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Getötete Sanitäter in GazaLügen in Zeiten des Krieges

Felix Wellisch
Kommentar von Felix Wellisch

Der Angriff auf die Helfer in Gaza sollte ein Aufruf dazu sein, internationale Institutionen wie den Internationalen Strafgerichtshof zu stärken.

Palästinenser betrauern den Tod der 15 getöteten Sanitäter des Roten Halbmonds Foto: Reuters

D ie Erschießung von 15 Rettungskräften durch israelische Soldaten ist ein neuer Tiefpunkt im Gazakrieg. Es schockiert der Kugelhagel auf gekennzeichnete und nach internationalem Recht geschützte Sanitäter ebenso wie die zunehmende Normalisierung solcher mutmaßlichen Kriegsverbrechen.

Mit Verweis auf „Terroristen“ und „verdächtiges“ Fahren ohne Blaulicht hat die israelische Armee tagelang ihr Fehlverhalten bestritten. Nun zeigt ein Video des Einsatzes hell erleuchtete und markierte Rettungswagen – und zwingt die Armee, ihre Erzählung anzupassen.

Deutlich wird zum wiederholten Mal: Die Aussagen der israelischen Armee sind die einer Kriegspartei, auf die sich die Berichterstattung nicht verlassen kann. Wenig überraschend bittet der Armeesprecher am Samstagabend um Verständnis für die Fehlinformation, bleibt aber sonst dem Kommunikationsmuster treu: An Bord seien militante Hamas-Mitglieder, der Angriff eine „erfolgreiche Konfrontation mit Terroristen“ gewesen.

Beweise dafür werden nicht präsentiert. Keine Frage, die Hamas führt bis heute hinter dem Schutzschild ihrer eigenen Bevölkerung Angriffe gegen Israel. Doch ein Verbrechen kann nicht das andere rechtfertigen.

Untersuchen allein reicht nicht

Eine Recherche des britischen Guar­dian nennt mehr als tausend getötete Mediziner und Rettungskräfte seit Kriegsbeginn, zerstörte Krankenhäuser, Schulen, Moscheen und Universitäten. Es gibt Hunderte Videos und Aussagen, teils von Soldaten gepostet, teils von Medien und NGOs verbreitet, die mutmaßliche Kriegsverbrechen dokumentieren.

Die Armee will den Angriff auf die Sanitäter nun untersuchen, doch das reicht nicht. Um die Verantwortlichen für all die Grauen des Gazakriegs – und des vorausgegangenen Terrorüberfalls am 7. Oktober 2023 – zur Rechenschaft zu ziehen, braucht es unabhängige Untersuchungen.

Es sollte ein Aufruf dazu sein, internationale Institutionen wie den Internationalen Strafgerichtshof zu stärken, statt ausgerechnet jetzt deren Geltung infrage zu stellen.

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Felix Wellisch
Korrespondent
berichtet für die taz aus Israel und den palästinensischen Gebieten. Geboren 1989. Er hat Politik- und Sozialwissenschaften in Jena, Dresden und Kairo studiert und die Deutsche Journalistenschule in München absolviert. Ernst Cramer & Teddy Kollek-Fellow.
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21 Kommentare

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  • Michaela Dudley , Autorin , Journalistin/Kabarettistin

    Es ist auch und gerade im Interesse Israels, diesen besorgniserregenden Fall ohne Voreingenommenheit und bar jeglicher Süffisanz zu untersuchen.

    Das Drehbuch der Hamas ist bekannt: Wer die Augen vor den beispiellosen, ja epochalen Verbrechen dieser Terrororganisation nicht verschließt, dem ist auch die wiederholt völkerrechtswidrige Nutzung von Ambulanzwagen als Truppentransporter und von zivilen Krankenhäuser als Kommandozentralen längst vertraut. Doch die jetzt aufgetauchten Videos lassen leider ein anderes Drehbuch vermuten, dass die IDF potenziell schwer belasten könnte.

    Der Einsatz der IDF gegen die Hamas ist insgesamt richtig, wichtig und übrigens eine Angelegenheit, die selbst der IGH dem jüdischen Staat im Wesentlichen nicht untersagt hat. Bei einem asymmetrischen Krieg an dichtbesiedelten Schauplätzen ist die Tragödie des unbeabsichtigten Kollaterschadens sowieso nicht auszuschließen. Allerdings kann Israel



    es sich militärisch und moralisch nicht leisten, dieses Ereignis mittels Hybris und Hasbara zu bagatellisieren.

  • Die israelische Regierung hat schon oft Aufklärung versprochen. An Ergebnisse kann ich mich nicht erinnern.

    Und ich schäme mich.

    Schäme mich für unsere Regierung, die aus Staatsräson zu einer rechtsextremen und faschistoiden Regierung hält und aus Staatsräson Redner ausladen lässt und aus Staatsräson Studierende ausweist.

    Das ist eine rein formale Staatsräson.



    Das ist kein "Nie wieder".

    "Nie wieder" heißt, da, wo Recht verletzt wird, wo Kriegsverbrechen und Völkermord angeklagt sind, auf der Seite des Rechts zu stehen.

    Nicht das Recht der Staatsräson zu unterwerfen.



    Justitia hat blind zu sein.

  • Es ist sehr bemerkenswert, dass mittlerweile sogar auf Deutsch deutlich Kritik (hier wird das Wort LÜGEN in der Überschrift verwendet) und nicht ausschliesslich Besorgnis über das israelische Vorgehen gelesen werden kann, und auch die Netiquette scheint mir viel durchlässiger. Vielen Dank an die Taz dafür!



    In GB ist man beim Thema Nahost scheinbar auf einer völlig anderen Ebene: www.bbc.com/news/articles/cn7vje365rno

  • "Die Armee will den Angriff auf die Sanitäter nun untersuchen..."

    Die mutmaßlichen Täter sollen die Untersuchung führen. Wird wohl ein neues Rechtsprinzip...

  • "Doch ein Verbrechen kann nicht das andere rechtfertigen." - Dreckiger scheint es nimmer zu gehen. Das israelische Militär verspielt den letzten Kredit.

  • Wenn die Putin-Russen oder die Saudis so gelogen und vertuscht hätten, nach ohnehin unzähligen Fällen von Angriffen auf Journalisten und Krankenpflegern, dann wäre deutlich mehr los. Und deutlich mehr sollte auch los sein.

    Kurzer Fairness-Einschub: es gab womöglich früher mal Fälle von missbrauchten Krankenwagen. Das lässt sich anders klären, und noch mal für alle Staaten. Der eigene Zweck rechtfertigt nicht alle Mittel, das ist das 'ius in bello'. Auch für Israel gelten die Regeln.



    Und das Ende der Besatzung wird ein großer Schritt zum Frieden in der Region sein.

    • @Janix:

      "Und das Ende der Besatzung wird ein großer Schritt zum Frieden in der Region sein."

      Nein, das ist der große Irrtum.

      Erstens war Gaza nicht besetzt. Zweitens hat der Genozid der Hamas am 7. Oktober nichts mit der Situation der Menschen im WJL zu tun. Als ob die Hamas sich für die Belange der palästinensischen Bevölkerung interessieren würde. Ihre Führer sagen selbst, dass sie nicht dafür verantwortlich sind. Drittens geht es der Hamas - und nicht nur der - um die Vernichtung Israels. Israel gilt als besetztes Land, das von den bösen Siedlern befreit werden muss. Wie Israel sich verhält, spielt da keine Rolle. Schon vergangene Friedensangebote wurden noch von jeder palästinenschen Führung abgelehnt.

  • Ich denke mal, ich spreche für alle, die noch nicht der Hamas in den Arsch gekrochen sind, und immernoch pro Israel sind, dass der Fall lediglich eine Untersuchung braucht.

    Und mal ehrlich, auch die "gute Seite", und das sehen viele in der Palästina, hat ihre eigenen Soldaten, die morden.

    • @Troll Eulenspiegel:

      Pro Israel wäre doch, diesem Lande gerade eine Umkehr zuzutrauen. Nötig wäre sie.

      Pro Palästina ist entsprechend, eine Zukunft ohne Dominanz einer Hamas in der heutigen Form zu wollen.

      Oder wird sind einfach Pro Menschlichkeit und Völkerrecht.

      • Michaela Dudley , Autorin , Journalistin/Kabarettistin
        @Janix:

        Solange die UNRWA weiterhin Schulbücher herausgibt, die judenfeindliche Verschwörungstheorien verbreiten und den Terrorismus gegen Israel verherrlichen, bleibt eine effektive „Einkehr“ Gazas illusorisch.

        Die offenbar fortgesetzten Demos in Dschabalija machen zwar Hoffnung, reichen aber nicht aus. Statt Hunderter müssten es Abertausende sein. Je mehr Aufständische gegen die Hamas, desto größer das Potenzial, die Terrororganisation zu entmachten.

    • @Troll Eulenspiegel:

      Ich denke, Sie sprechen vor allem für sich. Daran ändert auch Ihr "no true scotsman"-Argument, welches Ihrer Meinung Allgemeingültigkeit verleihen soll, nichts.







      Und mal so richtig ehrlich: Der Konflikt ist weder Fußballspiel noch Herr der Ringe.



      Diese ewige Reproduktion von Kategorien wie pro gegen anti und gut gegen böse ist so sinnlos wie kontraproduktiv.

  • Eine Stärkung des IStGH wäre es, wenn die Mitgliedsstaaten initiativ würden hinsichtlich des Schutzes vor extraterritorialen Sanktionen, wie sie die USA gegen Mitglieder des IStGH verhängt haben.

    Das rechtliche Instrument hierfür wäre die sogenannte Blocking Verordnung wie sie auch die EU zum Schutz von Unternehmen und Einzelpersonen unterhält. Das wäre die Grundvoraussetzung dafür, dass überhaupt über die Machbarkeit von unabhängigen Untersuchungen diskutiert werden kann.

    Nur zur Erinnerung, die autoritären Regierungen in den USA, Israel oder Ungarn arbeiten gegenwärtig mit Nachdruck daran die Gewaltenteilung im eigenen Land möglichst aufzuheben oder zumindest das Recht dem System anzugleichen.

    Da ist ein Weltgerichtshof der Störfaktor Nummer 1. Die vom Autor anvisierten unabhängigen Ermittlungen, wenn möglich noch vor Ort, sind vor diesem Hintergrund reine Zukunftsmusik.

    Die EU sollte als erstes realisieren, dass es bei der gegenwärtigen Entwicklung um den Fortbestand des IStGH geht. Das scheinen aber einige noch nicht verstanden zu haben. Anders ist das kontraproduktive Verhalten von Friedrich Merz hinsichtlich des Haftbefehls für Nethanjahu nicht zu erklären.

    • Michaela Dudley , Autorin , Journalistin/Kabarettistin
      @Sam Spade:

      Die Ausweitung der Befugnisse des von Korruption und antisemitischer Voreingenommenheit gezeichneten IStGH droht, das Haager Tribunal umso mehr in einen Schutzpatron terroristischer Failed States zu verwandeln.

      • @Michaela Dudley:

        Tut mir Leid Frau Dudley, ihrer Propagandamaschine geht langsam der Sprit aus.

        Das ist alles zu durchsichtig, zu faktenarm und recht eintönig. Die Schlagworte Antisemitismus und Hamas Terroristen haben sich abgenutzt.

        Ersteres ist von ihnen zu oft für ihre israelische Lobbyarbeit missbraucht worden, zweiteres musste zu oft seitens der IDF als Erklärung für sämtliche Kriegsverbrechen gegenüber NGO Mitarbeitern, Journalisten oder jetzt Sanitätern herhalten.

        Die Glaubwürdigkeit ist dahin, die Worte haben sich abgenutzt und es ist zu wünschen, dass die Mitgliedsstaaten dem IStGH sämtliche Unterstützung zukommen lassen, um die Schuldigen für diese und andere Verbrechen auf die Anklagebank in Den Haag zu bringen.

        Ich persönlich habe auch kein Verständnis für Menschen die aus falschen Solidaritätsgründen Faschisten verteidigen, anstatt säuberlich zu differenzieren.

        Wer Trump kritisiert, aber Netanjahu verteidigt und sei es auch nur indirekt, ist einfach nicht aufrichtig und sollte sich besser nicht über die Zustände in den USA öffentlich echauffieren. Denn beide Autokraten blasen ins gleiche Horn. Da gibt es keinen Unterschied.

    • @Sam Spade:

      Das ist ein guter Beitrag, dem man nur zustimmen kann. Dass Merz kontraproduktiv ist, dürfte längst klar sein nach seinen Spielchen mit der Abstimmung zusammen mit den Faschisten. Und da es sich bei den Störenfrieden in Sachen IStGH auch um scharf rechts stehende, teilweise faschistische Protagonisten handelt, wird Merz sich sehr zurückhalten - dafür ist ihm diese Richtung viel zu nahe.

    • @Sam Spade:

      Ich wäre ja schon begeistern wenn Deutschland wenigstens die Waffenexporte einstellen und Palästina als Staat anerkennen würde. Als ersten Schritt.

      Aber Merz redet ja sogar davon, "Bibi" einzuladen und sich über den Rechtsstaat hinwegzusetzen, indem er ihn dann nicht verhaften lassen würde - was er rechtsstaatlich gar nicht kann, weil in einem Rechtsstaat die Justiz das anordnen würde und nicht die Regierung. Aber von Rechtsstaatlichkeit hält Merz ja sowieso nicht mehr als vom Menschenrecht auf Asyl.

  • The Guardian bezieht sich seit Kriegsbeginn konsequent auf Angaben des Gesundheitsministeriums von Gaza - also auf Hamas.

    • @Sophie Löffler:

      Welche anderen, ggf neutraleren Daten würden Sie denn vorschlagen zu verwenden?

    • @Sophie Löffler:

      Leseempfehlung:

      Interview mit Jürgen Högl, Leiter des Gaza-Einsatzes des Roten Kreuzes in dieser Zeitung.



      taz.de/Toetung-von...-Helfern/!6077376/

      • @Klabauta:

        Die Organisation, die sich so äußerst effektiv und erfolgreich um die Versorgung der israelischen Geiseln gekümmert hat? So erfolgreich, dass freigelassene Geiseln berichten, wie die Hamas die Nahrungsmittel der Hilfslieferungen für sich nutzt?

  • "Eine Recherche des britischen Guar­dian nennt mehr als tausend getötete Mediziner und Rettungskräfte seit Kriegsbeginn, zerstörte Krankenhäuser, Schulen, Moscheen und Universitäten. Es gibt Hunderte Videos und Aussagen, teils von Soldaten gepostet, teils von Medien und NGOs verbreitet, die mutmaßliche Kriegsverbrechen dokumentieren."



    Die angeblich logischen Voraussetzungen u. Gesetzmäßigkeiten v. Krieg:



    Hierzu u. zu den Voraussetzungen v. Krieg gibt es Publikationen u. Stellungnahmen, die interdisziplinär u. multilateral formuliert sind.



    "Der Mensch führt Krieg, immer wieder und weiter, und das trotz der ganz großen Schrecken des vergangenen Jahrhunderts. Dabei muss er gar nicht. Weder seine genetische Veranlagung noch das schlechte Beispiel des Brudermords von Kain an Abel zwingen ihn dazu. Das stellen Harald Meller, Kai Michel und Carel van Schaik gleich am Anfang ihres Buches „Die Evolution der Gewalt“ klar.



    Darin gehen sie entlang der Menschheitsgeschichte der Frage nach: „Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen“. Und von vornherein machen sie deutlich, dass sie die verbreitete Ansicht, der Mensch sei eben von Natur aus..."



    swr.de



    zum aktll Buch



    "Die Evolution der Gewalt"