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Gesundheit und PräventionDie Super-Ager kommen

Gastkommentar von Daniel Dettling

Trotz des drittteuersten Gesundheitssystems der Welt und global steigender Lebenserwartung sterben die Deutschen früher. Der Fehler steckt im System.

Kein Alkohol, keine Zigaretten, dafür einen schönen Tee und Klangschalen im Grünen. Wer so lebt kann gesund alt werden Foto: imagebroker/imago

E rstmals in ihrer Geschichte wird die Mehrheit der Menschen alt. Seit 1840 steigt die maximale globale Lebens­erwartung pro Jahr im Schnitt um drei Monate. Im Jahr 2050 können die meisten Menschen 100 Jahre alt werden. Unser Gesundheitssystem ist auf eine Lebenserwartung zwischen 50 und 70 Jahren ausgelegt. Für eine Gesellschaft des langen Lebens ist es nicht vorbereitet. Eine höhere Lebenserwartung hat erhebliche Auswirkungen auf die Tragfähigkeit des Sozialstaats und den Zusammenhalt in Städten und Gemeinden.

Die sogenannten Super-Ager, die Generation 80+, hat sich seit 1975 versechsfacht, heute sind es über sechs Millionen Menschen. Die beiden zentralen Treiber der Entwicklung sind eine bessere medizinische Versorgung und ein höherer Lebensstandard. Trotzdem ist die Lebenserwartung hierzulande zuletzt bei Männern auf 78 und bei Frauen auf 83 Jahre gesunken. Zum ersten Mal ist Deutschland im OECD-Vergleich damit unter den EU-Mittelwert gefallen, trotz steigender Sozial- und Gesundheitsausgaben. In Spanien, Italien und der Schweiz leben die Menschen bis zu 3 Jahre länger.

Bild: privat
Daniel Dettling

ist Zukunftsforscher und Gründer des Instituts für Zukunftspolitik (www.institut-zukunftspolitik.de).

Die Deutschen werden älter, aber sie leben selten gesünder. Die Lücke zwischen Lebens- und Gesunderhaltung beträgt rund 9 Jahre, die Deutschen verbringen etwa ein Fünftel ihres Lebens in Morbidität. 124.000 vermeidbare Todesfälle hat Deutschland laut einer EU-Studie jedes Jahr aufgrund unzureichender gesundheitlicher Vorsorge. Dabei gehört das deutsche Gesundheitssystem zu den drei teuersten in der Welt. Gemessen am Ziel der Lebenserwartung sind die Ergebnisse miserabel. Rund 12 Prozent seines BIP gibt Deutschland für die Gesundheit seiner Bürger aus. 97 Prozent der Krankenkassenausgaben in Höhe von rund 330 Milliarden Euro betreffen die Behandlung und Verwaltung von Krankheiten. Pro Kopf zahlen die Deutschen rund 5.300 Euro im Jahr, 50 Prozent mehr als der EU-Durchschnitt.

Leben die Menschen dagegen länger gesund, hat das erhebliche Folgen für die Finanzen für Staat, Krankenkassen, Wirtschaft. Ein zusätzliches gesundes Jahr für die gesamte Bevölkerung bringt zwischen 3 und 4 Prozent Plus beim Bruttoinlandsprodukt (BIP), haben Ökonomen ausgerechnet. Für Deutschland sind das zwischen 130 und 170 Milliarden Euro jährlich, das ist etwa ein Drittel der gesamten Gesundheitsausgaben. Jeder Versicherte würde mindestens 1.500 Euro im Jahr sparen.

Unser Gesundheitssystem ist auf eine Gesellschaft des langen Lebens nicht vorbereitet

Zu den Haupttodesursachen gehören heute Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und chronische sowie neurodegenerative Erkrankungen. Krebs, Alzheimer, Diabetes, Herzleiden, Gebrechlichkeit entstehen in der Regel durch Zellalterung. Das Ausbrechen dieser Krankheiten lässt sich verhindern, wenn es gelingt den Alterungsprozess von Zellen zu bremsen. Technologien wie Genanalysen, digitale Gesundheitsdaten und KI bieten neue Chancen für eine individuell zugeschnittene Vorsorge. Es geht darum, Prävention wirksam an individuelle Risiken und Bedürfnisse anzupassen und dabei Lebensstil-, Umwelt- und Krankheitsfaktoren zu berücksichtigen.

Prävention in den Alltag integrieren

In hochaltrigen Ländern wie Südkorea und Japan, die ihr Gesundheits- und Pflegesystem am deutschen ausgerichtet haben, werden die Herausforderungen durch Präventionsprogramme längst kompensiert. Dort fördern regelmäßige Gesundheitschecks, kommunale Angebote für ein tägliches Miteinander und freiwillige Jobvermittlung für Hochaltrige ein aktives, gesundes Altern. Technologische Assistenzsysteme verbessern die Lebensqualität der Älteren und entlasten Fachkräfte.

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Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.

Prävention entscheidet sich im Alltag: in Kitas, Schulen, Betrieben und Quartieren. Es geht um die Stärkung der mentalen und psychischen Gesundheit, Stressprävention und Demenzvorsorge. Gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen helfen, Fachkräfte zu halten. Betriebliche Gesundheitsförderung ist Bestandteil einer nachhaltigen Arbeitskultur. Die zentralen Orte und Räume für Prävention sind unsere Kommunen und Städte. Stadtbewohner haben ein etwa 1,4-mal größeres Risiko, an einer Depression zu erkranken, als Bewohner ländlicher Gegenden. Städte müssen vor Hitze, Stress und Einsamkeit schützen.

Prävention spielt im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung eine ebenso zentrale wie unverbindliche Rolle. Zehn Jahre nach dem Nationalen Präventionsplan muss Deutschland mehr Prävention wagen. Eine neue, ganzheitliche Strategie setzt inner- und außerhalb des Gesundheitswesens an und leitet eine Wende ein: von Kuration und Intervention hin zu Prävention und Innovation. Politische Appelle an die Eigenverantwortung gehen ohne „Gesundheit in allen Politikbereichen“ ins Leere. Von zehn Todesfällen sind vier auf Rauchen, schlechte Ernährung, Alkohol und Bewegungsmangel zurückzuführen.

Bei verhältnispräventiven Maßnahmen gehört Deutschland zu den Schlusslichtern. Ein Umsteuern in der Präventionspolitik braucht wirksame steuerliche Instrumente. Die gesundheitlichen Folgen von Tabak- und Alkoholkonsum und unzureichender Bewegung und schlechter Ernährung betragen jährlich mehr als 200 Milliarden Euro. Neuen Umfragen zufolge befürworten mehr als zwei Drittel der Deutschen eine Erhöhung der Tabak- und Alkoholsteuer. Mit den Einnahmen lassen sich gesunde Lebensmittel von der Umsatzsteuer befreien sowie Bewegungs-, Ernährungs- und Impfprogramme in Kitas, Schulen, Betrieben und Pflegeeinrichtungen flächendeckend finanzieren.

„There is no glory in prevention“, hieß es während der Coronapandemie – Prävention würde nicht gedankt. Das Gegenteil ist der Fall: Hunderttausende weniger vermeidbare Tote und Kranke sowie mehr Wachstum und Wohlstand für alle. Prävention wirkt und rechnet sich. Ihre eigentliche Dividende ist unbezahlbar: ein längeres Leben in Gesundheit. In Stadt und Land.

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8 Kommentare

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  • Würde die Gesundheit von der Gesundheitspolitik abhängen, wären wir schon längst ausgestorben.



    © Gerhard Kocher (*1939), Dr. rer. pol., Schweizer Politologe und Gesundheitsökonom

  • "Seit 1840 steigt die maximale globale Lebens­erwartung pro Jahr im Schnitt um drei Monate. Im Jahr 2050 können die meisten Menschen 100 Jahre alt werden. "

    Die Lebenserwartung stieg und steigt nicht linear. Bei diesem kalkulierten Durchschnitt muss man berücksichtigen, dass vor 1900 die Lebenserwartung nur sehr langsam stieg. Mit den Fortschritten der Medizin im 20. Jahrhundert sehr schnell. Da wir aber nun im 21. Jahrhundert noch immer nicht den Krebs und viele Alterskrankheiten besiegt haben, wird es nicht so schnell weitergehen.

    Realistisch betrachtet könnte im Jahr 2050 die Lebenserwartung um wenige Jahre gestiegen sein ... aufgrund dramatischer Folgen des Klimawandels, kann man aber global auch mit einem Rückgang rechnen. Hitze wird in vielen Teilen der Welt (auch Europa) vor allem den Alten zu schaffen machen ...

  • Danke. Sehr wichtiger Beitrag!



    Menschen, die unter der Unfähigkeit der kollektiven und persönlichen Selbstfürsorge leiden in einem der reichsten Länder. Was stimmt da nicht?

  • Ist Daniel Dettling immer noch neoliberal?



    Wo bleiben die großen Kostentreiber Pharmalobby und Private Krankenversicherungen in der Aufzählung?

  • Im Supermarkt drängeln sich die Menschen an der Fleischtheke. In den Einkaufswagen sehe ich Unmengen an Alkoholika. Bei meinen langen Spaziergängen im nahen Stadtwald sehe ich kaum andere Menschen. Viele Ältere nehmen, statt sich regelmäßig zu bewegen, Bluthochdruckmittel. Da wundert es mich nicht, dass so viele Menschen das letzte Fünftel ihres Lebens "in Morbidität" verbringen. Jeder Einzelne kann selbst sehr viel tun, um einigermaßen gesund alt zu werden. Dazu braucht es keine Ärzte.

  • Wen wundert's. Im Supermarkt gibt es viele zuckerhaltige Sachen zu kaufen, McDonalds und Co. sind überall und der gesunde, fleischlose Döner ist nicht deutsch genug.

    Ein rein auf gesundes Essen ausgerichtetes System, sprich das Verbot von McDonalds, Burger King und Co, ein Verbot von Zigaretten, sowie Limitierung von Fett, Salz und Zucker, würde dem Abhilfe schaffen. Aber wenn der Bürger durch gesunde Ernährung sparen kann, fehlt dem Staat selbstverständlich Geld. Außerdem klingt das nach Sozialismus. Der Lobbyist hilft ihm natürlich.

  • Ich sehe das ein wenig anders als der Autor: Prävention hat sehr viel mit Eigenverantwortung zu tun, mit dem eigenen Lebensstil. In Deutschland ist eine Erwartungshaltung verbreitet, dass ich mich gehen lasse, dass ich rauche, fresse, saufe, mich nicht bewege, und dass dann das Gesundheitssystem gefälligst dafür sorgen möge, dass die späteren Folgen gemildert werden.



    In anderen Ländern sichert das Gesundheitssystem nur eine Basisversorgung, und für alles, was darüber hinausgeht, zahle ich selber, sei es direkt oder über zusätzliche Leistungspakete, so dass ich neben dem eigenen Wohlbefinden einen ganz unmittelbaren Anreiz habe, gesünder zu leben. Man muss ja nur mal über die Grenze in die Schweiz schauen, um zu sehen, dass keineswegs >50 Prozent der Erwachsenen übergewichtig sein müssen...

  • Die Qualität der Ernährung ist die zentrale Stellgröße. Wer sich mal mittags im Supermarkt verirrt hat und sieht, was sich da ganze Schülergruppen aufs Band legen, dem kann nur übel werden. Von Fertignahrungsmitteln aus der Tiefkühltruhe oder andere verpackte Fertigmahlzeiten die die Einkaufswägen füllen ganz zu schweigen.



    Alles unter dem Stichwort Zeitknappheit oder wahlweise frische Lebensmittel seien teurer als abgepackte Fertigware.



    Beides könnte nicht falscher sein. Bei stundenlangem Handykonsum plus Gaming und TV sind das schale Ausreden. Dass man aus frischen Zutaten unter 3€/Person gut kochen eine Binse.



    Was also brauchts? Wie zu jedem Thema im Land: Bildung einerseits, Dummzeugs teurer machen andererseits.



    Bewegung kostet auch (fast) nix..... und schon wären Mrd eingespart bei sonstiger Prophylaxe und auch Therapien.