Flucht und Migration: Sie kommen trotzdem
Im Diskurs über Flucht übernehmen Konservative die Sprache und die Forderungen der Rechten. Doch Migration lässt sich nur schwer kontrollieren.
O b man nicht „das Undenkbare denken müsse“, um die Flüchtlingszahlen zu drücken, fragte ein Journalist diese Woche den einstigen Bundespräsidenten Joachim Gauck. Und Gauck, der sich als früherer Kämpfer gegen das DDR-Unrecht so gern als moralische Autorität verkauft, raunte zustimmend, die Politik müsse „neue Möglichkeiten wagen“, um dem „Kontrollverlust“ zu begegnen.
So wird geredet, wenn Konservative den Kampf mit ihrer zunehmend erfolgreichen rechtsextremen Konkurrenz in der Migrationspolitik auszutragen versuchen. Und die Konservativen ziehen dabei den Kürzeren.
2016 fand der damalige Innenminister Horst Seehofer (CSU), dass eine Nettoneuaufnahme von 200.000 Menschen pro Jahr „verkraftbar“ sei. Dann „funktioniert auch die Integration“, und die extreme Rechte bleibe klein. So bewarb er seine „Obergrenze“. In diesem Jahr werden es netto wohl einige Tausend mehr.
Ist das nicht noch halbwegs „verkraftbar“?
Scheinbar nicht. Vom „Kontrollverlust“, von Kommunen „am Limit“, „Grenzen der Leistungsfähigkeit“ ist die Rede. Und das hat nicht nur mit der Zusatzbelastung durch die Ukrainer:innen zu tun. Die extreme Rechte setzt den Ton, die Konservativen ziehen nach. Parteichef Friedrich Merz etwa, der mit der Geste eines Möchtegernstaatsmanns Kanzler Olaf Scholz anbot, dessen „Deutschlandpakt“ mitzutragen – wenn dabei als Erstes die Migration angegangen werde. Denn die sei das „größte Problem“.
Sachleistungen, Grenzkontrollen? Ändert nichts
Konservative reden so, weil sie bislang darauf bauen konnten, dass es ihnen schon zugutekomme, den bloßen Eindruck zu erwecken, irgendetwas gegen die Migration zu unternehmen. Aber diese Zeiten sind vorbei. Wer den Leuten jeden Tag erzählt, dass die Flüchtlinge ihr größtes Problem seien, nährt zweifellos den Wunsch nach durchschlagenden Lösungen, wenn die Zahlen nicht zurückgehen. Auf die Ankunftszahlen hat aber nur bedingt Einfluss, wer an moralischen und rechtlichen Mindeststandards festhält.
Immer wieder gern fordert etwa die Union „mehr Grenzkontrollen“. Dabei wird jedes Mal so getan, als gelangten die Menschen ins Land, weil sie niemand bei der Einreise abweist. Doch es ist einerlei, wie viele Polizisten in Kufstein oder Bad Schandau stehen – abweisen dürfen sie Ankommende nicht, solange diese einen Asylantrag stellen wollen.
Genauso ist es mit „Sachleistungen“, die es lange gab und die die Union nun wieder einführen will. Dabei glaubt niemand ernsthaft, dass Menschen plötzlich nicht mehr nach Deutschland wollen, weil es in den ersten Monaten nach Ankunft Kantinenessen statt Bargeld gibt. Deutschland bleibt, unabhängig davon, für viele Menschen als Ziel attraktiv: weil sie hier auf Arbeit hoffen, Menschen kennen, die hier, trotz allem, gute Erfahrungen gemacht haben, sich eine Existenz aufgebaut haben.
Leistungskürzung ist eines der alten Rezepte, die Geflüchtete zwar schikanieren, die aber nicht dazu führen, dass sie ihre Zukunftspläne und Reisewege ändern. Im alten Parteiengefüge reichten sie der Union aber, um im konservativen Milieu zu punkten, indem sie zeigte: Wir tun was gegen die ganzen Flüchtlinge.
Die kommen aber trotzdem. Und dann?
Neu ist, dass es mit der AfD nun eine Konkurrenz gibt, die für sich in Anspruch zu nehmen vermag, es wirklich ernst mit dem Flüchtlingsstopp zu meinen. Dass dies ihresgleichen – etwa in Italien oder Österreich – nicht gelingt, weil sich Migration nur schwer kontrollieren lässt, spielt für die Wahrnehmung der AfD hierzulande noch keine Rolle. Die Union weiß das. Sie bleibt deshalb nicht bei den alten Rezepten stehen, sondern geht langsam weiter.
Die Sprache der Rechten
Es beginnt im Vokabular: Als „Invasion“ oder „Landnahme“ bezeichnen Rechtsextreme die Migration seit Langem. Giorgia Meloni stellte sich dieser Tage vor die UN und verlangte einen „globalen Krieg gegen Schlepper“. Man muss fast schon froh sein, dass sie nicht gleich einen globalen Krieg gegen Flüchtlinge forderte. Diese Art zu reden aber sickert langsam in das konservative Milieu ein. Begonnen hat es 2021, als Polen die Lage an der Grenze zu Belarus einen „hybriden Krieg“ nannte und deutsche Konservative diese Wortwahl übernahmen. Gaucks „Undenkbares“ fällt auch in diese Kategorie. Solches Reden zersetzt moralische Standards.
Auf der realen Ebene sind die Folgen absehbar: beim lauter werdenden Ruf nach Militärschiffen, die Flüchtlingsboote in die Abfahrtshäfen zurückdrängen, wie Meloni es verlangt; oder bei der Bereitschaft, mit dem individuellen Asylrecht zugunsten von Kontingenten Schluss zu machen – die Gnade soll den Rechtsanspruch ersetzen. Gnädig ist aber gerade kaum jemand.
Es war der damalige FPÖ-Innenminister Herbert Kickl, der diese Forderung auf dem EU-Innenministertreffen 2018 erstmals offiziell einbrachte: keine Asylanträge mehr auf europäischem Territorium; Aufnahme nur noch auf freiwilliger Basis. Ein Akt der Behauptung „nationaler Souveränität“ sei dies, ist von rechten Propagandisten zu hören. Davon würden die „wirklich Schutzbedürftigen“ profitieren, meinen Konservative. Die CDU-Politiker Thorsten Frei, Friedrich Merz und Jens Spahn dachten in diesem Jahr ebenso wie nun Gauck laut darüber nach, wenn auch teils Relativierungen folgten.
Die Folgen würden so aussehen: Es würden trotzdem weiter Menschen ankommen, die teils nicht abgeschoben werden könnten. Ihnen würde das Arbeiten verboten, weil ja nur noch vorab Ausgesuchte bleiben dürften. Sie müssten also alimentiert werden. Die Kontingente für die formale Aufnahme würden EU-weit absehbar mickrig ausfallen, viele Länder würden wohl exakt null Plätze anbieten. In den Transitstaaten würden sich deshalb immer mehr Menschen stauen, was die EU dort kaum beliebter, sondern sie vielmehr weiter erpressbar machen würde.
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Es kommt nicht von ungefähr, dass die Nato 2022 auf Antrag Spaniens mögliche Massenankünfte von Flüchtlingen aus Afrika – orchestriert durch das dort immer stärker präsente Russland – in ihre Liste der größten strategischen Gefahren aufgenommen hatte. Denn die EU ist mit den Flüchtlingen angreifbar, solange sie daran scheitert, dem Thema die innenpolitische Sprengkraft zu nehmen. Lukaschenko, Erdoğan und auch Marokko haben vorgeführt, wie leicht Polen, Griechenland oder Spanien sich unter Druck setzen lassen, wenn Flüchtlinge über die Grenzen geschickt werden. Die Kommission will solcher „Instrumentalisierung“ Geflüchteter begegnen, indem sie gestattet, deren Rechte einzuschränken. Helfen wird das nicht. Wenn die EU Flüchtlinge zur Waffe erklärt, muss sie sich nicht wundern, wenn diese als solche gegen sie in Stellung gebracht werden.
Die Ideen sind da
Dabei ließe sich mit der Lage durchaus anders und besser umgehen. Ideen dafür gibt es viele. Angebote „zirkulärer Migration“, wie sie sogar der damalige CDU-Innenminister Wolfgang Schäuble schon 2007 vorschlug: Mehrjahresvisa für junge Menschen aus Afrika, die einen Beruf lernen, Erfahrungen sammeln, Geld sparen können und dann zurückgehen. Wer mit jungen Leuten in Afrika spricht, hört oft: Genau das wär’s.
Oder Patenschaftsmodelle wie „Neustart im Team“, bei dem private Unterstützerkreise den Menschen in der ersten Zeit nach der Ankunft helfen. Kommunen, die unter Bevölkerungsschwund und Leerstand leiden und Unterstützungsprogramme für Neuankömmlinge anbieten. Die Verzahnung kommunaler und zivilgesellschaftlicher Ressourcen für die Aufnahme in den Solidarity-Cities-Netzwerken. Im Oktober treffen sich in Brüssel Bürgermeister aus ganz Europa – auch aus Polen und Kroatien –, deren Städte sagen: Wir haben Platz.
Und letztlich steht hinter all dem natürlich auch der immer dramatischer werdende Arbeitskräftemangel: Mehrere Hunderttausend Menschen pro Jahr müssten kommen, um die Lücke im Land zu füllen. Industrie- und Handwerksbetriebe, Kitas, Schulen und Pflegedienste – wo heute die Ausfälle durch den Krankenstand kaum noch aufzufangen sind, wird in einigen Jahren gar nicht mehr aufgemacht, wenn sich nichts ändert. Eine Chance dazu wäre ein echter Spurwechsel – die Möglichkeit für Asylsuchende, leichter ein Arbeitsvisum zu bekommen. Helfen kann, dass Deutschland nach 2015 eine einzigartige Infrastruktur aufgebaut hat, um Ankommende mit Nachqualifizierung auf dem Weg in die Arbeit zu unterstützen. Die FDP allerdings hat den Spurwechsel in den Ampel-Koalitionsverhandlungen stark erschwert.
Für solche Ideen gibt es wenig Raum, wenn sich alle permanent gegenseitig darin bestätigen, dass die Lage „außer Kontrolle“ sei. Der Weg aus dieser Misere ist fürs Erste weniger in der Migrationspolitik selbst zu suchen. Er führt eher darüber, wie über diese gesprochen wird. Die Frage ist, ob es gelingt, die Überhitzung wieder abzukühlen. Das ist der einzige Weg, um mittelfristig überhaupt wieder über gerechtere Lastenteilung sprechen zu können.
Die Lage nach den beiden letzten großen Flüchtlingsankünften – 2015/2016 und 2022 die Ukrainer:innen – zeigt dies: Es kamen viele, viel mehr als heute. Aber es gab die Bereitschaft, konstruktiv mit der Lage umzugehen. Sie wurde nicht populistisch ausgeschlachtet – und konnte so gut bewältigt werden.
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