Gesundheit und Prävention: Die Super-Ager kommen
Trotz des drittteuersten Gesundheitssystems der Welt und global steigender Lebenserwartung sterben die Deutschen früher. Der Fehler steckt im System.

E rstmals in ihrer Geschichte wird die Mehrheit der Menschen alt. Seit 1840 steigt die maximale globale Lebenserwartung pro Jahr im Schnitt um drei Monate. Im Jahr 2050 können die meisten Menschen 100 Jahre alt werden. Unser Gesundheitssystem ist auf eine Lebenserwartung zwischen 50 und 70 Jahren ausgelegt. Für eine Gesellschaft des langen Lebens ist es nicht vorbereitet. Eine höhere Lebenserwartung hat erhebliche Auswirkungen auf die Tragfähigkeit des Sozialstaats und den Zusammenhalt in Städten und Gemeinden.
Die sogenannten Super-Ager, die Generation 80+, hat sich seit 1975 versechsfacht, heute sind es über sechs Millionen Menschen. Die beiden zentralen Treiber der Entwicklung sind eine bessere medizinische Versorgung und ein höherer Lebensstandard. Trotzdem ist die Lebenserwartung hierzulande zuletzt bei Männern auf 78 und bei Frauen auf 83 Jahre gesunken. Zum ersten Mal ist Deutschland im OECD-Vergleich damit unter den EU-Mittelwert gefallen, trotz steigender Sozial- und Gesundheitsausgaben. In Spanien, Italien und der Schweiz leben die Menschen bis zu 3 Jahre länger.
ist Zukunftsforscher und Gründer des Instituts für Zukunftspolitik (www.institut-zukunftspolitik.de).
Die Deutschen werden älter, aber sie leben selten gesünder. Die Lücke zwischen Lebens- und Gesunderhaltung beträgt rund 9 Jahre, die Deutschen verbringen etwa ein Fünftel ihres Lebens in Morbidität. 124.000 vermeidbare Todesfälle hat Deutschland laut einer EU-Studie jedes Jahr aufgrund unzureichender gesundheitlicher Vorsorge. Dabei gehört das deutsche Gesundheitssystem zu den drei teuersten in der Welt. Gemessen am Ziel der Lebenserwartung sind die Ergebnisse miserabel. Rund 12 Prozent seines BIP gibt Deutschland für die Gesundheit seiner Bürger aus. 97 Prozent der Krankenkassenausgaben in Höhe von rund 330 Milliarden Euro betreffen die Behandlung und Verwaltung von Krankheiten. Pro Kopf zahlen die Deutschen rund 5.300 Euro im Jahr, 50 Prozent mehr als der EU-Durchschnitt.
Leben die Menschen dagegen länger gesund, hat das erhebliche Folgen für die Finanzen für Staat, Krankenkassen, Wirtschaft. Ein zusätzliches gesundes Jahr für die gesamte Bevölkerung bringt zwischen 3 und 4 Prozent Plus beim Bruttoinlandsprodukt (BIP), haben Ökonomen ausgerechnet. Für Deutschland sind das zwischen 130 und 170 Milliarden Euro jährlich, das ist etwa ein Drittel der gesamten Gesundheitsausgaben. Jeder Versicherte würde mindestens 1.500 Euro im Jahr sparen.
Zu den Haupttodesursachen gehören heute Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und chronische sowie neurodegenerative Erkrankungen. Krebs, Alzheimer, Diabetes, Herzleiden, Gebrechlichkeit entstehen in der Regel durch Zellalterung. Das Ausbrechen dieser Krankheiten lässt sich verhindern, wenn es gelingt den Alterungsprozess von Zellen zu bremsen. Technologien wie Genanalysen, digitale Gesundheitsdaten und KI bieten neue Chancen für eine individuell zugeschnittene Vorsorge. Es geht darum, Prävention wirksam an individuelle Risiken und Bedürfnisse anzupassen und dabei Lebensstil-, Umwelt- und Krankheitsfaktoren zu berücksichtigen.
Prävention in den Alltag integrieren
In hochaltrigen Ländern wie Südkorea und Japan, die ihr Gesundheits- und Pflegesystem am deutschen ausgerichtet haben, werden die Herausforderungen durch Präventionsprogramme längst kompensiert. Dort fördern regelmäßige Gesundheitschecks, kommunale Angebote für ein tägliches Miteinander und freiwillige Jobvermittlung für Hochaltrige ein aktives, gesundes Altern. Technologische Assistenzsysteme verbessern die Lebensqualität der Älteren und entlasten Fachkräfte.

Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.
Prävention entscheidet sich im Alltag: in Kitas, Schulen, Betrieben und Quartieren. Es geht um die Stärkung der mentalen und psychischen Gesundheit, Stressprävention und Demenzvorsorge. Gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen helfen, Fachkräfte zu halten. Betriebliche Gesundheitsförderung ist Bestandteil einer nachhaltigen Arbeitskultur. Die zentralen Orte und Räume für Prävention sind unsere Kommunen und Städte. Stadtbewohner haben ein etwa 1,4-mal größeres Risiko, an einer Depression zu erkranken, als Bewohner ländlicher Gegenden. Städte müssen vor Hitze, Stress und Einsamkeit schützen.
Prävention spielt im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung eine ebenso zentrale wie unverbindliche Rolle. Zehn Jahre nach dem Nationalen Präventionsplan muss Deutschland mehr Prävention wagen. Eine neue, ganzheitliche Strategie setzt inner- und außerhalb des Gesundheitswesens an und leitet eine Wende ein: von Kuration und Intervention hin zu Prävention und Innovation. Politische Appelle an die Eigenverantwortung gehen ohne „Gesundheit in allen Politikbereichen“ ins Leere. Von zehn Todesfällen sind vier auf Rauchen, schlechte Ernährung, Alkohol und Bewegungsmangel zurückzuführen.
Bei verhältnispräventiven Maßnahmen gehört Deutschland zu den Schlusslichtern. Ein Umsteuern in der Präventionspolitik braucht wirksame steuerliche Instrumente. Die gesundheitlichen Folgen von Tabak- und Alkoholkonsum und unzureichender Bewegung und schlechter Ernährung betragen jährlich mehr als 200 Milliarden Euro. Neuen Umfragen zufolge befürworten mehr als zwei Drittel der Deutschen eine Erhöhung der Tabak- und Alkoholsteuer. Mit den Einnahmen lassen sich gesunde Lebensmittel von der Umsatzsteuer befreien sowie Bewegungs-, Ernährungs- und Impfprogramme in Kitas, Schulen, Betrieben und Pflegeeinrichtungen flächendeckend finanzieren.
„There is no glory in prevention“, hieß es während der Coronapandemie – Prävention würde nicht gedankt. Das Gegenteil ist der Fall: Hunderttausende weniger vermeidbare Tote und Kranke sowie mehr Wachstum und Wohlstand für alle. Prävention wirkt und rechnet sich. Ihre eigentliche Dividende ist unbezahlbar: ein längeres Leben in Gesundheit. In Stadt und Land.
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