Franziska Giffey über den Eierwurf: „Durch nichts zu rechtfertigen“
Seit fünf Monaten ist Franziska Giffey Regierende Bürgermeisterin von Berlin. Ein Gespräch über „Deutsche Wohnen enteignen“ – und gewalttätigen Protest.
taz: Frau Giffey, es kommt in Deutschland zum Glück sehr selten vor, dass Politiker*innen körperlich angegriffen werden. Sie wurden bei Ihrem Auftritt auf der DGB-Demo am 1. Mai niedergebrüllt und mit zwei Eiern beworfen. Was haben Sie in dem Moment gedacht?
Franziska Giffey: Ich habe ja schon, als der Demonstrationszug an der Bühne ankam, damit gerechnet, dass auf dieser Veranstaltung irgendetwas passiert.
Warum?
Na, Sie spüren doch in so einer Situation die Aggression.
Waren Sie nicht erschrocken: Man weiß ja nicht, ob es „bloß“ ein Ei ist, wenn da was geflogen kommt?
Ja, es hätte auch ein Stein sein können … Ich war aber eigentlich schon vorher entsetzt darüber, dass es kaum möglich war, eine Rede zu halten, weil in den ersten Reihen so geschrien wurde.
Betrachten Sie das als Einzelfall?
Als Politikerin erlebe ich bisweilen einen Umgang, der nicht mehr unter den demokratischen Grundkonsens fällt, nach dem jeder seine Meinung offen vertreten kann, aber noch ein Austausch und gegenseitiges Zuhören möglich ist. Dazu gehört auch dieses Niederbrüllen: Gerade am Brandenburger Tor mit seiner Geschichte muss es doch möglich sein, sich respektvoll zu begegnen – und als Gast einer Veranstaltung eine Rede halten zu können.
Ist das eine grundsätzliche Entwicklung in der Demokratie: Es wird lauter, es wird offensiver?
Manche glauben, dass sie gewisse gewalttätige Aktionen nach dem Motto rechtfertigen können, der Zweck heilige die Mittel: „Unsere Gewalt ist in Ordnung, denn es ist doch gute Gewalt.“ Aber solche Aktionen sind durch nichts zu rechtfertigen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass der Rahmen, in dem wir uns bewegen, nicht mehr klar ist.
Die Regierende Bürgermeisterin
Giffey führt in Berlin seit Dezember eine Dreierkoalition aus SPD, Grünen und Linken. Zuvor war die heute 44-jährige Bezirksbürgermeisterin in Berlin-Neukölln und dann Bundesfamilienministerin. Sie trat im Mai 2021 von dem Amt zurück, nachdem bekannt wurde, dass die Freie Universität Berlin ihr den Doktortitel aberkennen würde.
Davor hat sie Angst
Die zunehmende Aggressivität, Kompromisslosigkeit und Verrohung der Sprache bei manchen Menschen.
Das gibt ihr Hoffnung:
Die großartige Solidarität und Hilfsbereitschaft der Berlinerinnen und Berliner.
Die Gruppe, aus der am 1. Mai viel lauter Protest kam, bestand vor allem aus Unterstützer*innen der Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen. Gibt Ihnen das zu denken?
Das impliziert ja, dass ich noch nie bemerkt hätte, dass andere Menschen in der Frage der Enteignung von großen Wohnungsbeständen anderer Meinung sind als ich. Ich verstehe das Anliegen der Initiative, und die Bezahlbarkeit von Wohnraum ist eines der wichtigsten Themen in der Stadt. Aber die Aggressivität, mit der hier ein Instrument – das der Enteignung – vertreten wird, finde ich nicht in Ordnung. Ich kann auch nicht nachvollziehen, wenn dem Senat vorgeworfen wird, dass wir den Volksentscheid missachten würden. Im Gegenteil: Wir nehmen ihn sehr ernst. Wir haben die Expertenkommission in den ersten hundert Tagen einberufen, die die Verfassungskonformität, Rechtmäßigkeit und die finanziellen Folgen prüft und danach eine Empfehlung an den Senat abgibt.
Die unterschiedlichen Haltungen zum Volksentscheid gibt es ja auch innerhalb der Koalition. Letztlich muss der Senat entscheiden, ob es ein Enteignungsgesetz geben soll. Wird das die zentrale Bewährungsprobe für Rot-Grün-Rot?
Wir haben in dieser Koalition einen gemeinsamen Weg gefunden: Das Verfahren mit der Expertenkommission ist fest verabredet. Das haben alle Koalitionspartner zugesagt. Auch Klaus Lederer …
… der Vizeregierungschef von der Linkspartei, die sich massiv für ein Enteignungsgesetz starkmacht …
… hat kein Interesse, mit einer rechtlichen Regelung, die nicht trägt, vor dem Bundesverfassungsgericht zu scheitern.
Nun hat auch der grüne Fraktionschef Werner Graf erklärt, es gehe nur noch um das Wie und nicht mehr um das Ob einer Enteignung. Die Grünen waren ja bisher eher zurückhaltend …
Mich hat das auch überrascht. Bettina Jarasch [die Vize-Regierungschefin der Grünen; d. Red.] hat sich bisher anders geäußert. Offensichtlich gibt es bei den Grünen ein großes Meinungsspektrum zu diesem Thema.
Darum fragen wir uns ja: Wie soll die Koalition in diesem Punkt zusammenkommen?
Man muss unterscheiden zwischen dem Anliegen und dem Umgang mit dem Volksentscheid. Das Anliegen ist bezahlbarer Wohnraum, und da kann ich Ihnen versichern: Das ist eines der Schwerpunktthemen der ganzen Koalition. Wir haben ja sogar in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung eine eigene Staatssekretärin, die für das Thema Mieterschutz eingesetzt wurde und auch für die Frage, wie wir die Wohnsituation verbessern können – zum Beispiel auch durch unsere Initiative für das gemeindliche Vorkaufsrecht, die wir im Bundesrat mit Hamburg eingebracht haben.
Wie groß ist denn Ihr Rückhalt in der SPD in dieser Frage noch? Auch die Berliner Jusos haben sich gerade für Enteignungen ausgesprochen.
Die SPD hat sich im Wahlkampf klar positioniert. Dem Koalitionsvertrag wurde mit über 90 Prozent der Delegierten des SPD-Landesparteitages zugestimmt.
Da stehen viele Sachen drin – als Gradmesser für Ihren Rückhalt explizit bei der Enteignungsfrage dient das nicht.
Es gibt doch einen eindeutigen Prozess: Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Expertenkommission wurde eingesetzt, und nachdem die Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen ihre drei Experten benannt hat, hat sie Ende April ihre Arbeit aufgenommen. Nun müssen wir der Kommission doch auch mal die Gelegenheit zum Arbeiten geben.
Die große Herausforderung für den Senat sind aktuell die Folgen des Krieges in der Ukraine. Derzeit wird intensiv über die Kehrtwende des Kanzlers, ihres Parteigenossen Olaf Scholz, in Sachen Lieferung von schweren Waffen diskutiert. Können Sie das nachvollziehen?
(überlegt) Wir hier in Berlin müssen uns ja vor allem mit den Folgen des Krieges beschäftigen. Wir tun, was wir können, um humanitäre Hilfen zu leisten, um Spenden zu organisieren und die Menschen, die in die Stadt kommen, aufzunehmen.
Das beantwortet nicht die Frage.
Ich bin mir sicher, dass sich niemand in der Bundesregierung diesen Schritt leicht gemacht hat und dass das sehr gut abgewogen wurde. Ich unterstütze den Kurs der Bundesregierung, alles, was möglich ist, zu tun, um der Ukraine in dieser Lage zu helfen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Scholz hat auch betont, das Ziel sei, dass sich der Krieg nicht ausweitet, also zum Beispiel nicht noch mehr Menschen aus der Ukraine fliehen müssen. Womit wir wieder bei Berlin wären – der Stadt, in der die meisten Geflüchteten erst mal ankommen. Wo stehen wir derzeit, was die Flucht angeht: Ist der Höhepunkt schon überwunden?
Eine gute Frage, die wir aktuell nicht seriös beantworten können.
Was sagen denn die Zahlen?
Demzufolge war der bisherige Höhepunkt bereits in den ersten Wochen, als bis zu 10.000 Menschen täglich allein in Berlin ankamen. Das war für uns eine große Herausforderung – einfach, weil die Strukturen für die Aufnahme, etwa das Ankunftszentrum im ehemaligen Flughafen Tegel – noch nicht aufgebaut waren. Jetzt hat sich das eingespielt, die Abläufe funktionieren gut, wir haben genügend Schlafplätze auch für die temporäre Unterbringung, und wir brauchen nicht mehr die große Messehalle. Und wir haben zu keinem Zeitpunkt Menschen in den Turnhallen untergebracht. Wir können allein über Tegel bis zu 10.000 Menschen am Tag versorgen.
Wie viele kommen derzeit?
Etwa 2.500 bis 3.000 täglich – wobei wir nicht alle versorgen und unterbringen müssen, weil einige in andere Städte weiterreisen. Die neue Herausforderung sind jetzt jene, die schon länger in Berlin untergebracht sind. Offiziell registriert sind rund 55.000, ich denke aber, es sind eher doppelt so viele in der Stadt: Sie suchen Arbeit, Sprachkurse, Kita- und Schulplätze für die Kinder. Für die Menschen stellt sich nach dem ersten Ankommen die Frage: Wie geht es jetzt weiter mit meinem Leben?
Sollen sie sich darauf einrichten, hierzubleiben? Oder sollen sie sich daran orientieren, möglichst bald wieder zurückzukönnen? Was würden Sie raten?
Wir wissen, dass sich sehr viele Menschen wünschen, schnell nach Hause zurückzukehren. Ob das möglich sein wird, ist aber fraglich. Deswegen ist jeder Tag, der hier mit Integration verbracht wird, ein guter Tag. Es gibt ja Menschen, die argumentieren: „Die Kinder sollen nicht sofort in die Schule gehen, weil sie schnell zurückkehren.“ Ich bin da anderer Meinung: Selbst wenn die Kinder in ein paar Monaten zurückgehen, lohnt sich jeder einzelne Tag Kita, Schule, das Kennenlernen anderer Kinder, das Deutschlernen und ein geregelter Tagesablauf. Wir sollten von Anfang an auf Integration setzen.
Das ist eine klare Ansage.
Wir haben jetzt die Chance, die Fehler, die in der Vergangenheit beim Umgang mit Geflüchteten gemacht wurden, zu vermeiden: Sie brauchen Berufsorientierung, ein Recht auf Arbeit, Sprachkurse, Kita und Schule.
Dass Menschen, die in Not sind und nach Deutschland fliehen, so herzlich empfangen werden, sofort arbeiten dürfen, integriert werden sollen – das hätte man sich schon früher und für Geflüchtete auch aus anderen Ländern gewünscht. Wäre die aktuelle Situation nicht die Chance für einen generellen Wandel im Umgang mit Geflüchteten?
Ich finde es absolut richtig, dass jeder, der hier lebt, auch arbeiten und eine Ausbildung und ein Studium aufnehmen darf. Das habe ich schon als Neuköllner Bezirksbürgermeisterin gesagt: Dass Menschen nicht arbeiten dürfen, ist einer der Gründe für viele Probleme bei der Integration. Wer nicht arbeitet, keine Ausbildung machen kann, hat nun mal weniger Chancen. Das ist nicht gut.
Was ist Ihr Ziel?
Wir müssen die Asyl- und auch die Einbürgerungsverfahren beschleunigen. Und wir müssen uns für die Geflüchteten, die nicht aus der Ukraine kommen, die auch eine Wohnung brauchen und sich auch um Integration bemühen, auch einsetzen und auch für sie Integration, Ausbildung und Arbeit fördern.
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