Gerichtsurteil im Mordfall Víctor Jara: Gerechtigkeit nach 50 Jahren
Mit Beginn der Militärdiktatur in Chile 1973 wurde der kommunistische Sänger ermordet. Endlich werden die Urteile gegen seine Mörder rechtskräftig.
Damit sind die Haftstrafen von 25 Jahren wegen Entführung und Mordes gegen sechs Militärangehörige in letzter Instanz rechtskräftig. Ein weiterer Ex-Militär war zu acht Jahren Haft verurteilt worden. Auch dieses Urteil wurde bestätigt. Die Verurteilten sind zwischen 73 und 85 Jahre alt und befanden sich bisher auf freiem Fuß. Einer hatte sich am Dienstag das Leben genommen, um der Inhaftierung zu entgehen.
Der kommunistische Sänger und Gitarrist Víctor Jara war am 12. September 1973 verschleppt und mit Tausenden von Mitgefangenen im Sportstadion Estadio Chile in Santiago eingesperrt worden. Der damals 41-Jährige wurde gefoltert, seine Hände verstümmelt, vier Tage später wurde er ermordet. Einem Gutachten österreichischer Gerichtsmediziner zufolge wurden dabei mehr als vierzig Schüsse auf ihn abgegeben. Víctor Jara gilt bis heute als einer der wichtigsten politischen Sänger Lateinamerikas. Im Jahr 2003 wurde das Stadion in Santiago ihm zu Ehren in Estadio Víctor Jara umbenannt.
Militär spielte russisches Roulette
„Als er das Gelände betrat, mit den Händen hinter dem Kopf wie die anderen Gefangenen, war Jara von einem der Offiziere erkannt worden“, erinnert sich Boris Navia, ein Überlebender der Gefangenen im Stadion. „‚Bringt diesen Hurensohn hierher‘, schrie der Offizier und schlug ihn. Immer und immer wieder. Auf den Körper, auf den Kopf, mit wütenden Tritten. Er hat ihm fast ein Auge ausgeschlagen. Nie werde ich das Geräusch des Stiefels gegen seine Rippen vergessen. Víctor hat gelächelt“, erzählt Navia weiter. „Dann begannen die Militärs, russisches Roulette zu spielen, setzten ihm eine Pistole an die Schläfe und überließen jeden Versuch dem Zufall, bis sich eine der Kugeln entlud und Víctor Jara tötete. Später gaben sie weitere 43 Schüsse auf ihn ab“, so Navia.
Am 16. September fanden zwei Anwohnerinnen in der Nähe des städtischen Friedhofs von Santiago sechs Leichen. Sie wurden zur Gerichtsmedizin verbracht, wo einer der Beamten den Sänger identifizierte und seine Frau Joan Jara informierte. Joan Jara gelang es, die Leiche auf dem Allgemeinen Friedhof von Santiago anonym zu beerdigen, um sie vor dem Zugriff des Militärs zu schützen. Danach ging sie mit ihren zwei Töchtern ins Exil nach Großbritannien.
Ende eines langen Rechtsstreits
Mit der höchstrichterlichen Entscheidung ist der Rechtsstreit um die Umstände und die Verantwortung für Jaras gewaltsamen Tod zu Ende. Die chilenische Justiz hatte erst im Dezember 2012 gegen sieben ehemalige Militärs Haftbefehle und Anklage wegen Mordes und Beihilfe zum Mord erlassen. 2018 wurden sie zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, die 2021 von einem Berufungsgericht bestätigt wurden. Im Juli hatte schließlich der Oberste Gerichtshof mit der Revision der Urteile begonnen, nachdem die Angeklagten weiterhin eine Verantwortung für den Mord bestritten und erneut Berufung eingelegt hatten.
„Die Tatsache, dass 50 Jahre vergangen sind, hat zwei Seiten: die saure Seite, die besagt, ‚wie konnte so viel Zeit vergehen‘, und die süße Seite, die besagt, ‚wie gut, dass es Gerechtigkeit für Verbrechen gibt, von denen man einst dachte, sie würden nie aufgeklärt und gesühnt werden‘“, kommentierte der Anwalt der Familie von Victor Jara, Nelson Caucoto, die Entscheidung. „Endlich haben wir eine Justiz, die sich die internationalen Menschenrechtsnormen zu Eigen gemacht und ein modernes und fortschrittliches Urteil gefällt hat“, fügte er hinzu.
Die nun endgültige Urteilsbestätigung kommt nur drei Wochen vor dem 50. Jahrestag des Putsches. Am 11. September 1973 hatte das Militär den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende gewaltsam aus dem Amt geputscht und den damaligen militärischen Oberbefehlshaber Augusto Pinochet an die Spitze einer Junta gesetzt. Erst 1990 kehrte Chile zur parlamentarischen Demokratie zurück.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“