Experte über die Eskalation in Ägypten: „Opfer wirken mobilisierend“
Nach den jüngsten Gewaltakten werden Mursi-Anhänger erst recht Widerstand leisten, sagt der Ägypten-Experte Stephan Roll.
taz: Herr Roll, die Polizei ist mit äußerster Gewalt gegen die Protestlager der Anhänger des entmachteten Präsidenten Mohammed Mursi in Kairo vorgegangen. Welche Strategie steht dahinter?
Stephan Roll: Es ist möglich, dass keine längerfristige Strategie dahintersteht, dass man – wie zu Zeiten Husni Mubaraks – meint, Proteste einfach gewaltsam unterdrücken zu können. Oder aber es gibt eine Strategie: Die wäre, dass man eine Radikalisierung der Mursi-Anhänger in Kauf nimmt. Das würde der ägyptischen Führung als Rechtfertigung dienen, weiter gegen die Muslimbruderschaft und ihre Verbündeten vorzugehen.
Werden die Proteste der Mursi-Anhänger denn weitergehen?
Ja. Wir sehen jetzt schon, dass sie in Kairo neue Plätze besetzen. Auch in anderen Teilen des Landes gibt es massive Proteste. Die Zahl der Opfer ist mobilisierend.
Wie stehen die Menschen, die den Putsch des Militärs am 3. Juli unterstützen, zu dem gewaltsamen Vorgehen der Sicherheitskräfte?
Es gibt viel Sympathie für das Eingreifen des Militärs. Große Teile der Bevölkerung heißen ein robusteres Vorgehen gut oder nehmen es zumindest in Kauf. Meine Hoffnung ist, dass sich nun Kräfte in der Zivilgesellschaft klarer positionieren. Beispielsweise hat sich die Jugendbewegung Tamarrud bislang völlig unkritisch auf die Seite des Militärs gestellt.
ist Mitarbeiter bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Er beschäftigt sich mit politischem Wandel in arabischen Ländern, insbesondere in Ägypten.
Es ist die Polizei, die die Drecksarbeit macht, nicht das Militär. Sie untersteht dem Innenminister der zivilen Übergangsregierung. Schiebt das Militär die Verantwortung ab?
Wer genau hier was macht, wird sich erst in den nächsten Tagen zeigen. Aber eine Aufgabenteilung gibt es: Das Militär greift so wenig wie möglich selbst ein. Es ist richtig, dass die Drecksarbeit an die Polizei delegiert wird. Ganz klar ist sowieso: Was hier geschieht, geschieht mit Billigung oder wahrscheinlich sogar auf Anweisung des Militärs.
Schadet die Auflösung der Proteste den Muslimbrüdern?
Der Führung der Muslimbrüder kommt sie zugute. Das Vorgehen verhindert eine Diskussion innerhalb der Muslimbruderschaft, ob die Führung Fehler gemacht hat. Ein kritischer Dialog wird unterbunden. Aber ich verwehre mich dagegen, dass, wie auch in den Medien immer wieder zu hören ist, die Muslimbruderschaft für die Toten die gleiche Verantwortung trägt wie die Regierung. Verantwortlich für Tote ist, wer schießt, auch wenn es stimmt, dass die Muslimbruderschaft nicht deeskalierend auf den Konflikt einwirkt.
Wer hat denn in der Muslimbruderschaft das Sagen? Fast die gesamte Führung sitzt doch im Gefängnis.
Die Muslimbruderschaft hat schon unter Mubarak gelernt, mit breiten Organisationsstrukturen zu arbeiten. Es reicht nicht, den Kopf abzuschneiden. Dazu ist sie zu dezentral organisiert. Ein Führungsproblem hat sie aber trotzdem.
Wie wird sich die Muslimbruderschaft nun verhalten?
Unter diesen Bedingungen wird sie nicht in einen Dialog eintreten. Unter der Vermittlung der EU und der USA hatte sich ja ein Fahrplan herauskristallisiert. Aber nach dem heutigen Tag sehe ich nicht, dass die Muslimbrüder wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren. Sie werden weiter auf Proteste setzen. Übrigens sind die Proteste auch für die Muslimbruderschaft wenig kalkulierbar. Ich gehe nicht davon aus, dass etwa die jüngsten Angriffe auf Kirchen von der Muslimbruderschaft angeordnet wurden.
Einige reden von Bürgerkrieg. Ist das Panikmache?
Mit dem Begriff muss man vorsichtig sein. Ich sehe kein Szenario wie in Syrien. Die Armee ist der stärkste Akteur in Ägypten. Eine Aufspaltung zeichnet sich nicht ab. Ich weiß also nicht, wer gegen wen kämpfen soll. Es ist aber gut möglich, dass es zu einer Radikalisierung im islamistischen Spektrum kommt und dass Islamisten und die Muslimbrüder versuchen werden, kleinere Städte und Dörfer in Ägypten zu dominieren.
Halten Sie es für möglich, dass sich die Mutterorganisation der Muslimbruderschaft selbst radikalisiert? Bislang ruft sie ja nicht offen zu Gewalt auf.
Das ist unwahrscheinlich, da es nicht zu ihrer bisherigen Strategie und auch nicht zu ihrer Mitgliederstruktur passt. Die Muslimbruderschaft ist eine Bewegung der unteren Mittelschicht. Ein offen ausgetragener Konflikt würde den Interessen der konservativen, auf wirtschaftliche Stabilität bedachten Anhänger widersprechen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt