die Wahl am 9. Juni ist sie deutsche und europäische Spitzenkandidatin.
Sie treten explizit als Feministin auf und haben sich für #Metoo starkgemacht. Hätte da von Ihnen als Fraktionschefin nicht mehr kommen müssen?
Wo Macht ist, gibt es immer auch Machtmissbrauch. Dagegen braucht es gute Systeme. Dafür setze ich mich auch weiterhin ein.
Sprechen wir über die EU-Kommission: Hat Präsidentin Ursula von der Leyen seit 2019 einen guten Job gemacht?
Sie hat zu Beginn die Dynamik der Klimabewegung aufgenommen und mit dem Green Deal, der Europa bis 2050 klimaneutral machen soll, richtige Impulse gesetzt. Seit zwei Jahren gibt es aus ihren eigenen Reihen aber immer wieder Versuche, das Paket auszubremsen und sogar rückabzuwickeln. Wir sagen: Der Green Deal muss weitergeführt werden. Und wir brauchen in Europa auch nach den Wahlen ein starkes Bekenntnis zu Demokratie, Klimaschutz und klimaneutralem Wohlstand. Wer das möchte, muss die Grünen wählen.
2019 stimmten die Grünen im Parlament gegen von der Leyen, obwohl sie auf Klimakurs war. Jetzt streben Sie eine Zusammenarbeit an, obwohl Sie ihr beim Klima nicht mehr trauen. Wie passt das zusammen?
Konservative, Sozialdemokraten und Liberale bekommen wohl keine komfortable Mehrheit mehr. Sie brauchen einen weiteren Partner. Das sind entweder die rechtsautoritäre EKR oder die Grünen. Ich muss Ihnen nicht sagen, von welcher Option ich glaube, dass sie für die Menschen besser wäre.
Union und EVP stehen für eine strikte Asylpolitik. Würden Sie weitere Verschärfungen in Kauf nehmen, um mit ihnen ins Geschäft zu kommen?
Die EU hat einen riesigen Mangel an Fachkräften und braucht Einwanderung. Dafür werden wir in Verhandlungen werben. Mit dem großen Asyl- und Migrationspaket, das die EU gerade beschlossen hat, ist die Messe zumindest nicht gelesen. Ich glaube nicht, dass nach der Umsetzung das Leid an den Außengrenzen beendet ist oder Ungarn plötzlich Geflüchtete aufnimmt. Beides kann so nicht bleiben.
Das war keine Antwort auf die Frage. Würden Sie weiteren Verschärfungen zustimmen?
Ich bin bislang gut damit gefahren, Verhandlungen am Verhandlungstisch statt in Interviews zuführen. Dabei möchte ich bleiben.
Welche Asylpolitik kriegt man, wenn man am 9. Juni die Grünen wählt? Die der Bundesebene, die die europäische Asylrechtsverschärfung mitgetragen hat, oder die Ihrer Fraktion, die im Parlament gegen die meisten Bestandteile gestimmt hat?
Eine Politik, die will, dass das Sterben an den Außengrenzen endet. Dass Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, eine faire Chance auf Asyl bekommen. Dass gleichzeitig geordnete Verfahren hergestellt werden. Wir müssen die Situation in unseren Kommunen verbessern, die teils wirklich an oder sogar über der Belastungsgrenze sind. Darin sind wir uns in der Partei einig. Wir hatten in der konkreten Situation nur unterschiedliche Fragestellungen: Eine Außenministerin hat bei der Schlussabstimmung im Rat nur die Wahl zwischen hopp oder top, für oder gegen das Gesamtpaket. Im Parlament konnten wir über die einzelnen Rechtsakte urteilen und haben das auch differenziert gemacht.
Es gab inhaltliche Differenzen – oder hätten Sie gehandelt wie Frau Baerbock, wenn Sie Ministerin statt Abgeordnete wären?
Das ist doch eine hypothetische Frage. Die Konfliktlinie verläuft nicht zwischen Grünen und Grünen, sondern zwischen denen, die sich für Menschenrechte einsetzen und Rechtspopulisten wie Meloni oder Orbán, die eine Festung Europa bauen wollen. Die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten sind enorm, ich erlebe diese Debatten ja ständig. Das macht es auch so schwierig. Deswegen sollten wir progressiven Kräfte uns nicht auseinanderdividieren lassen. Wir wollen eine Asylpolitik, die auf Humanität und Ordnung aufbaut, die Menschenrechte schützt – und geordnete Verfahren ermöglicht. Das treiben wir in unseren unterschiedlichen Rollen voran.
Auf Ihren Plakaten steht „Menschenrechte und Ordnung“, Sie sprechen von „Humanität und Ordnung“ – den Slogan benutzt auch die CDU. Warum klingen die Grünen wie Horst Seehofer vor fünf Jahren?
Ich glaube nicht, dass Horst Seehofer da zustimmen würde. Ich tue es auch nicht. Humanität und Menschenrechte waren schon immer Kern unserer Politik. Wer will, dass Geflüchtete verlässlich erstversorgt werden und schnell Klarheit erhalten, kann nicht gegen funktionierende Verfahren sein. Ordnung heißt eben auch, dass Menschen nicht ewig unter dramatischen Bedingungen an den Außengrenzen ausharren müssen. CDU und CSU stehen da ganz woanders.
Ihr Plakat „Menschenrechte und Ordnung“ ist bislang kaum zu sehen. Offenbar mögen die Kreisverbände es nicht.
Ich bin ja jetzt viel im Land unterwegs und habe es schon an den unterschiedlichsten Orten gesehen – sowohl in Berlin-Mitte als auch im Ruhrgebiet.
Bei der letzten Europawahl im Jahr 2019 holten die deutschen Grünen mit 20,5 Prozent der Stimmen ein Rekordergebnis. Aktuell liegen sie in Umfragen bei rund 15 Prozent. Laut einer europaweiten Erhebung des Instituts Ipsos aus dem März könnte die Grünen-Fraktion insgesamt 17 Sitze verlieren. Mandatsverluste drohen auch den Liberalen, während die Parteienfamilien der Konservativen und Sozialdemokraten stabil bleiben. Zuwächse sind bei den Rechtsfraktionen EKR und ID (mit der deutschen AfD) zu erwarten.
Auf den Großplakaten mit Ihnen, Habeck und Baerbock geht es um Sicherheit, Wohlstand, Freiheit. Gewinnt man mit Klimapolitik nicht mehr?
Die größte Gefahr für unsere Sicherheit ist eine außer Kontrolle geratene Klimakrise. Der Schlüssel zu Wohlstand ist Klimaschutz. Freiheit gibt es ohnehin nur, wenn es uns gelingt, einen lebenswerten Planeten zu erhalten. Klimaschutz ist zentral, damit wir hierzulande weiter gut leben können. Und es ist klar, dass wir in einer Zeit von globalen Konflikten, Inflation oder Angriffen auf die Demokratie auch auf diese Themen Antworten geben wollen. Aber ja, im Wahlkampf 2019 – vor Corona, vor dem russischen Angriff auf die Ukraine – war die Debatte einfacher zu führen.
Wenn von der Leyens Wiederwahl scheitert, könnten Sie EU-Kommissarin werden. Laut Ampel-Koalitionsvertrag hätten die Grünen das Vorschlagsrecht. Würden Sie am liebsten Klima-Kommissarin werden?
Jetzt werbe ich erst mal für ein starkes grünes Ergebnis. Wir gehen mit dem Anspruch in diese Wahl, dass wir exekutive Macht wollen. Alles andere sehen wir danach.
Terry Reintke, MdEP Grüne
Die EU strebt bisher Klimaneutralität bis 2050 an. Im Wahlprogramm der Europa-Grünen steht als Ziel 2040. Die deutschen Grünen wollten das abschwächen, scheiterten aber. Für welches Ziel treten Sie an?
Es soll so schnell wie möglich gehen, wenn möglich auch schneller als geplant.
Noch mal: Stehen Sie als europäische Spitzenkandidatin zur Forderung des europäischen Wahlprogramms – Klimaneutralität 2040?
Die Aufgabe ist doch folgende: So schnell wie möglich klimaneutral werden und gleichzeitig unseren Wohlstand ausbauen und erneuern. Europa braucht beides und es geht nur gemeinsam. Wir brauchen in der EU also den Green Deal und ein massives Investitionsprogramm – auch, damit uns die USA und China nicht technologisch abhängen. Das Stahlwerk in Duisburg zum Beispiel hat vier Hochöfen. Die Umrüstung auf grünen Wasserstoff kostet je zwei Milliarden Euro. Das können Unternehmen nicht ohne Unterstützung stemmen, aber die wird sich langfristig auszahlen.
Wenn Sie aber in eine Koalition wollen, müssen Sie Zugeständnisse machen – und möglicherweise Rückschritte in der Klimapolitik mittragen, statt wie bisher zumindest als kritische Stimme zum Diskurs beizutragen. Wäre es das wert?
Man kann Verhandlungen auch abbrechen. Wenn die Konservativen den Green Deal ernsthaft entkernen wollen, wird sich die Frage für uns stellen. Er ist nicht nur für den Klimaschutz entscheidend, sondern auch für unsere Wettbewerbsfähigkeit. Ich bin zuversichtlich, dass die Union das auch noch merkt, wenn der Wahlkampfmodus um ist – zumal auch sie sich hinter das Pariser Klimaabkommen gestellt haben. Ich bin also fest davon überzeugt, dass wir uns durchsetzen können. Auch Stimmen aus der Wirtschaft sagen: Ihr müsst mehr investieren.
Aber auf Ihnen lastet auch der Druck, das Feld nicht den Rechten zu überlassen – also die EKR aus der Koalitionsmehrheit rauszuhalten.
Das erhöht den Druck auf alle Demokraten, sich zu einigen. Natürlich wird da einiges auch auf uns zukommen. Aber reden Sie mal mit Leuten, mit denen ich Koalitionsverträge verhandelt habe: Ich bin schon sehr klar, in welche Richtung es gehen muss, damit wir Teil der Mehrheit werden.
Nach zweieinhalb Jahren Ampel stellen sich viele Wähler*innen der Grünen diese Frage: Macht Ihre Partei zu viele Kompromisse?
Und dann gibt es Menschen, die den Eindruck haben, die Grünen setzen sich immer durch. Ich möchte daran gemessen werden, was wir in den letzten fünf Jahren im Europäischen Parlament gemacht haben. Dort haben wir richtig viel erreicht, angefangen mit dem Green Deal. Das war nur möglich, weil auch wir uns auf Kompromisse eingelassen haben. Mit dieser Haltung werde ich auch in Mehrheitsverhandlungen gehen. Natürlich möchte ich, dass es am Ende funktioniert. Aber nicht um jeden Preis.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“