Gefühlte Unsicherheit: Unsere Angst ist ihre Macht
Der Amoklauf in München hat vor allem eines gezeigt: Was wir inzwischen bereit sind, uns vorzustellen. Das sollte uns beunruhigen.
Am Freitagabend hat ein Amoklauf in einem Münchner Einkaufszentrum möglicherweise ganz Deutschland, sicherlich aber ganz München in Atem gehalten. Nach dem, was wir inzwischen über den Vorfall wissen, kann man sagen: Gemessen am Hergang der Tat hat die Polizei, haben die Behörden, haben die Medien überreagiert.
Und doch: Der Münchner Polizei nachträglich einen Vorwurf für ihren völlig überdimensionierten Einsatz zu machen, fällt schwer. Denn die Situation nach den Schüssen war unüberschaubar: Minütlich gingen mehrere Notrufe ein. In den ersten sechs Stunden nach der Tat waren es laut Polizeipräsident Hubertus Andrä 4.310. Von bis zu drei Tätern mit „Langwaffen“ war die Rede sowie von anderen Tatorten in der wegen mehrerer Großveranstaltungen gut besuchten Innenstadt: wahlweise Marienplatz, Hofbräuhaus, Stachus, Isartor, Odeonsplatz. Wie es zu diesen Falschmeldungen kam, ist ungeklärt.
Wahrscheinlich hat es einfach irgendwo an diesen Orten geknallt – ein kaputter Auspuff, eine Autotür, etwas fällt herunter. EineR ruft „Schüsse“ und beginnt zu rennen. Wer von uns würde sich da nicht sofort anschließen? Aufgescheucht sind ohnehin alle, die Nachrichten von besorgten Freunden auf ihren Smartphones und die Postings in sozialen Netzwerken lesen. Da entscheidet nicht mehr die Ratio.
Wenn das für Irre nicht verlockend ist – was dann?
Was hätte die Polizei tun sollen? Die Informationen nicht ernst zu nehmen, um eine Panik zu vermeiden, war keine Option. Auch ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Schnelligkeit und die Radikalität, mit der die Sicherheitskräfte gehandelt haben, beruhigen. Denn nun wissen wir: Sollte es je zu einem terroristischen Anschlag von Pariser Dimension kommen, sind „wir“ definitiv gewappnet, um die TäterInnen an der Flucht zu hindern – auch wenn dahingestellt ist, ob diese gute Koordination und so viel Entschlossenheit auch in Berlin zu erwarten wären.
Und doch werden gerade dieser monströs übertriebene Einsatz – eine ganze Stadt mit knapp 1,5 Millionen EinwohnerInnen lahmgelegt, das SEK unterwegs und die Bundeswehr bereit zum Einsatz – und die Panik, die die Münchener Bevölkerung am Freitag ergriffen hat, zum Problem. Denn sie folgen sowohl der Logik des Terrors als auch dem Aufmerksamkeitsbedürfnis des Amokläufers.
JedeR AnhängerIn oder SympathisantIn des IS kann sich nun sicher sein: Die Aufmerksamkeit der (westlichen) Weltöffentlichkeit ist ihm gewiss. JedeR Jugendliche, der Amokläufer wie Anders Breivik oder die Schüler von Columbine heroisiert und glaubt, sich durch eine ähnliche Tat Bedeutung verschaffen zu können, weiß nun: Es würde ihm gelingen, eine ganze Stadt in Angst und Schrecken zu versetzen, einen Ausnahmezustand hervorzurufen und die Sicherheitskräfte des gesamten Landes in Bewegung zu setzen. Wenn das für Irre nicht verlockend ist – ob nun politisch motiviert oder nicht –, was dann?
Problem „Werther-Effekt“
Die Ereignisse in München haben gezeigt, was wir mittlerweile bereit sind, uns vorzustellen. Was wir für möglich, für plausibel halten. Fast scheint es, als warteten wir nur darauf – wir, das sind die BürgerInnen, aber auch die Sicherheitskräfte –, dass in Deutschland ein großer terroristischer Anschlag geschieht.
Dass auch bei uns Realität wird, was in Frankreich längst zum Alltag gehört: dass man sich nirgendwo – an keinem Ort und vor niemandem – mehr sicher fühlt, weil man erwartet, dass es aus dem Nichts zu Angriffen kommen kann.
Das sollte uns Sorgen bereiten. Auswertungen zeigen, dass fast die Hälfte aller Amokläufe innerhalb von zehn Tagen nach einer ausführlichen Berichterstattung über einen anderen Amoklauf geschehen. Ist dieser „Werther-Effekt“ mit Grund für die hohe Schlagzahl an Schreckensereignissen, die wir erleben? Möglich ist das auf jeden Fall.
Was also ist zu tun? Die bedrückende Wahrheit ist: Eine befriedigende Lösung gibt es nicht. Sicher ist nur: Unsere Angst ist ihre Macht – und beides wächst derzeit ins Unermessliche.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren