Essay Zukunft der Europäischen Union: Nationalstaaten als Hindernis
Auf den einen Markt, die eine Währung muss die eine Demokratie folgen. Sie muss europäisiert werden, soll das Projekt Europa nicht scheitern.
E s geht ihm nicht gut derzeit, dem Nationalstaat in Europa. Er wird arg in die Zange genommen. Von oben fummelt die EU an ihm herum, die sich derzeit mit Vertragsverletzungsverfahren in die nationalen Demokratien zum Beispiel von Ungarn oder Polen einmischt. Von unten begehren die Katalanen, die Schotten oder auch die Bayern auf, die es vermeintlich allein können. Wobei unklar bleibt, was sie allein „können“: einen eigenen Staat haben und eine eigene Währung oder Armee dazu? Oder nur eine Art autonomen Staat ohne Letzteres?
Fest steht, dass der europäische Nationalstaat in einer ziemlichen Sandwichposition ist. Was eine Nation ist und zugleich was sie darf, verschwimmt zunehmend. Die Nation wird heute zwischen europäischer und regionaler Ebene zerrieben. Ob zum Beispiel die Schotten oder die Katalanen nur „Region“ oder doch „Nation“ sind, geht immer mehr durcheinander; genauer: ob sie Ersteres bleiben müssen oder Letzteres werden dürfen. In welcher historischen Formation eine Nation gerade auftritt, ist historisch kontingent. Was zu einer gegebenen Zeit als Nationalstaat bezeichnet wird, ist ein Artefakt menschlichen Handelns. Nationalstaaten wurden und werden gemacht.
Es gibt also keine „nationalstaatliche Ontologie“, sondern es ist immer eine Bewegung. Das vorerst letzte Stück dieser historischen Bewegung konnte man zum Beispiel in Europa vor rund zehn Jahren im Kosovo bewundern, das zu einem „Nationalstaat“ gemacht wurde, der inzwischen von 115 Staaten offiziell als solcher anerkannt wird, nicht etwa weil es einen „kosovarischen Demos“ gab, sondern weil vor allem die USA das damals so wollten.
Schon 1963 hat der berühmte (und im Übrigen konservative) Historiker Theodor Schieder in einem kleinen Essay den Nationalstaat als historisches Phänomen bezeichnet und darauf hingewiesen, dass die Nationalstaatsgründungen in Europa in der jüngeren Geschichte eine dreistufige Bewegung waren: In der ersten Etappe bildete sich die moderne Nation in England und Frankreich durch innerstaatliche Revolution, in der die staatliche Gemeinschaft auf den Volkswillen, die volonté générale, übertragen wurde. Die englische Monarchie bekam ein Parlament, Frankreich wurde sogar zur Republik.
Das subjektive Bekenntnis der Bürger zum nationalen Staat wurde das einigende Kriterium, nicht etwa Sprache, Volksgeist oder Nationalcharakter. Nation war in erster Linie Staatsbürgergemeinschaft – mit gleichen Rechten für gleiche Bürger, und zwar unabhängig von deren ethnischer Herkunft. Der homogene Nationalstaat, um den heute scheinbar wieder gerungen wird, war schon damals eine Schimäre: Basken und Elsässer sprachen nicht die gleiche Sprache.
Die zweite Phase bringt vor allem in Westeuropa – deutscher Vormärz und italienisches Risorgimento – die Entstehung von Nationalstaaten aus bis dato in staatlicher Hinsicht getrennten Teilen von (Kultur-)Nationen. Es ist die Stunde der nationalen Einigungsbewegungen, denen vor allem im deutschen Idealismus, etwa bei Herder, die zunächst unpolitisch verstandene Idee eines Volkes zugrunde liegt, das noch nicht in einer übergreifenden Staatlichkeit mit geschlossenem Staatsbürgerverband geeint ist. Genau dies hat Garibaldi in Italien und Bismarck in Deutschland im 19. Jahrhundert dann gemacht: aus den Hessen, Bayern, Franken und Pfälzern wurden dieDeutschen. Heute ist vergessen, dass sich die deutschen Truppen im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 bis 1872 wegen der Sprachenvielfalt und der Dialekte kaum untereinander verständigen konnten, sodass es zum Problem für den Generalstab wurde.
Ein zentrales Element der nationalstaatlichen Einigung waren freie, gleiche und geheime Wahlen. Die Wirkung des Gleichheitsversprechens auf Gesellschaften steht am Ursprung jeder demokratischen Revolution. Das rechtliche Prinzip hat eine symbolische Wirkung und entfaltet universalistische Integrationsmacht. Die Einheit der deutschen Nation wurde also nach dem Paulskirchenprozess im Wesentlichen über Wahlrechtsgleichheit herbeigeführt.
In der dritten Phase schließlich ging es vor allem in Mittel- und Osteuropa im Wesentlichen um die Dekonstruktion zunächst der alten Imperien des 19. Jahrhunderts – habsburgisch-österreichisch, russisch beziehungsweise osmanisch-türkisch –, die gleichsam zur ersten Runde der osteuropäischen Nationalstaatsbildung in der Zwischenkriegszeit geführt hat. Die zweite Runde der osteuropäischen Nationalstaatsbildung war dann die Dekonstruktion der damaligen UdSSR sowie Jugoslawiens, was der Weltgemeinschaft wieder ein paar Nationen mehr bescherte. Dieser Prozess – und er dürfte nicht zu Ende sein, beobachtet man aktuelle Ereignisse in Russland oder der Ukraine – war und ist ein Prozess der Nationalstaatsbildung durch Abtrennung oder Sezession.
Souverän ist immer nur der Bürger
Bei derlei Fluktuation von Nationalstaatlichkeit ist es nur verwunderlich, wie sich der derzeitige europäische Kurs am Nationalstaat festklammert. Kaum eine Diskussion zur EU und ihrer Krise vergeht, in der die – vermeintlich souveränen – Nationen im Gefüge der EU nicht als unabänderlich gesetzt werden und ihre Veränderung oder gar Auflösung als unmöglich und utopisch erscheint.
Dabei führt an zwei Feststellungen kein Weg vorbei: Der EU-Rat als gleichsam „nationale Kammer“ im EU-System und die „intergouvernementale Basis“, auf der die Zusammenarbeit und Entscheidungsfindung in der Europäischen Union fußt, ist das wesentliche Hindernis bei der Lösung der europäischen Probleme. Die EU wird als Plattform zur Durchsetzung nationaler Interessen begriffen, was regelmäßig zu nächtlichen Verhandlungsmarathons führt. Und zweitens: Nationalstaaten sind nicht der Souverän, denn Souverän sind immer nur die Bürger.
Daraus ergibt sich, dass wir den Nationalstaat innerhalb Europas nicht nur nicht mehr brauchen; sondern dass er das eigentliche Hindernis auf dem Weg zu einem demokratischen Europa ist. Weswegen die viel zitierten Gründungsväter der EU (Jean Monnet oder Walter Hallstein) übrigens immer davon sprachen, dass Europa die Überwindung der Nationalstaaten bedeutet, nur dass das heute keiner mehr hören will.
Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Denn nichts spricht dagegen, dass wir als europäische Bürger in einem europäischen Vormärz, also einer europäischen Einigungsbewegung, genau das machen, was damals die Deutschen nach dem Hambacher Fest machten, nämlich dass wir über allgemeine, gleiche und geheime Wahl unabhängig von „nationaler Ethnie“ oder Demos zu einer europäischen Nation im Sinne einer Staatsbürgergemeinschaft werden. Für diese europäische Staatsbürgergemeinschaft müsste es ebenso unerheblich sein, Finne, Portugiese oder Grieche zu sein, wie es damals unerheblich war, Hesse oder Pfälzer zu sein.
Es hieße nichts anders – und nichts Simpleres –, als dass perspektivisch alle europäischen Bürger gleiche Rechte genießen: gleiches Wahlrecht („eine Person, eine Stimme“), gleiche Steuern und gleiche soziale Rechte. Anders formuliert: Nach Euro und der europäischen IBAN kommt als Nächstes die europäische Steuernummer, dann die europäische Sozialversicherungsnummer und schließlich der europäische Personalausweis.
Neues Gefäß finden
Es geht hier also nicht um einen Frontalangriff auf die Nation im Sinne von gemeinsamer Geschichte, Tradition oder Identität. Sondern es geht um die Nation als einzig vorstellbares Gefäß für die Demokratie. Die Demokratie aber muss europäisiert werden, soll das europäische Projekt nicht vor die Wand gefahren werden. Auf den einen Markt und die eine Währung muss die eine Demokratie folgen, die auf der politischen Gleichheit ihrer souveränen Bürger, also einer europäischen Staatsbürgergemeinschaft beruht, statt auf einem zwar legalen, aber nur indirekt legitimierten EU-System, das ein erhebliches Demokratiedefizit aufweist und in dem die Bürger der einzelnen europäischen Nationalstaaten bei der Besteuerung oder bei sozialen Rechten stets gegeneinander ausgespielt oder zueinander in Konkurrenz gesetzt werden.
Dies würde der Tatsache Rechnung tragen, dass eine Währungsunion de facto schon ein Gesellschaftsvertrag ist, der jetzt nur noch fiskalisch und sozialpolitisch eingebettet werden muss. In einer europäischen Staatsbürgergemeinschaft mag der Begriff der „Nation“ als identitätsstiftender Raum oder für den emotionalen Zusammenhalt noch wichtig sein und seine Bedeutung beibehalten. Als Faktor der normativen Ausgestaltung der europäischen Staatsbürgerrechte wäre die nationale Zugehörigkeit indes unerheblich. Und das wäre das Entscheidende für eine europäische Demokratie. Nein, innerhalb Europas brauchen wir den Nationalstaat nicht mehr!
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