Großbritanniens neue Premierministerin: Liz Truss hat nur diese Chance
Die neue Premierministerin hat gar keine Zeit für neoliberale Pläne. Angesichts der Energiekrise muss sie es erst einmal durch den Winter schaffen.
E in Bilderbuchstart war das nicht. Liz Truss, die neue Premierministerin des Vereinigten Königreichs, hat gerade mal 57 Prozent der abgegebenen Stimmen in der Stichwahl unter den Mitgliedern der britischen Konservativen erhalten und weniger als die Hälfte aller Stimmberechtigten. In ihrer Siegesrede am Montag in London verhaspelte sie sich mehrmals, ihre Nervosität war deutlich. Die 47-jährige Politikerin weiß, dass für sie jetzt die schwerste Zeit ihres Lebens beginnt.
Denn Großbritannien insgesamt durchlebt schwere Zeiten wie selten. Nicht nur aufgrund der massiven wirtschaftlichen Probleme wegen explodierender Energiepreise, die alle Industrienationen gerade erleben. Auch politisch erbt Liz Truss einen Scherbenhaufen.
Die politische Klasse in London scheint vor allem mit sich selbst beschäftigt zu sein, sie verzettelt sich in abenteuerlichen Skandalen, das Vertrauen der Öffentlichkeit in Politiker jeder Couleur tendiert gegen null. Die regierenden Konservativen sind nach zwölf Jahren an der Macht nun bereits bei ihrem vierten Premierminister angelangt, zerrissen von unzähligen unbewältigten Rivalitäten und persönlichen Eifersüchteleien. Neue Impulse gehen von dieser Partei nicht mehr aus.
Es ist da schon fast egal, wer jetzt in 10 Downing Street einzieht. Die Herausforderung, die Energiekrise und die Erosion der Realeinkommen zu bewältigen und damit endlich mal Kompetenz und Handlungsfähigkeit in der Politik zu demonstrieren, bleibt immens, egal ob auf Boris Johnson nun Rishi Sunak oder Liz Truss gefolgt wäre.
Die Zwänge der Wirklichkeit
Dass Liz Truss in ihrem Wahlkampf eine neoliberale Politik der Steuersenkungen versprach und sich selbst ins Erbe Margaret Thatchers rückte, fällt gegenüber den Zwängen der Wirklichkeit nicht ins Gewicht. Dazu ist die Zeit bis zum Winter zu knapp. Nur wenn die aktuellen Probleme besser bewältigt werden als bisher, haben die Tories eine Chance auf die Wiederwahl 2024. Nur dann bleibt Liz Truss mehr als ein kurzes Zwischenspiel. Und das weiß sie genau. „Wir werden liefern, wir werden liefern, wir werden liefern“, rief sie in ihrer Siegesrede.
Und dennoch ist es keineswegs egal, wer jetzt Großbritannien regiert. Liz Truss’ Vorteil ist, dass sie gerne unkonventionell denkt und dass sie in der Lage ist, sowohl Menschen zu begeistern als auch hart zu arbeiten. Boris Johnson begnügte sich mit Visionen für ein besseres Land, kümmerte sich aber nicht um die lästigen Details ihrer Realisierung. Wenn Truss die Details meistert, ohne die Visionen aus den Augen zu verlieren, ist für Großbritannien schon das Beste getan, was in dieser Situation möglich ist.
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