Gesine Schwan erwägt SPD-Parteivorsitz: Die Grande Dame will’s wissen
Gesine Schwan kann sich vorstellen, SPD-Vorsitzende zu werden. Könnte eine Intellektuelle das? Mit ihr würde vieles anders.
Gesine Schwan lacht am Telefon. Dieses heisere, von Herzen kommende Schwan-Lachen, als sei die Frage etwas absurd. Dabei ist sie mehr als berechtigt. Politik in Berlin ist brutal. Die Schnelligkeit, der Druck, die Fragen der Journalisten, die Heckenschützen in der SPD, die endlosen Sitzungen im Willy-Brandt-Haus. Warum, Frau Schwan, wollen Sie sich das antun?
Gesine Schwan, 76, stellt erst mal klar, dass sie mit der Formulierung nichts anfangen kann. Wer sich in der Demokratie engagiere, der tue sich nichts an. Sie nehme eben Missstände in der SPD wahr. „Ich fühle mich in einem solchen Fall wohler, wenn ich mich engagiere, als wenn ich zu Hause Blümchen gieße.“ Es ist so: Schwan kann sich vorstellen, SPD-Vorsitzende zu werden. Das war eine der überraschenderen Nachrichten dieser Woche. Jetzt Chefin zu werden, das ist, als übernehme frau das Steuer der Titanic, kurz nachdem der Eisberg gesichtet wurde.
Schwan war in ihrem Leben schon vieles: Wissenschaftlerin, Präsidentin der Europa-Universität in Frankfurt (Oder), Mitgründerin einer Hochschule, zweimal Präsidentschaftskandidatin. Immer aber war sie überzeugte Sozialdemokratin und öffentlich wirkende Intellektuelle. Zu ihrer Partei hielt sie gesunde Distanz. Sie stritt und litt mit, erteilte Rat, leitet seit Jahren die Grundwertekommission der SPD. Aber ein Amt strebte sie nie an. „Ich habe in der Partei, aber nicht von der Partei gelebt.“
Nun Interesse an einem der härtesten Jobs in der deutschen Politik zu signalisieren, das ist ein radikaler Schritt für eine, die sich guten Gewissens zur Ruhe setzen könnte. Es könnte ein Opfergang sein, denn die Mission scheint aussichtslos. Die SPD ist wund gerieben. Sie schleppt sich erschöpft in der Groko dahin, mit 12 bis 14 Prozent in den Umfragen und auf Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen zu, die fürchterlich ausgehen könnten.
Nein, ihr gehe es nicht um Macht
Alle ahnen, dass die Zeit der Volkspartei SPD vorbei sein könnte. Aber was kommt danach?
Die Lage ist so verzweifelt, dass die Karriere eines Vorsitzenden schnell enden kann. Wohl auch deshalb haben prominente SPDler reihenweise abgesagt. Olaf Scholz hat keine Zeit, Malu Dreyer ist zu krank, Manuela Schwesig wird in Mecklenburg-Vorpommern gebraucht, Stephan Weil hat nicht die Absicht, sich zu verändern. Schwan hat das beobachtet, es betrübte sie. Warum steigt keiner in die Bütt für die SPD, die sie großartig findet? Dass sie nun wollte, wenn Zuspruch käme, ist auch ein urdemokratisches Angebot. Es muss Auswahl geben, einen Wettstreit der Ideen. So sieht sie das. Als sie 2004 und 2009 für das Amt der Bundespräsidentin kandidierte, waren ihre Chancen auch überschaubar.
Noch vor Kurzem wäre die Idee einer SPD-Chefin Schwan als absurd abgetan worden. Sie ist nicht mehr die Jüngste und steht außerhalb des Machtbetriebs. Aber die Zeiten sind so, dass auch das Außergewöhnliche möglich wird. Weil vielleicht nur ein Bruch mit alter Logik die SPD retten könnte. Weil vielleicht die Idee, nach GabrielSchulzNahles wieder einen lang gedienten Funktionär an die Spitze zu setzen, aus der Zeit gefallen ist. Schwan wäre etwas völlig Neues, inhaltlich, habituell und intellektuell.
Schwan sagt am Telefon vieles, was nach der klassischen Deutung K.-o.-Kriterien für eine Bewerbung wäre. Nein, ihr gehe es nicht um Macht. Nein, an einer Kanzlerkandidatur habe sie kein Interesse. Sie wolle keine Karriere mehr machen, die habe sie schon gemacht.
Sie sagt: „Mein Ziel ist es, dabei zu helfen, die SPD wieder nach oben zu bringen, eine Trendwende zu erreichen.“ Ihre Analyse des Jetzt-Zustandes ist nüchtern und präzise. „Meiner Partei ist die Vision abhandengekommen, wie eine bessere Zukunft aussehen könnte.“ Die Menschen wollten ja nicht resignieren, sie wollten Teil von etwas sein. „Die SPD muss ihre Begeisterungsfähigkeit neu entdecken.“ Weg vom Spiegelstrich-Image, dafür mehr Emotion und Lust auf Veränderung.
„Wir helfen anderen“
Schwan spricht eine warmherzige Sprache, die bei vielen ankommt. Sie ist belesener als ihre Parteifreunde, denkt in historischen Zusammenhängen, besitzt aber ein feines Gespür für Alltagssorgen. Kurz bevor die SPD ihr Konzept einer neuen Grundsicherung präsentierte, redete Schwan in der taz Tacheles. Die Idee, dass Menschen faule Säcke seien, passe zu autoritären Regimen. Sie verursache Kränkungen und gravierende Vertrauensverluste. Die SPD stehe normativ und ideengeschichtlich für etwas anderes: „Wir helfen anderen, wenn sie in tiefes Wasser geraten.“
So klare Worte hatte selten eine Sozialdemokratin zu Hartz IV gefunden. Danach hörte ich von mehreren LeserInnen und FreundInnen denselben Satz: Wenn Schwan Chefin wäre, würde ich die SPD wieder wählen. Das ist selbstverständlich nicht repräsentativ, eine subjektive Beobachtung. Aber die These, dass es bei enttäuschten SPD-WählerInnen eine Sehnsucht nach solchen Botschaften gibt, die ist nicht abwegig.
Gesine Schwan glaubt von sich selbst, neues Vertrauen schaffen zu können. Sie werde eigentlich bei jeder S-Bahn-Fahrt angesprochen, erzählt sie. Die Menschen sagten ihr, dass sie etwas Ermutigendes hätte. Warum das so sei? Vielleicht weil sie eine Analyse und ein Ziel formuliere, eine Idee, wie es besser sein könne. „Das ist womöglich ansteckend.“
Allerdings würde sich erst in der Realität zeigen, ob Schwan all dies einlösen könnte. Die öffentliche Intellektuelle mag frei von der Leber weg reden und utopistischen Überschuss verströmen. Als Vorsitzende wäre sie den Zwängen des Apparats ausgesetzt. Den Kompromissen, den Eifersüchteleien, der der SPD innewohnenden Vorsicht.
Schwan ist nicht die einzige Interessentin
In der SPD werden gerade leidenschaftlich Doppelspitzen diskutiert. Der Vorstand hat am Montag das Verfahren festgelegt: Interessierte EinzelkandidatInnen oder Zweierteams können sich bis zum 1. September melden. Alle BewerberInnen touren dann durch die Republik, um sich auf Regionalkonferenzen der Basis vorzustellen. Am Ende entscheiden die 440.000 SPD-Mitglieder. Für die SPD ist das ein großer Schritt, alle wissen, dass sich etwas ändern muss.
Schwan ist nicht die einzige Interessentin. Franziska Giffey, die als Familienministerin im Kabinett eine gute Figur macht, signalisiert Bereitschaft. Stephan Weil, der mächtige Niedersachse, würde sich wohl noch bitten lassen. Beide als Duo wären ein professionelles Angebot, aber eben auch ein „Weiter so“. Schwan aber, womöglich sogar in der Kombination mit dem Juso-Chef Kevin Kühnert, das wäre etwas radikal anderes. Ein Vorteil kann sein, dass Gesine Schwan nicht in Schubladen passt. Früher war sie viel bei den Seeheimern, weil sie Antikommunistin ist. Jüngeren in der Sozialdemokratie gilt sie als echte Linke.
Würde Schwan Chefin, würde vieles anders. Sie wirbt unverdrossen für Rot-Rot-Grün – und positionierte sich immer wieder gegen allzu pragmatisches Regieren. In der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 warnte sie vor „sozialen Unruhen“. Falls der Eindruck entstünde, dass die Verursacher keinen angemessenen Beitrag zur Behebung leisten müssten, „könnte sich ein massives Gefühl der Ungerechtigkeit breit machen“. Sie kritisierte während der Griechenland-Krise scharf den Sparkurs der Bundesregierung, den ihre SPD mittrug.
Das dänische Modell, also rigide Flüchtlings- und linke Sozialpolitik fürs eigene Volk, wäre mit Schwan nicht zu machen. Hat eine kosmopolitische Elite die Interessen lokal verankerter, weißer Arbeiter vernachlässigt?
Das Schielen auf einzelne Milieus nervt
Schwan atmet heftig aus. „Diese These halte ich für dummes Zeug“, sagt sie. Die SPD dürfe nicht die Liberalisierungsschübe zurückdrehen, die in den vergangenen Jahrzehnten mühsam erkämpft worden seien. „Es gibt auch homosexuelle Arbeiter, die in einer offenen Gesellschaft leben wollen.“
Sowieso geht ihr das Schielen auf einzelne Milieus auf die Nerven. Willy Brandt habe mit einer gemeinsamen Linie integriert. „Die SPD muss über die Grenzen unseres Landes hinaus für eine bessere Welt sorgen – und ganz im Sinne Willy Brandts die globale Dimension in den Blick nehmen.“
Schwan klingt gut gelaunt, fast fröhlich. Die Grande Dame der SPD will es gerade wissen. Eine wichtige Frage ist, ob die SPD zu so viel Veränderung bereit ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles