Eskalierte Polizeiarbeit in Hamburg: Frommes Wort, beunruhigende Tat
Vom Augenmaß bei polizeilichem Vorgehen ist gerade viel die Rede. Und dann kommen doch wieder nur Pfefferspray und Wasserwerfer.
E s ist viel bemüht worden in den vergangenen Wochen: Ausdrücklich mit Augenmaß wollte Hamburgs Polizei am ersten Vatertag unter den Bedingungen der Pandemie darüber wachen, ob all die Regeln zur Coronabekämpfung denn auch eingehalten würden. Ungefähr drei Wochen früher war eine dieser Regeln verschärft worden, nämlich eine Pflicht zur Mund-Nasen-Maskierung eingeführt und in Kraft gesetzt. Und auch da führte die Polizei-Pressesprecherin, noch recht frisch im Amt, es im Munde: Mit Augenmaß also würden die Kolleg*innen den Leuten ins (hoffentlich teilverkleidete) Gesicht sehen.
Polizeiarbeit also grundsätzlich mit Augenmaß? Eher schwer zu überzeugen wäre von der Wahrheit dieses Anspruchs wohl jene Altonaer Abendgesellschaft, die sich jetzt unvermittelt mit Pfefferspray und allerlei Straftatbeständen konfrontiert sah, wohlgemerkt: in der eigenen, laut dem Grundgesetz besonders geschützten Wohnung.
Zweifel an der Verhältnismäßigkeit polizeilichen Handelns dürften auch die Demonstrierenden äußern, die am Samstag in der Hamburger Innenstadt mit dem Wasserwerfer abgeräumt wurden. Ach ja: Ausgerechnet als „verhältnismäßiger“ hat die Polizei selbst das per Tweet bezeichnet – „verhältnismäßiger als unmittelbarer körperlicher Zwang“.
Am Samstag, aufgereiht zwischen mehreren Hundert sogenannter Hygiene-Demonstrant*innen auf der einen Seite und der Spottgesänge zum Besten gebenden Antifa auf der anderen: Da kann so eine Polizei schon mal den Überblick verlieren. Dass sie dann umso fester festhält an ihrer Version der Geschehnisse: nachvollziehbar, wenn auch deshalb noch lange nicht richtig.
Aber noch mal zu den alten Leuten von Altona. Welche Bedrohung können unbewaffnete Menschen im Rentenalter darstellen – nicht für irgendwen, sondern für sechs Beamte in Dienstmontur plus Hund? Dass am Ende die Geschichte aus sechs Mündern – wenn man’s könnte, ließe man sicher auch den Hund aussagen – mehr Aussicht darauf hat, geglaubt zu werden, als die der vier Betroffenen: eine beunruhigende Aussicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption