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Grünen-Parteitag in WiesbadenGrüne wählen neue Arbeiterführer

Die Grünen setzen im Wahlkampf auf soziale Gerechtigkeit und Harmonie. Bei der Wahl des neuen Vorstands reicht es aber lediglich für ein Traumergebnis.

Die neuen Grünen-Vorsitzenden nach ihrer Wahl: Franziska Brantner und Felix Banaszak Foto: Michael Kappeler/dpa

Wiesbaden taz | Felix Banaszak stammt aus Duisburg und das ist an diesem Samstag sein großes Glück. „Ich bin ein Kind des Ruhrgebiets“, sagt der 35-Jährige in seiner Bewerbungsrede für den Grünen-Vorsitz, und da gibt es auf dem Parteitag den ersten kleinen Jubel. „Die Kokerei, auf der mein Großvater gearbeitet hat, gibt es schon lange nicht mehr. Aber das Stahlwerk gibt es noch“, führt er fort. Dann erzählt er von den Arbeiter*innen, die seit Wochen dafür demonstrieren, dass Thyssen Krupp in Duisburg weiter produziert und künftig grünen Stahl herstellt.

Banaszak spricht von „Tekin, Ali, Susanne, Dirk und ihre Kolleginnen und Kollegen vom Betriebsrat.“ Dafür gibt es wieder Jubel: Für Grünen-Verhältnisse hat der studierte Sozialwissenschaftler einen richtigen Kleine-Leute-Hintergrund.

Drei Monate vor den Neuwahlen haben die Grünen einen neuen Fokus gefunden: Soziale Gerechtigkeit, Zukunftsängste und Alltagsprobleme fehlen auf dem Parteitag in Wiesbaden in kaum einer Rede. Annalena Baerbock redet am Freitagabend über gestiegene Dönerpreise und teure Wocheneinkäufe. Der designierte Kanzlerkandidat Robert Habeck spricht nach ihr von „Gerechtigkeit und Sozialstaat“ als einen Wahlkampfschwerpunkt. Und auch bei Franziska Brantner, die sich neben Banaszak um den Parteivorsitz bewirbt, kommt das Thema prominent vor.

Einen so passenden biografischen Hintergrund wie Banaszak hat die Heidelbergerin zwar nicht. Immerhin hat sie aber einen kleinen Erfolg aus der Ampel vorzuweisen: Als Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium hat sie die Novelle des Postgesetzes mitverhandelt, die vorsieht, dass Paketboten zumindest im Regelfall nur noch Pakete unter 20 Kilo alleine ausstellen müssen. „Um genau diese Menschen geht es mir in der Politik. Genau für sie will ich Politik machen“, sagt die 45-Jährige, und erhält dafür ebenfalls einen kurzen Jubel.

Als Duo bewerben sich der Parteilinke Banaszak und die Realo-Vertreterin Brantner um die Nachfolge von Ricarda Lang und Omid Nouripour, die nach den verlorenen Landtagswahlen des Septembers ihre Rücktritte angekündigt hatten. Der Fokus auf die Verteilungsgerechtigkeit verbindet die beiden Neuen am Samstag bei ihren Auftritten auf der Parteitagsbühne. Ansonsten halten sie aber zwei sehr unterschiedliche Reden.

Rio Reiser und Attacke

Brantner befindet sich in ihrem Beitrag bereits im Wahlkampfmodus, teilt ausgiebig gegen die Konkurrenz aus: Von einer „pseudo-sozialistischen Spitzenverdienerin wie Sahra Wagenknecht“ wolle sie sich nicht vorwerfen lassen, dass die Grünen eine Partei der Besserverdienenden seien. Annalena Baerbock dankt sie dafür, dass sie sich „den Irrungen und Wirrungen aus dem Kanzleramt immer so sehr entgegenstellst“. Und wenn Friedrich Merz die Wahl gewinnt? Dann sei klar, dass er „die Förderungen von Wärmepumpen wieder einstellt“ und die Leute blöd dastünden mit ihren teuren Gasheizungen.

Banaszaks Rede ist dagegen in die Partei gerichtet, soll fürs Gefühlige und den Zusammenhalt sorgen. Mit dem Satz „Wir haben nichts zu verlieren außer unsere Angst“ zitiert er Rio Reiser, das grüne Publikum zieht er damit noch ein bisschen weiter auf seine Seite. Die Partei wolle er künftig nicht mehr als „ausgelagerte Pressestelle der Regierung“ verstehen, sondern als deren Motor. Und in der Migrationspolitik wolle er weiter „an der Seite derer stehen, die an ein weltoffenes Deutschland glauben“ – wenn auch natürlich weiterhin bei „aller Notwendigkeit, Kompromisse einzugehen“.

Am Ende kommt Banaszak unter den Delegierten deutlich besser an als seine künftige Co-Vorsitzende: Mit 92 Prozent erzielt er bei der anschließenden Abstimmung ein gutes Ergebnis. Brantner erhält mittelmäßige 78 Prozent. Möglicherweise diente die Abstimmung für viele der Anwesenden auch als Ventil für ihre Unzufriedenheit, die an irgendeiner Stelle doch rausmusste.

Harmonie trotz Unbehagen

Grundsätzlich ist in Wiesbaden auf der einen Seite zwar viel Wille zur Harmonie zu spüren. In drei Monaten ist Bundestagswahlkampf, auf offener Bühne will man sich da nicht streiten. Robert Habeck abzustrafen, über dessen Kanzlerkandidatur am Sonntag abgestimmt wird, wäre misslich.

Auch in inhaltlichen Fragen, wo man teils weit auseinander ist, gab es in Verhandlungen hinter den Kulissen viele Einigungen. Eine Kampfabstimmung vermieden haben die Grünen zum Beispiel beim Thema Vermögenssteuer, die viele Parteilinke fordern, etliche Realos wie Brantner aber vermeiden wollen. In einem Formelkompromiss wird die Steuer jetzt zwar genannt, aber nur als eine Option unter vielen.

Aber bei all der demonstrativen Einigkeit: Vor allem an der Basis ist weiterhin auch Unmut zu spüren über all die Verrenkungen, die die Grünen in drei Jahren Ampel hingelegt haben. Sie schlägt sich nicht nur im durchwachsenen Ergebnis von Brantner nieder, sondern zuvor auch schon in Gegenkandidaturen zum Personaltableau des Partei-Establishments. Fünf Stück gibt es insgesamt.

Susanne Bauer aus Oberfranken etwa kandidiert gegen Brantner. Als Vorsitzende wolle sie rote Linien ziehen, „die wirklich nicht überschritten werden“. Das sei für sie ganz klar da, wo es um grüne Werte geht: „Menschenrechte stehen nicht zur Disposition und die Natur verhandelt nicht.“

Auch für Matthias Ilka, der gegen Banaszak antritt, ist die Partei zu kompromissbereit und selbstgewiss. „Es fehlt mir ein bisschen das Selbstkritische. Uns nur zu feiern, ist zu wenig“, sagt er. Und weiter: „Robert stellt sich wieder als Kanzler auf, obwohl er mit dem Scheitern der Ampel verbunden ist.“ Da gibt es sogar ein bisschen Applaus.

Tränenreicher Abschied

Für mehr reicht es freilich nicht. Um das Personaltableau hatte das Partei-Establishment im Vorfeld in vielen Runden gerungen – und am Ergebnis wird nicht ernsthaft gerüttelt. Neben Banaszak und Brantner sitzt künftig Pegah Edalatian als Politische Geschäftsführerin im Vorstand. Bei der Wahl erhält sie wie Sven Giegold als Parteivize 81 Prozent der Stimmen. Damit schnitten die beiden Parteilinken knapp besser ab als die Realos Heiko Knopf als Vize (77 Prozent) und Manuela Rottmann als Schatzmeisterin (78 Prozent).

Vor den Wahlen waren die alten Vorsitzenden wort- und zum Teil auch tränenreich verabschiedet worden. Die Laudatio auf Omid Nouripour hielt bereits am Freitagabend Wolfgang Ischinger, der ehemaligen Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz. Ischinger, der Nouripour als Außenpolitiker schon lange kennt, bescheinigte den Grünen, in diesem Themenfeld einen längeren Weg gegangen zu sein als jede andere Partei: „Chapeau, Hochachtung vor dieser Partei!“

Klimaschutz-Aktivistin Luisa Neubauer würdigte Ricarda Lang, die sie als Freundin bezeichnete, nicht nur politisch. Beide erlebten sie seit Jahren, dass man als junge Frau mit politischen und gesellschaftsverändernden Ambitionen eigentlich nur alles falsch machen könne. Sie lobte mit Blick auf Lang die „gelebte Rollenverteilung“ zwischen der Klimabewegung und den Grünen und empfahl der Partei einen „echten Klimawahlkampf“. Und: „Mehr Ricarda wagen, dann kann es was werden.“

Lang selbst verabschiedete sich mit einer sehr klaren Rede. „Wir erleben eine tiefe Krise des demokratischen Systems“, sagte sie und betonte, es reiche nicht, gegen Rechtsextremismus zu sein. Notwendig sei, das Leben von Menschen zu verbessern. Und: „Wer die liberale Demokratie schützen will, muss die Menschen im Land wie Erwachsene behandeln und Antworten geben, die so groß sind wie die Probleme.“

Sie forderte mehr Klartext von ihrer Partei. Es sei falsch, nach Misserfolgen zu sagen, man müsse seine Politik nur überzeugender verkaufen. Und: „Wir sind nicht die Staubsaugervertreter der Demokratie. Wir müssen Politik nicht nur besser erklären, wir müssen bessere Politik machen.“

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10 Kommentare

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  • Die Grünen berauschen sich an ihrer kognitiven Dissonanz. Die Partei stehe (weiterhin ?) für konsequenten Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit und individuelle Lebensgestaltung. Sie steht auch weiter hinter ihrem Spitzenpersonal, das bisher in jeder Regierungsbeteiligung bewiesen hat, dass eigene Werte und Wahlversprechen den realpolitischen Machtinteressen geopfert werden. Gemessen an den genannten Werten haben die grünen Mitglieder der aktuellen Regierung nicht nur ein desaströse Bilanz vorzuweisen, sie standen und stehen für entgegengesetzte Politik.

    So funktioniert Normalisierung in der repräsentativen Demokratie. Damit sich etwas ändert, ist den WählerInnen zur paradoxen Intervention zu raten: Wählen Sie die Parteien/KanditatInnen, die sie auf keinen Fall im Bundestag sehen wollen und haben sie ein Herz für Kleinstparteien.

  • Ja, liebe Grüne, hört auf Luisa und wagt mehr Ricarda. Scheint mir die Gewinnerformel schlechthin. Und zum Glück gab es "Wahlen" und keine Kampfkandidaturen. Und bloss keine Vermögenssteuer! Blanke Katastrophe für die Besserverdiener-Grünenwähler. (Hey, pst, Diejenigen, um die es da gehen soll, die wählen keine Grünen.) Sozusagen die Kernschmelze in der Wahlurne. Und, ja, tatsächlich ein weiter Weg von "Raus aus der NATO!" bis zu "Die Grünen waren nie eine pazifistische Partei." Und die Laudatio kommt von einem MSC-Ghoul. Ernsthaft?!Da kann man wirklich nur den Hut ziehen. Vor der Chuzpe, mit der diese Kasper solche Sätze vom Stapel lassen. Euch ist echt auch nix mehr peinlich. Schulterklopfen und Polittheater, mehr nicht. Absolut armselige Vorstellung, mMn.

  • Ein Haufen politischer Geisterfahrer, deren größte Kompetenz darin besteht anderer Leute hart erarbeitetes Geld ohne Sinn und Verstand zu verschleudern.

  • "Die Grünen setzen im Wahlkampf auf soziale Gerechtigkeit und Harmonie. Bei der Wahl des neuen Vorstands reicht es aber lediglich für ein Traumergebnis."



    Hoffentlich ein "Anti-Merz-Programm" und nicht ein "Vor-Merz-Programm" für die Generationen, die die "anciente" Union nur formal im Boot hat.

  • Banaszak ist ein guter Typ.



    Er hat im Bundestag herrlich über die AfD hergezogen in Form eines kleinen Gedichts.



    Sowas gefällt.

  • Der Arbeiterführer hat mich etwas stutzig gemacht.



    Im Gegensatz zu Frau Brantner hat Herr Banaszak lediglich irgendwo in Abgeordneten/Parteibüros gearbeitet. Das prangere ich immer an. Wie will uns jemand die Welt erklären der nur in seiner Blase groß geworden ist.

  • Wenn man diesen Bericht liest, möchte man gratulieren: Che Guevara wäre wäre stolz auf euch! Aber vielleicht wäre der inzwischen genauso in die Jahre gekommen.

  • Hat nach dem Abi In Berlin Zivildienst gemacht und dann an der FU Sozial- und Kulturantropologie studiert. Dann Arbeit für Grüne Funktionsträger. Quelle: Wikipedia.



    Eine Nähe zur Industriearbeiterschaft des Ruhrgebiets (wie im Titel suggeriert) sehe ich da nicht.

  • Die beiden scheinen, wenngleich auf unterschiedliche Art und Weise, die Grünen wieder ein Stück weit konsensfähig zu machen. Das ist gut!



    Sie haben akzeptable politische Karrieren hinter sich und jedwede Exzentrik ist wohl weder optisch noch inhaltlich wirklich ihr Ding.

  • Ein Grüner Arbeiterführer? Was gab es in Wiesbaden zu trinken?

    Auch wenn die Grünen jetzt links blinken und einen auf sozial machen. Es wird nicht Viele geben, die ihnen das abnehmen.