Flüchtlingspolitik als Abschreckung: Ausgelagert nach Albanien
Italien will Asylverfahren nach Albanien auslagern. Andere Staaten wollen folgen. Sieht so wirklich die Zukunft der EU-Flüchtlingspolitik aus?
Die Felsen vor Gjadër ragen aus der sattgrünen Küstenebene empor. Tiefe Kavernen hat das Militär einst hier, ganz im Norden von Albaniens Adriaküste, in den Berg getrieben. Kampfjets waren darin stationiert, die einen möglichen Angriff Jugoslawiens abwehren sollten. 2000 gab die Armee den Flughafen auf, an den Runways entstanden Wohnhäuser.
Doch viele stehen heute überwuchert in der Landschaft: Erst ging das Militär fort, dann die Menschen. Nur das Dröhnen der Bagger, die Steine als Baumaterial aus den Felsen schlagen, unterbricht jetzt die Stille. „Eigentlich sind nur noch die Alten hier“, sagt Roger, ein Politikstudent aus Gjadër.
Er trägt ein weites Shirt, weite Hosen, die Haare rasiert, die Brille ist golden. Er ist hier geboren, studiert heute in Tirana, aber er will seine Heimat nicht aufgeben. Wann immer er kann, fährt er die zwei Stunden im Auto her, verbringt seine freien Tage bei den Eltern. „4.000 Menschen haben hier mal gewohnt, nicht mal 1.000 sind noch übrig“, sagt Roger. Vielleicht will er selber auch woanders hin, sagt er.
Aber vielleicht ändert sich jetzt auch alles in Gjadër, denn nun sollen wieder Menschen hierher kommen, Tausende sogar. Und Jobs. Die Welt interessiert sich plötzlich für die kleine Stadt und Roger führt gern herum und erzählt von den „200 MIGs“ die einst hier stationiert gewesen sein sollen. Nur seinen Nachnamen möchte er lieber nicht nennen.
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„Die Regierung hat uns nie offiziell informiert, aber im Dorf gab es schon vor einem Jahr Gerüchte“, sagt Roger. Im September dann hatten Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihr albanischer Amtskollege Edi Rama den Deal präsentiert: Italien darf im Hafen das Badeortes Shëngjin und 15 Kilometer weiter nördlich, in Gjadër, zwei Internierungslager einrichten. 3.000 Menschen sollen dort gleichzeitig in Haft gehalten werden, bis über ihre Asylanträge entschieden ist. Das macht 36.000 pro Jahr. Anerkannte sollen nach Italien ausreisen, die übrigen direkt abgeschoben werden. Es ist das erste Modell dieser Art.
„Das Monster für die Afrikaner“
Für den 20. Mai war der Start angekündigt. „Ich schaue mit Spannung darauf, was Italien gemeinsam mit Albanien macht“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Montag dem Stern. Italienische Asylverfahren in Albanien seien „ein interessantes Modell“. Aber noch ist davon wenig zu sehen. Am Tag nach dem Starttermin steht ein alter Mann in Warnweste an der Einfahrt des Militärgeländes, Lkws fahren hinein. Drinnen liegen gestapelte Platten für Container auf der Erde. Erst im November werde das Lager fertig, schreiben albanische Medien, das Gelände müsse entmint werden.
Nur wenige Kilometer sind es bis zur Grenze nach Montenegro. „Seit Langem sind Flüchtlinge hier durchgezogen,“ sagt Roger. „Man konnte sehen, wie sie nach Norden laufen.“ Er zeigt auf die Berge. Viele Menschen aus Gjadër wohnen heute in Italien oder Deutschland. „Aber der Unterschied zu den Flüchtlingen ist: Wir haben Visa“, so sieht Roger das. „3.000 sind keine Größenordnung, die Italien oder der EU wirklich helfen würde“, meint er. „Das Ganze ist eine Message an die Afrikaner: 'Kommt nicht her!’. Albanien soll das Monster für die Afrikaner sein, damit sie nicht versuchen, nach Italien oder Deutschland zu gehen.“
Seit Jahren versuchen Europas Staaten Nachbarländer zu finden, denen sie die Flüchtlinge aufhalsen können. Und schon lange hatte die EU dafür auch Albanien im Blick. 2018 wollte sie als „regionale Ausschiffungsplattformen“ Orte außerhalb der EU einrichten, an die sie Flüchtlinge vom Mittelmeer für Asylverfahren bringen könne. Brüssel klopfte dazu auch in Tirana an – ohne Erfolg: „Wir werden niemals solche EU-Flüchtlingslager akzeptieren“, sagte Rama 2018 der Bild-Zeitung. Denn es bedeute, „verzweifelte Menschen irgendwo abzuladen wie Giftmüll, den niemand will“.
Auch alle anderen Staaten lehnten ab. Umso erstaunter waren viele, als Meloni Rama nun umstimmte. Und gern ließ Rom durchblicken, dass Meloni die Sache beim Familien-Sommerurlaub in Albanien geregelt habe.
„Wir haben traditionell exzellente Beziehungen, auf vielen Ebenen“, sagt Giacomo Montemarani, ein italienischer Diplomat, dazu. Lange hatte Italien nur wenig zu dem Deal verlauten lassen. „Wir wollen völlige Transparenz“, beteuert Montemarani nun. Zwei Tage nach dem verstrichenen Eröffnungstermin sitzt er in seinem Büro in der Botschaft in Tirana und versichert, das Camp werde ein „Haus aus Glas“. Und „natürlich“ bekämen auch NGOs Zugang. Los gehe es schon bald, das Registrierungs-Zentrum in Shëngjin sei „schon fertig“, das Internierungslager in Gjadër, dessen Bau das Verteidigungsministerium leite, „in einigen Wochen“.
„Extraterritorial“ seien die Lager keineswegs, sagt Montemarani – sie stünden nur unter „italienischer Jurisdiktion“. Völkerrechtler gehen indes davon aus, dass sehr wohl auch albanisches Recht gelte und die Insassen etwa vor albanischen Gerichten gegen ihre Internierung klagen könnten.
Weder anerkannt noch abgeschoben
Die „guten Beziehungen“ hatte auch der Ministerpräsident Rama als Grund für seinen Sinneswandel genannt – und klargestellt, dass keinesfalls andere EU-Staaten ähnliche Lager aufbauen dürften. In vielen EU-Hauptstädten aber sind die Begehrlichkeiten groß. Die Ampel etwa hat 2023 den FDPler Joachim Stamp als „Migrationsbeauftragten“ ernannt. Der sucht seither erfolglos nach Ländern, in die Deutschland seine Asylverfahren auslagern kann.
Drei ganztägige Anhörungen mit mehr als einem Dutzend Experten hat das Innenministerium jüngst zur Frage abgehalten, ob das Modell für Deutschland infrage kommt. Bisher habe er „nichts Konkretes davon gehört“, dass auch andere EU-Staaten Flüchtlinge nach Albanien schicken wollen, sagt der Italiener Montemarani. „Aber natürlich gibt es allgemein ein großes Interesse“; das Ganze sei „eine ‚Out of the box‘-Lösung für ein Problem, das viele Länder betrifft“.
Meloni hatte versichert, dass keine „Minderjährigen, schwangere Frauen und andere gefährdete Personen“ nach Albanien gebracht würden. In den Verträgen mit dem Unternehmen Medihospes für den Betrieb der Lager aber ist von „Aktivitäten für Minderjährige“ die Rede. Montemarani streitet das ab. Nach Albanien kämen „keine besonders Schutzbedürftigen, keine alten Menschen, keine Kinder, keine Frauen, das war von Anfang an klar“, sagt er.
In Gjadër sollen die Verfahren maximal einen Monat dauern. Expert:innen halten es indes für ausgeschlossen, in so kurzer Zeit alles abwickeln zu können. Sicher ist, dass ein Teil der Ankommenden weder anerkannt wird noch abgeschoben werden kann. „Es ist klar, dass sie nicht länger hier bleiben können als vorgesehen. Wir werden sie nach Italien bringen“, sagt Montematani.
Viele hegen Zweifel, ob Italiens Pläne rechtens sind. Sie verstoßen „gegen europäische und internationale Normen, die die Ausschiffung im nächstgelegenen sicheren Hafen vorschreiben, sowie gegen das Recht auf internationalen Schutz und die persönliche Freiheit“, schrieb die sozialdemokratische Fraktion im EU-Parlament. Amnesty fürchtet negative Auswirkungen auf das Recht „auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. Im Januar erklärte EU-Kommissarin Ylva Johansson, sie „prüfe die Auswirkungen“ des Protokolls und werde „mit den italienischen Behörden in Kontakt bleiben“.
Ein „williges europäisches Land“
Italien hält das Modell für zulässig, solange Menschen die EU physisch noch nicht erreicht haben. Rom will deshalb ausschließlich Menschen nach Albanien bringen, die außerhalb italienischer Hoheitsgewässer aufgegriffen werden.
Allerdings: Nach welchem Recht sollen italienische Küstenwächter auf Hoher See Menschen festhalten und entscheiden, wer „vulnerabel“ ist und nach Italien darf und wer nicht?
Und: Vom zentralen Mittelmeer sind es nach Shëngjin fast 1.000 Kilometer. Die lange Reise wird die Küstenwache kaum für eine Handvoll Menschen unternehmen. Will Italien aufgegriffene Flüchtlinge so lange auf Hoher See festhalten, bis genug für einen Transport zusammengekommen sind?
Im Februar hatte das Parlament in Tirana für das Projekt gestimmt, die rechte Opposition hatte die Abstimmung boykottiert – der Deal schade der „nationalen Sicherheit, der territorialen Integrität und dem öffentlichen Interesse“. Das albanische Verfassungsgericht aber wies eine Klage ab. Die Souveränität des Landes werde durch die Asyl-Lager nicht beeinträchtigt, befand es.
Viele argwöhnen, dass Albanien den Deal gegen Cash verkauft habe. Italien streitet das ab. „Wir mieten das Gelände nicht“, sagt Montemarani. Albanien bekomme lediglich eine Kostenerstattung für die Bewachung der Camps sowie bei möglichen Krankenhausbehandlungen der Insassen. Ansonsten fließe kein Geld, versichert er.
Albanien könne sich so als „williges europäisches Land präsentieren“, sagt Montemarani. Seit 2014 ist Albanien EU-Beitrittskandidat, die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen stehen bevor. In einem Rating der sechs Beitrittskandidaten steht Albanien nur auf Platz vier. Guten Willen zu zeigen, kann da nicht schaden.
Italien weist selbstredend zurück, wegen des Flüchtlingsdeals zu Albaniens Gunsten einzugreifen. „Unsere Unterstützung für Albaniens Beitritt war schon vorher stark und bleibt das auch“, sagt der Diplomat Montemarani. „Aber bei den Beitrittsverhandlungen gibt es keine Abkürzungen.“
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