Eskalation in Nahost: Aufstand der Mitbürger
Israels Palästinenser solidarisieren sich mit dem Widerstand in den besetzten Gebieten. Dabei kämpfen sie auch um ein neues Selbstbewusstsein.
W ährend diese Zeilen verfasst werden, fliegt die israelische Armee erbarmungslos Luftangriffe auf Gaza, und US-Präsident Joe Biden hat nichts Besseres zu tun, als sich voller Überzeugung zum Selbstverteidigungsrecht Israels zu bekennen. Biden ist nicht der erste US-Politiker und wird auch nicht der letzte sein, der das Recht Israels unterstützt, sich auf jedwede Weise zu verteidigen.
Das Problem ist allerdings nicht nur das grüne Licht, das Biden Regierungschef Benjamin Netanjahu für das Massakrieren der Palästinenser signalisiert, sondern es ist die Botschaft, die sich dahinter verbirgt und die lautet, dass das Leben der Palästinenser im Vergleich zum Leben von Juden wertlos ist. Die irrige Botschaft lautet, dass dieser Konflikt politisch und militärisch symmetrisch ist.
Die Palästinenser, die bei den Bombenanschlägen der israelischen Luftwaffe getötet wurden, werden von Israels Verteidigungsarmee als wörtlich „Nebenschaden“, definiert, gemeint ist Kollateralschaden, der als legitimer Preis für die Verteidigung Israels gilt. Weder Biden noch die westlichen Mainstream-Medien machen sich die Mühe nachzufragen, was seit 1948 im Ostjerusalemer Viertel Scheich Dscharrah, in Galiläa oder im Negev geschieht.
Die Zwangsräumungen in Ostjerusalem sind ein Schritt zur ethnischen Säuberung der Stadt. Der Kampf der um ihre Häuser bangenden Bewohner ist der Kampf aller Palästinenser, egal wo sie leben. Und doch stellt sich die Frage, wie ein im Kern nationaler Kampf so plötzlich zu einem religiösen Kampf wurde. Warum rückte al-Aqsa in den Mittelpunkt? In Scheich Dscharrah geht es um einen politischen und nationalen Kampf, keinen religiösen.
stammt aus der arabisch-israelischen Kleinstadt Qalansawe und stieß nach ihrem Studium der Konfliktbewältigung zur Tageszeitung „Ha’aretz“, für die sie aktuell aus Amsterdam berichtet. Die Schwerpunkte der Palästinenserin sind der israelisch-palästinensische Konflikt, Frauen im Nahen Osten und Kultur in der arabischen Welt.
Ein kluger Mensch hat offenbar verstanden, dass die klassische palästinensische Geschichte, die der Welt einmal mehr das palästinensische „Opfer“ vorführt, nicht ausreicht. Und dass sich die Welt, wenn sie nochmal zusehen muss, wie eine palästinensische Familie aus ihrem Haus vertrieben wird, kaum solidarisch zeigen wird. Dieser kluge Mensch trieb eine Religionisierung des Kampfes voran. An die Stelle von ethnischer Säuberung und Besatzung trat der Kampfruf „Al-Aqsa ist in Gefahr“.
Auch, wenn es mir überhaupt nicht zusagt, wenn der politische palästinensische Kampf religionisiert wird, muss ich zugeben, dass das taktisch ein genialer Zug war, um Zigtausende junge Muslime aus ihrem Winterschlaf zu wecken und für Solidaritätskundgebungen zu mobilisieren. Die Religionisierung des palästinensischen Kampfes ist jedoch hauptsächlich aus zwei Gründen fatal: Erstens ist der palästinensische Konflikt mit dem Staat Israel kein religiöser.
Die Palästinenser haben kein Problem mit dem Judentum der Bürger Israels, sondern die Palästinenser haben ein Problem mit der „Jüdischkeit“ des Staates. Zweitens kann al-Aqsa nicht die einzige Komponente sein, die Palästinenser und Araber im Kampf für die palästinensische Selbstverwaltung vereinen wird! Nicht al-Aqsa ist in Gefahr, sondern Jaffa, Lod, Haifa und der Negev sind in Gefahr, palästinensische Kinder, Studenten und palästinensisches medizinisches Personal sind in Gefahr!
Nicht weniger interessant als die Religionisierung des Konflikts ist der Blick auf die Palästinenser, die in Israel geboren wurden. Diese neue palästinensische Generation riss die physischen Grenzen zwischen dem Westjordanland und den palästinensischen Ortschaften in Israel ein und kam zu Tausenden nach Ostjerusalem, um dort zu protestieren.
Die riss aber vor allem auch die emotionalen und psychologischen Barrieren ein, die sie von den jungen Palästinensern im Westjordanland und im Gazastreifen trennten. Die Palästinenser, die in den 2000er Jahren in Israel geboren wurden, entwickelten eine Solidarität mit ihren palästinensischen Brüdern im Westjordanland und im Gazastreifen. Mehr noch: Sie haben die palästinensische Identität, die von der Besatzung und ihren Waffen unterdrückt wurde und als Schande galt, zur Quelle des Stolzes gemacht.
Diese neue palästinensische Generation schaffte es, sich aus der Identität des Opfers zu lösen, weil sie von der systematischen, rassistischen, institutionellen israelischen Gewalt verschont geblieben ist. Verhaftungen, geheimdienstliche Verhöre und Folter haben dieses Bewusstsein noch nicht zerstört. Diese jungen Menschen haben gerade die Schule abgeschlossen.
Sie sind noch nicht auf dem Arbeitsmarkt oder an den Universitäten angekommen, haben aber im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern schon kapiert, dass auch die beste akademische Bildung, keine Karriere oder ein noch so hohes Einkommen der Besatzung ein Ende machen wird, das historische Unrecht richten oder sie zu gleichberechtigten Bürgern machen wird.
Sie haben kapiert, dass ihr Schicksal dasselbe sein wird wie das ihrer Eltern und Großeltern und dass sie die alltäglichen Erniedrigungen und Ungerechtigkeiten schlucken sollen, um die Illusion der einzigen Demokratie im Nahen Osten zu leben. Genau dagegen wehren sie sich: Sie weigern sich, diese Illusion zu akzeptieren, mit ihr zu kooperieren und sie fortleben zu lassen. Sie rebellieren gegen das national minderwertige defätistische Bewusstsein.
Damit stoßen sie auf breite internationale Solidarität. Und damit sind sie in Israel brutaler Gewalt seitens des Sicherheitsapparates ausgesetzt. Verhaftungen und gewaltvolle Verhöre des inländischen Geheimdienstes zielen darauf ab, ein Trauma zu erzeugen, das dieses rebellisch-kämpferische Bewusstsein erzittern lässt.
Die staatliche Brutalität wie auch der breite israelische Zorn auf der Straße gegen den Aufstand der jungen Palästinenser zielt auf ihre Verweigerung, die jüdischen „Herren“ anzuerkennen, und ihre Verweigerung, ihre Rolle als Verlierer, die national unterlegen sind, zu akzeptieren.
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