Ex-Ministerin zu Covid im Globalen Süden: „Nicht ökonomisch abstürzen lassen“

Der IWF schüttet viel Geld aus. Die reichen Länder sollten ihre Mittel den armen geben, fordert Ex-Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Eälterer Mann erhält in einem Krankenhaus in Kigali, Ruanda eine Covid-19 Impfung

Corona-Impfung in Ruanda: Afrikanische Länder haben bislang viel zu wenig Vakzine erhalten Foto: Jean Biziman/reuters

taz: Frau Wieczorek-Zeul, angesichts der offiziellen Angaben scheinen die meisten Länder Afrikas, gemessen an den Zahlen der an Corona gestorbenen Menschen, im Vergleich zu den Industrieländern besser durch die Pandemie zu kommen. Trügt dieser Eindruck?

Also erstens kann man das nicht genau sagen, die Zahl der an Corona gestorbenen Menschen ist in vielen Ländern weitgehend Spekulation. Zweitens muss man auch die ökonomischen Auswirkungen sehen. Und die sind zusammen mit den gesundheitlichen Folgen dramatisch. Afrika erleidet seit 25 Jahren zum ersten Mal eine Rezession. Schon vor der Pandemie waren zwei Drittel der ärmsten Entwicklungsländer von Überschuldung betroffen. Jetzt muss es darum gehen, die finanziellen Spielräume der besonders betroffenen ärmsten Länder zu erweitern. Dabei geht es um einen Schuldenerlass, die Einbeziehung des privaten Sektors und Chinas.

China hält rund ein Viertel der Schulden der Entwicklungsländer.

Ohne China macht ein Schuldenerlass keinen Sinn. Beim G20 Common Framework, einem neuen Instrument der G20 für den Umgang mit Staatsschulden, ist China beteiligt. Da geht es um die Frage, wie sich die G20 abstimmen nicht nur in Bezug auf einen Schuldenaufschub, wie es ihn gibt, sondern auch einen Schuldenerlass. Wenn wir von einem größeren Finanzspielraum sprechen, gibt es einen Aspekt, der in der deutschen Debatte gar nicht stattfindet: die Ausweitung des Sonderziehungsrechts des IWF.

Der IWF, der Internationale Währungsfonds, bereitet zurzeit die Aktivierung der sogenannten Sonderziehungsrechte vor, mit dem die IWF-Mitglieder enorme Geldmengen schöpfen können. Ist das sinnvoll?

Jahrgang 1942, ist Mitglied des Rats für Nachhaltige Entwicklung, der die Bundesregierung berät. Die Sozialdemokratin war von 1998 bis 2009 Entwicklungsministerin.

Ich habe selbst immer dafür gekämpft, dass das möglich ist. Dabei geht es um einen Umfang von 650 Milliarden US-Dollar. Die Sonderziehung würde für die Länder im Globalen Süden Zugang zu Devisen bedeuten. Die Zuteilung der Sonderziehungsrechte erfolgt aber nach der Quote, die die jeweiligen Länder bei der Weltbank haben. Insofern ist klar: Die, die es besonders brauchen, haben von der Quote noch gar nichts. Deshalb ist mein Vorschlag: Die Industrieländer sollten ihre Quoten den Entwicklungsländern, den Ärmsten, zur Verfügung stellen, zum Beispiel zur Impfstofffinanzierung.

Wie könnte es konkret aussehen, dass Staaten verzichten und das Geld aus den Sonderziehungsrechten anderen zur Verfügung stellen?

Der IWF könnte einen Vorschlag machen, wie eine entsprechende Umwidmung erfolgen kann.

Deutschland gehört zu den starken IWF-Mitgliedern. Sollte Olaf Scholz als Finanzminister einen entsprechenden Vorstoß unternehmen?

Zum Beispiel.

Aber haben nicht Deutschland und andere starke Volkswirtschaften wegen der Pandemie zurzeit selbst große ökonomische Probleme?

Mit Verlaub: Die Industrieländer haben ganz andere Möglichkeiten als Entwicklungsländer, um Programme aufzulegen, die verhindern, dass die Wirtschaft abstürzt. Das haben wir in Deutschland gemacht, das versuchen wir in der Europäischen Union. Ich unterstütze das. Aber die ärmsten Entwicklungsländer haben nicht die Möglichkeit, ihre Wirtschaft zu schützen. Es ist im Interesse der Menschlichkeit, aber auch unserer gemeinsamen Daseinsvorsorge, sie zu unterstützen. Die Entwicklungsländer dürfen nicht ökonomisch abstürzen.

Viele Industrieländer verschulden sich und könnten argumentieren, künftig weniger Geld für die Entwicklungszusammenarbeit aufbringen zu können.

Im Coronajahr 2020 sind nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) zusätzlich 95 Millionen Menschen in extreme Armut gefallen. Auch Hunger, Kinderarbeit und weitere Formen der Verelendung nehmen in vielen Ländern des Globalen Südens zu. Anders als Industrieländer haben Entwicklungsländer nicht die Mittel, sich mit Programmen gegen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu stemmen oder in großem Maßstab Impfstoffe zu kaufen – auch weil viele schon vor der Coronakrise überschuldet waren. Eine Möglichkeit, ihnen schnell Geld zu verschaffen, ist die Aktivierung der sogenannten Sonderziehungsrechte des IWF, die zurzeit vorbereitet wird. Dieses Instrument wird eingesetzt, wenn ein weltweiter Bedarf an liquiden Geldmitteln besteht. Der IWF schüttet dann an seine Mitglieder Zahlungen aus – allerdings nicht an alle gleich viel, sondern gemäß deren Quoten bei der Weltbank. Arme Länder erhalten also weniger als reiche. (akr)

Die Gefahr ist vorhanden. Das gilt für alle Länder, die viel Geld in die Hand genommen haben. Ich habe Sympathie für den Vorschlag, den mehr als 20 Staats- und Regierungschefs aus Industrie- und Entwicklungsländern gemacht haben. Sie wollen zur Pandemievorbeugung einen völkerrechtlichen Vertrag schaffen. Mit einem solchen Vertrag wird auch die Aufmerksamkeit, die Rechenschaftspflicht, die Transparenz und die Kooperation zwischen Industrie- und Entwicklungsländern gestärkt. Gleichzeitig liegen zahlreiche neue Instrumente zur globalen Besteuerung von großen Unternehmen auf dem Tisch. Diese Vorschläge müssen nun unverzüglich umgesetzt werden.

Welche weiteren Möglichkeiten gibt es, um die Lage in Entwicklungsländern zu verbessern?

Es gibt unter anderem die IDA-Mittel der Weltbank, der International Development Association. Sie sehen Zuschussmöglichkeiten für Entwicklungsländer vor. Das Weitere sind Maßnahmen zur Stärkung der Gesundheitssysteme und für Impfungen. Es geht darum, die Programme und Instrumente zu verknüpfen. Zum Beispiel sollten schnell 20 Prozent der Bevölkerung im Globalen Süden geimpft werden, und da auch natürlich vor allem Menschen, die im Gesundheitswesen tätig sind. Also das ist das Mindeste, was man schaffen kann.

IWF-Chefin Kristalina Georgiewa fordert, beim Eintreiben der Schulden auch die Verletzlichkeit der Länder durch die Klimakrise zu berücksichtigen, weil diese ein Schuldentreiber ist. Wie sehen Sie das?

Das ist absolut erforderlich. Es sind auch Finanzierungsmöglichkeiten für die Umstellung der Wirtschaften nötig. Denn parallel zur Pandemiebekämpfung ist die Anpassung an den Klimawandel nötig.

Südafrika und Indien haben schon vor einem halben Jahr vorgeschlagen, den Patentschutz für Impfstoffe auszusetzen, damit sie vor Ort produziert werden können. Mehr als 100 Länder haben sich angeschlossen.

AstraZeneca kann ja bereits in anderen Regionen produziert werden. Generell finde ich, in der Situation, in der wir sind, müssen alle Instrumente genutzt werden. In der WHO gibt es ja auch diese Diskussion. Da darf nichts außen vor gelassen werden.

Deutschland und die EU blockieren die Freigabe.

Ja, ehrlich gesagt, man weiß nicht, aus welchen Gründen das der Fall ist und warum eine zeitlich begrenzte Produktionsfreigabe nicht möglich ist. Wie gesagt: Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen und können nur als Weltgemeinschaft dem Teufelskreis aus Mutationen entkommen und nur gemeinsam ein Ende der Pandemie erwirken.

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