Experte über EU und arabische Staaten: „Europa braucht Hard Power“
Mehr europäisches Militär? Daran kommt nicht vorbei, wer die Lehren aus dem Arabischen Frühling ernst nimmt, meint Asiem El Difraoui.
Asiem El Difraoui: Fangen wir gleich mal an! Europa ist ein völlig zahnloser Tiger. Schon zu Beginn des Arabischen Frühlings haben das alle gesagt, aber diese Europalosigkeit hat sich immer weiter verschlimmert …
taz: … was meinen Sie mit Europalosigkeit?
Dass wir kaum noch Einfluss haben. Unser Einfluss ist in den letzten Jahren sogar weiter geschwunden. In Libyen haben die Europäer 2011 Gaddafi gestürzt und überlassen das Feld heute anderen. In Syrien haben wir untätig zugesehen, als Russland reingrätschte, um das Assad-Regime an der Macht zu halten. In Ägypten macht Präsident Sisi in Sachen Menschenrechte, was er will. Und was passiert im Libanon, wo Frankreich traditionell Einfluss hat und nach der Explosion in Beirut Reformen gefordert hat? Nichts, gar nichts.
55, ist Politologe und Buchautor. Er hat 2014 die Denkfabrik Candid Foundation in Berlin mitgegründet und lebt in Frankreich.
Wie lässt sich die Europalosigkeit überwinden?
Wir müssen unsere Außen- und Sicherheitspolitik ganz grundsätzlich überdenken. Wollen wir als Wirtschaftsgroßmacht der Welt in die globale Bedeutungslosigkeit fallen oder entwerfen wir eine gemeinsame europäische Strategie? Wir müssen Dinge diskutieren, die extrem wehtun. Unsere Sicherheitspolitik beschränkt sich auf Frontex, aber das ist keine human und langfristig angelegte Politik, das ist Feuerlöschen. Die SPD spricht jetzt von einer EU-Armee, was erst mal nicht falsch ist. Das müssen wir diskutieren. Die Europäer müssen ernst genommen werden, denn andere Staaten, die nicht demokratisch sind, bieten in all den Konflikten in unserer direkten Nachbarschaft Unterstützung an.
Also Schluss mit Demokratie-Workshops und Goethe-Filmtagen und her mit einer militärisch gestützten Außenpolitik?
Ich will unsere Soft-Power-Instrumente nicht ersetzen. Sie müssen sogar ausgebaut werden, vor allem die gemeinsamen im Rahmen einer reformierten EU. Hilfen für die Zivilgesellschaft sind das Stärkste, was wir momentan haben. Wir bauen Akteure auf, die irgendwann entscheidend sein können in einen demokratischen Prozess. Aber wir brauchen zusätzlich die Machtmittel, um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie fördern zu können. Europa braucht Hard Power, sonst läuft es wie in Ägypten, wo keine politische Stiftung mehr arbeiten kann. Wir brauchen Hebel.
Zwangsweise militärische?
Keine rein militärischen Hebel, auch wenn die dazugehören. Das Militär ist ja auch humanitär wichtig, etwa für Schutzzonen. Hard Power beinhaltet aber auch glaubwürdige Sanktionen gegen Regime, die Menschenrechte verachten. Da haben wir zu wenig. Wir brauchen das ganze Arsenal einer von den USA unabhängigen Außen- und Sicherheitspolitik, in der Partikularinteressen einzelner EU-Staaten zurückgestellt werden. Die Amerikaner werden im südlichen Mittelmeerraum auch unter Biden nicht groß Initiative zeigen. Überlassen wir also der Türkei, den Golfstaaten, Russland und China das Feld? Alles große Demokraten!
Spielen wir ein Beispiel durch: Ägypten war nach 2011 ein Hoffnungsträger, bevor 2013 wieder das Militär putschte. Europa unterstützte damals den ersten frei gewählten Präsidenten Mohammed Mursi, wenn auch nur halbherzig, weil er Islamist war. Wären wir konsequent gewesen, hätten wir den Putsch verhindert. Einen bewaffneten Einsatz gegen Ägypten kann aber doch niemand ernsthaft fordern. Wie kommt man raus aus dem Dilemma?
Außenpolitik ist immer ein Dilemma. Entscheidend im Zusammenhang mit dem Putsch von 2013 ist doch: Was hat Europa nach dem Sturz des Muslimbruder-Regimes gemacht? Wir haben nicht die maximalen Daumenschrauben an Sisi angelegt, sondern haben ihn gewähren lassen. Wir haben nach Massenverhaftungen und schlimmen Menschenrechtsverletzungen noch nicht einmal den deutschen Botschafter abgezogen oder den ägyptischen in Berlin einbestellt.
Und nun regiert Sisi als Diktator wie einst Mubarak.
Wir tolerieren autoritäre Regime in der Hoffnung, dass sie uns Flüchtlinge vom Leib halten und gegen den extremistischen Islamismus vorgehen. Das ist keine langfristige Strategie, denn wenn autoritäre Regime dann doch kippen, ist das Gewalt- und Fluchtpotenzial in den Gesellschaften hoch. In Ägypten haben wir noch nicht einmal unsere geringen Druckmittel eingesetzt.
Geringe Druckmittel hat die EU in Syrien eingesetzt. Die diplomatischen Beziehungen nach Damaskus sind bis heute gekappt. Was hat das gebracht?
In Syrien geht es um die nächste Stufe von Hard Power. Der historische Wendepunkt war erreicht, als weder Obama noch die EU auf Assads Chemiewaffen reagierten. Ein europäischer Flugzeugträger im Mittelmeer hätte Assad damals enorm unter Druck gesetzt. Aber europäische Militärkapazitäten kommen immer erst ins Spiel, wenn es um den sogenannten Krieg gegen den Terror geht. Eine europäische Intervention kam erst nach den Anschlägen in Europa. Auf einmal ging dann etwas, aber da war das Ziel nicht mehr der Schutz der syrischen Zivilbevölkerung, sondern die Bekämpfung des IS.
Ist Deutschland in Europa der Bremser?
Mit seiner speziellen Geschichte übernimmt Deutschland nur zögerlich die Verantwortung, die es als große Demokratie und als Wirtschaftsgigant Europas hat. Man muss der Bevölkerung klarmachen, dass wir nicht weiter Insel der Glückseligkeit spielen und uns dann wundern können, wenn 500.000 Flüchtlinge kommen. Was wir 2015 erlebt haben, kann wieder geschehen. Wie also verhindern wir das im Vorfeld? Gerade bei Ihnen in der taz, in der deutschen Linken muss man das diskutieren. Was wollen wir? Wie setzen wir das um? Was sind unsere strategischen Optionen?
Allein Frankreich verfolgt eine offensive Außenpolitik in der Region. In Libyen war es 2011 maßgeblich am Nato-Bombardement beteiligt. Und aktuell drängt Macron im Libanon auf Reformen.
Der deutsch-französische Stotter-Motor muss wieder rund laufen und eine zentrale Rolle spielen. Es braucht engere Koordinierung und mehr Mut von deutscher Seite. Für die Deutschen ist es bequem, das Militärische an die Franzosen zu delegieren. Kernfrage ist: Was für ein Europa wollen wir haben in einer multipolaren Welt mit sich überlappenden Krisen von Covid-19 über den Rechtpopulismus bis zu den Kriegen an Europas Ost- und Südgrenze? Da müssen mutige Visionen entstehen.
Wenn es um Wandel im arabischen Raum geht, sind Europas Gegenspieler die Golfstaaten, vor allem Saudi-Arabien und die Emirate. Mit Milliarden haben sie zum Beispiel al-Sisis Militärregime unterstützt. Reichen Europas Ressourcen überhaupt aus?
Der Brexit hat uns Europäer extrem geschwächt. Trotzdem ist die EU nach wie vor die größte Wirtschaftskraft der Welt. Das birgt ein irres Potenzial. Das Bruttosozialprodukt Saudi-Arabiens ist dagegen nur in etwa so groß wie das von Baden-Württemberg. Der Unterschied ist, dass Saudi-Arabien massiv Geld irgendwo reinpumpen kann, wenn die Königsfamilie das entscheidet. Aber wir haben noch ganz andere Dinge anzubieten, Ausbildung zum Beispiel. Was hat Saudi-Arabien für ein Know-how? Was kann Saudi-Arabien tun, um das Schul- oder das Krankenhauswesen in Ägypten oder Libyen zu verbessern? Nichts.
Fordern Sie eine Art Marshallplan, ein großes sicherheitspolitisch motiviertes Aufbauprogramm für den Nahen Osten? Die Idee gab es ja schon 2011.
Marshallplan ist eine Worthülse. Aber ja, wir müssen etwas Großes machen. In der arabischen Welt hat zwar eine Restaurationsbewegung stattgefunden, aber die sozialen Kräfte und die Hoffnungen sind noch da. Warum haben wir Europäer keinen gemeinsamen Fernsehsender auf Arabisch? Das wäre nicht so teuer, vielleicht 20, 30 Millionen im Jahr. Warum stellen wir nicht für den gesamten südlichen Mittelmeerraum Ausbildungsprogramme zur Verfügung? Wir machen immer nur Klein-Klein, uns fehlt eine strategisch-humanitäre Vision. Wir haben nicht verstanden, dass die Mittelmeerstaaten unsere direkten Nachbarn sind. Das sind Menschen, die die gleichen Aspirationen haben wie wir: Sicherheit, Selbstverwirklichung, Menschenwürde – all diese Forderungen des Arabischen Frühlings. Die teilen extrem viel mit uns, aber uns fehlt es an Bewusstsein und an politischen Instrumenten, um sie wirksam zu unterstützen.
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