„Freiheit“ von Angela Merkel: Die Macht hatte ihren Preis
In ihren Memoiren thematisiert die ehemalige Kanzlerin ihre ostdeutsche und weibliche Identität. Wer sich einen Blick hinter die Kulissen wünscht, wird jedoch enttäuscht.
Merkel, fachlich zuständig für Frauen, meldete sich, sah aber „an Kohls mürrischem Gesicht, dass er über meine Wortmeldung alles andere als begeistert war“. Sie ließ den Arm unverdrossen oben. Als sie spät zu Wort kam, verschlug es ihr fast die Sprache. „Mit jedem Wort wurden mein Hals und mein Nacken steifer. Als hätte mich ein Bannstrahl getroffen. Nachdem ich zu Ende gesprochen hatte, konnte ich meinen Hals nicht mehr bewegen.“ Es dauerte Monate, bis der Schmerz verschwand.
Diese Episode beleuchtet blitzlichtartig die Fremdheit der ostdeutschen Pfarrerstochter in dem westdeutsch, männlich geprägten, konservativen Milieu. Und sie ist eine Parabel über Macht und Körper. Der Paragraph 218, so wie ihn Konservative in der Union wollten, war ein Übergriff männlicher Politik auf weibliche Körper. Der Blick der männlichen Macht, voluminös verkörpert durch Helmut Kohl, ließ den Körper der Frau, die nicht dazugehörte, erstarren.
Der wundersame Aufstieg der Physikerin Angela Merkel in der westdeutschen Politik lässt sich auch als Körperinszenierung erzählen. Schon ihr Outfit war ein Politikum. Dass sie Ministerin wurde, so steht es in Merkels Memoiren, erfuhr sie von einem Minister, der ihr knapp mitteilte: „Du solltest dir was Anständiges zum Anziehen kaufen.“ Eine CSU-Politikerin hielt einen Hosenanzug mit etwas Mut für machbar. „Ein Hosenanzug als Mutprobe? So war es damals in CDU und CSU“, so Merkels lakonischer retrospektiver Kommentar.
Angela Merkel (mit Beate Baumann): „Freiheit. Erinnerungen 1954 bis 2021. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 736 Seiten, 42 Euro
Eine Szene erhellt ihre Strategie, sich in dieser giftigen Umgebung in den 90er Jahren zu behaupten. Bei einer Pressekonferenz stand sie mal neben dem FDP-Minister Günter Rexrodt. Die Fragen richteten sich mal an ihn, mal an sie. Bis Rexrodt, ein Kopf größer, tiefe Stimme, sich einfach hinter sie platzierte und alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Merkel wurde, so beschreibt sie es, stumm gestellt. „Von da an achtete ich darauf, dass ich bei Pressekonferenzen immer mit größerem Abstand neben anderen Teilnehmern stehen konnte und Mikrofone jeweils entsprechend weit entfernt aufgestellt wurden.“
Merkels Waffe war die genaue Beobachtung ihrer Umgebung, die gespannte Empfindsamkeit einer, die mit den Ritualen unvertraut ist. Weil sie von außen kam, sah sie die Selbstverständlichkeiten westdeutscher Politik klarer und analytischer als die Inhaber der Macht. Sie ging wie eine Judoka vor, die ihre Konkurrenz präzise studierte. Deshalb konnte sie den „Andenpakt“, die strotzend selbstbewusste Riege bundesdeutscher CDU-Machtmänner, auf die Matte befördern. Die sind bis heute über ihre Niederlage verblüfft. Die Strategie war, tougher als die anderen zu sein. „Never explain, never complain“, so die Devise. Sie wurde die kühl kalkulierende Politikerin, die ihre Gefühle besser im Griff hatte als die anderen. Die Macht hatte einen Preis: Merkel wurde als ostdeutsche Frau unsichtbar.
Die Erinnerungen von Angela Merkel, Titel „Freiheit“, gut 700 Seiten lang, sind auch der Versuch, dieses Verschwundene, das Ostdeutsche und Weibliche, wieder sichtbar zu machen. Es findet sich darin ein spätes Bekenntnis zum Feminismus (das ihrer Karriere in den 90er erheblich geschadet hätte). Und sie kritisiert, für ihre Verhältnisse scharf, dass eine hochnäsige westdeutsche Öffentlichkeit ihr Leben in der DDR auch nach 16 Jahren als Kanzlerin nur als Defizit verbucht.
„Freiheit“ ist ein seltsames Buch, mal witzig und lebensklug, dann hölzern, formal, steif bis zur Atemnot. Es besteht aus drei stilistisch disparaten Teilen: dem vital erzählten Leben in der DDR, dem halbwegs reflexiv erzählten Aufstieg bis 2005 und den 16 Jahren als Kanzlerin. Ihre Jugend skizziert sie als Versuch, sich von dem bösartigen, lächerlichen Regime nicht verhärten zu lassen. Das wird anekdotenreich erzählt und ist frei von retrospektivem Heldentum. Merkel lernte in der DDR, sich als Außenseiterin mit der Macht zu arrangieren, Machtverhältnisse nicht zu bejammern, sondern realistisch zu sehen, ohne sich ihnen unterzuordnen.
Diese Fähigkeit war nach 1990 hilfreich. Ihr Aufstieg zur CDU-Chefin und Kanzlerin erscheint Merkel selbst als eine Art Wunder. In dem Maße, in dem das Staunen über ihre Karriere verdampft, wirkt der Text gestanzt und formelhaft. Und nach 2005 zu einer auf 400 Seiten ausgebreiteten farbarmen Kette von Krisen, Gipfeln, Staatsbesuchen, berichtet meist in rappeltrockener Sachbearbeiterprosa.
Das ist ein Defekt des Genres. Das Publikum erwartet von Erinnerungen von PolitikerInnen einen Blick hinter die Kulissen der Macht und Selbstkritik. Beides wird zuverlässig enttäuscht. Gerhard Schröder hat sich nicht für die Agenda 2010 entschuldigt, Helmut Kohl nicht für die schwarzen Konten der CDU, Joschka Fischer keinen klugen Gedanken über den Einsatz in Afghanistan gefasst. Auch bei Merkel gibt es keine neue Perspektive auf die Eurokrise und ihr verstocktes Nein zu Eurobonds. De facto hat Merkel Draghi und die EZB gezwungen, mit „Whatever it takes“ die Implosion des Euros zu verhindern. Im Resultat hat das die EU entdemokratisiert. Auch beim verschleppten Ausbau der erneuerbaren Energien macht sich Merkel einen schlanken Fuß.
Beim möglichen Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens 2008, bei der AKW-Laufzeitverlängerung und dem hastigen Atomausstieg 2011, bei der Russlandpolitik, den Gaslieferungen und Nordstream, bei der Migrationspolitik 2015 – nirgends finden sich neue Blickwinkel. Die Kanzlerin hat, so steht es in „Freiheit“, im Rahmen des Möglichen immer das Richtige getan. Das mag man unbefriedigend finden. Überraschend ist es nicht. Die eiserne Rechtfertigung ist ein fester Bestandteil des Genres PolitikerInnen-Memoiren.
Das wird Merkel, bei Russland und Migration, vor allem von Konservativen wahrscheinlich nochmal polternde Kritik eintragen. Aber die Forderung, dass PolitikerInnen gefälligst selbstkritisch zu sein haben, hat etwas Selbstgefälliges, Wohlfeiles. Man delegiert vermeintliches Versagen auf eine Person. KanzlerInnen sind aber in dem föderalen bundesdeutschen System schwächer, als sie scheinen: eher Kompromissmaschinen als Machthaber.
Für das Gas aus Russland waren die SPD, die Gewerkschaft, die Mehrheit der WählerInnen, die Unternehmerverbände und die Union. Und Merkel. Nur die Grünen waren immer grundsätzlich skeptisch gegenüber der Abhängigkeit von russischen Importen. Der Wunsch, dass PolitikerInnen sich entschuldigen sollen, ist nur bedingt aufklärerisch. Er erinnert nicht zufällig an Rituale der Beichte und stellt unpolitische Selbstreinigung in Aussicht.
Merkels Erfolgsrezept war es, frei von bundesdeutschen liberalen, konservativen oder linken Traditionen, das Postideologische zu verkörpern. Sie bediente perfekt die deutsche Sehnsucht nach Politik ohne Kontroversen. Wo Merkel war, war die Mitte. Das erfüllte die Wünsche einer entpolitisierten Gesellschaft, die nicht mit Ideen behelligt werden wollte. Bis zum Flüchtlingsherbst 2015, den die Ex-Kanzlerin in „Freiheit“ als Drehpunkt beschreibt.
Putin als Klischee
Als Merkel die Grenzen offen ließ, scherte sie zum ersten Mal aus dem Mainstream aus und streifte die Rolle ab, den Wählerinnen Zumutungen zu ersparen. Die Kanzlerin der Mitte stellte Humanität über politische Kalküle. Kein Wunder, dass dieser abrupte Imagewechsel jene politischen Leidenschaften weckte, deren Befriedung Merkel doch zu garantieren schien.
Enttäuschend ist Merkels Beschreibung der Kanzlerschaft nicht, weil es an Bußfertigkeit oder funkelnden neuen Einsichten mangelt. Sondern, weil Macht schlechten Stil macht. Alle Lockerheit verschwindet in einer weitgehend leblosen Aufzählung von Ereignissen, Krisen, Akteuren. Niemand in der deutschen Politik kennt Putin so gut wie Merkel. Aber auch die Schilderungen von Putin bleiben vage, flach, klischeehaft.
Wie bei den Erinnerungen von Kohl, Schröder, Fischer fragt man sich, warum das Höhenplateau der Macht eigentlich so öde aussieht. Liegt es an uns? Sind unsere von Shakespeare geprägten Vorstellungen von Intrigen, Kämpfen, Rivalitäten dumme Kinderträume? Oder verbergen die KanzlerInnen die Geheimnisse in einer Funktionärssprache, die wie eine Gerölllawine alles Lebendige verrätselt? Weil den Mächtigen der Zwang, bloß keine Angriffsflächen zu bieten, automatisch zur zweiten Natur wird?
Vielleicht alles zusammen. Die Rituale technokratischer Politik scheinen ein stählernes Korsett zu bilden, dem auch Merkel, die mehr als viele Männer über die Fähigkeit der Selbstdistanz verfügt, nicht entkommt. Im Subtext beschreibt „Freiheit“ auch eine Versteifung, eine Art Verstaatlichung einer lebendigen Person zu einer Figur, aus der fast alle Spontaneität und Lust zu erzählen entweicht. Auch das ist ein Preis der Macht.
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