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Erdoğan gewinnt Wahl in der TürkeiKnapp über die Ziellinie

Recep Tayyip Erdoğan gewinnt gegen Kemal Kılıçdaroğlu. Dem Herausforderer gelingt ein Achtungserfolg. Aber war er der falsche Kandidat?

Anhänger des Präsidenten feiern seinen Wahlsieg am Sonntagabend in Istanbul Foto: Kemal Aslan/Reuters

Istanbul taz | Denkbar knapp ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Sonntag in seinem Amt bestätigt worden. Nach rund 95 Prozent der ausgezählten Stimmen pendelt sich das Ergebnis für Erdoğan bei 52 Prozent gegenüber 48 Prozent des Herausforderers Kemal Kılıçdaroğlu ein. Hatte die Staatsagentur Anadolu Ajansi Erdoğan zunächst bei 56 Prozent gesehen und die Oppositionsnahe Agentur Anka dagegen Kılıçdaroğlu bei 51 Prozent, näherten sich die Zahlen im Laufe des Abends an. Nachdem Erdoğan auch bei Anka an Kılıçdaroğlu vorbeigezogen war, war eigentlich klar, dass Erdoğan am Ende vorn liegen würde.

Dennoch ist es ein großer Achtungserfolg für Kılıçdaroğlu, den ihm noch vor einigen Wochen kaum jemand zugetraut hatte. Schaut man sich die Ergebnisse im Einzelnen an, hat Kılıçdaroğlu gegenüber dem ersten Wahlgang noch einmal deutlich zugelegt. Während Erdoğan rund 2 Prozentpunkte zulegen konnte, verbesserte sich Kılıçdaroğlu um rund 4 Prozentpunkte.

Schaut man auf die politische Landkarte der Türkei, hat die Stichwahl die Ergebnisse aus dem ersten Wahlgang im Wesentlichen bestätigt. Wie vor 14 Tagen siegte die Opposition überall entlang der Mittelmeer- und der Ägäisküste, sowie in den Metropolen Istanbul und Ankara. Dazu kamen die kurdisch dominierten Provinzen im Südosten.

Erdoğan hat dagegen wie zuvor an der Schwarzmeerküste und im Nordosten des Landes und in Zentralanatolien gewonnen. Die Spaltung des Landes ist noch einmal vertieft worden. Dazu kommen die Stimmen aus dem Ausland. Die WählerInnen in Deutschland und Österreich haben entscheidend mit dafür gesorgt, dass Erdoğan die Wahl noch einmal gewinnen konnte.

Trotzdem, der Lack ist ab, bei dem türkischen Langzeitpräsidenten. Nur mit dem Einsatz aller staatlichen Ressourcen, einer infamen Denunziationskampagne gegen Kılıçdaroğlu, der Behauptung, er sei der von Gott unterstützte Anführer des Landes und dem Einsatz einer politischen Justiz, konnte er sich noch einmal knapp über die Ziellinie retten.

Viele Menschen aus der Opposition sind überzeugt, dass Erdoğan gegen den populären Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu, den er rechtzeitig vor den Wahlen durch einen politischen Prozess aus dem Rennen genommen hat, wahrscheinlich verloren hätte.

Doch nach den Wahlen ist wie immer vor den nächsten Wahlen. Im Frühjahr kommenden Jahres stehen die Kommunalwahlen an. Kemal Kılıçdaroğlu hat in Istanbul 51,5 Prozent der Stimmen geholt, in Ankara fast genauso viele. Es spricht viel dafür, dass die Opposition ihre Stellung in den Großstädten dann noch weiter ausbauen kann. Erdoğan bleibt zwar Präsident, aber nur von dem eigentlich längst abgeschlagenen Teil des Landes.

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34 Kommentare

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  • Ist das nicht total bekloppt?:



    Unser Bundeskanzler Olaf Scholz erklärt eine nicht kleine Minderheit seiner Bürger (ich meine die der LG und Sympathiesanten (noch so ein schlimmes Wort)) für bekloppt, die auf die Einhaltung eines höchstrichterlichen Spruchs besteht, für bekloppt (zumindest die Aktionen) und gratuliert einen Typen wie dem Erdogan zum Wahlsieg auf weitere " ... bla ... bla ".

  • Es ist eher nicht der Kandidat, sondern die Ausgangsbedingung in der Türkei. Die Medien sind zensiert, die Berichte über das Erdbeben und die Folgen, die sind allesam durchzensiert.



    Wer beim Staat arbeitet, der ist unter Beobachtung.



    Der Wahlkampf war zum Teil eingeschränk, u.a. sitzt Selahattin Demirtas im Gefängnis.



    Und mit ihm ziemlich viele Menschen, die aus politischen Gründen inhaftiert sind. Unter solchen Konditionen ist diese Wahl einfach nicht frei, fair und demokratisch zu nennen, da spielt der Kandidat nicht die Hauptrolle.



    Aber immerhin: In allen wichtigen Städten im Westen ist die AKP weg.



    Es gibt ein großen Fortschritt, den die Opposition selbst unter solchen Bedingungen geschafft hat, die Opposition hat sich zudem geeinigt, ein Machtwechsel wäre keine Rückkehr zum Chaos der 1990er.



    Die Türkei ist aber insgesamt inzwischen ein Sanierungsfall geworden, diese Regierung arbeitet nach komplett eigener Maßgabe, das ist für Investoren Gift und neue Impulse fehlen, dazu noch Großmannssucht und sinnlose Rüstungsprojekte.



    Die Türkei hat seit gut zehn Jahren sehr viel verpasst und durch die Repression und den intoleranten, unversöhnlichen Islam der Regierung wird es schlimmer werden. In den Anfangsjahren der AKP zogen viele Akademiker mit türkischen Wurzeln von Deutschland zurück, die Industrie in Bursa hat davon sehr profitiert, heute sieht es schon anders aus.



    Alleine die massive Beschränkung der Meinungsvielfalt und der Druck auf die republikanischen Türken schaffen dauerhaft Gräben und Konflikte, die sind langfristig nur durch eine massive Versöhnung auszugleichen, bleibt das aus, könnte das Land einen echten Bürgerkrieg erleben, da das Militär islamisiert und diszipliniert wurde. Instabilität droht jetzt auf einem ganz anderen Level. Die EU hält auch deswegen an Erdogan fest, obwohl es langfristig mit ihm kaum Perspektiven oder Grundlagen gibt, ja geben kann.

  • "Nur mit dem Einsatz aller staatlichen Ressourcen, einer infamen Denunziationskampagne gegen Kılıçdaroğlu, der Behauptung, er sei der von Gott unterstützte Anführer des Landes und dem Einsatz einer politischen Justiz, konnte er sich noch einmal knapp über die Ziellinie retten."



    ... und offenbar mit "wiederbelebten Wähler*innen - laut einem Bericht aus der TAZ:



    taz.de/Wahlen-hier...r-Tuerkei/!5933385

    • @Uranus:

      ... ich hab das unter der Kopfrubrik "Wahrheit" gelesen. War das ernst gemeint?

      • @LeKikerikrit:

        Oh, mag gut sein, dass ich da unsauber gelesen habe.

  • Ein Sieg sieht anders aus. Es gab keinen fairen Wettkampf zwischen den Parteien. Die Ausgangsbedingungen sind derart von Regierung manipuliert, dass dies weder eine demokratische, noch eine faire Wahl war, sondern eine Show. Das Gute ist, dass Erdoğan am Ende seines Lebens und seiner Bedeutung angelangt ist, das Schlechte ist, dass alle dick und doppelt für diese Regierung zahlen werden und müssen. Die Zerstörung in den Erdbebengebieten zeigt, wo und wie das enden kann.

    • @Andreas_2020:

      "Das Gute ist, dass Erdoğan am Ende seines Lebens und seiner Bedeutung angelangt ist..."

      Der Mann ist 69 und sitzt am den Schalthebeln der Macht!

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Aber nicht mehr ewig. Und in Wirklichkeit ist er angezählt. Ich glaube es gab auch Wahlfälschungen....

        • @Andreas_2020:

          "Ich glaube es gab auch Wahlfälschungen..."

          Wahrscheinlich. Aber das spielt keine Rolle. Er wird die Macht nutzen, um seine Stellung weiter auszubauen. Durchaus möglich, dass es beim nächsten Mal nur noch einen Zählgegner gibt. Leute wie Erdogan lassen sich nicht abwählen...

          • @warum_denkt_keiner_nach?:

            Genau so ist es. Selbst wenn die Wahlen fair ablaufen würden, sind inzwischen viele Menschen direkt und indirekt in dem korrupten System verstrickt. Um einer "Bestrafung" zu entgehen, wird es quasi zu einem Selbstläufer.



            Der letzte Absatz in:

            taz.de/Neuer-Praes...931313&s=Paraguay/

  • Was wäre denn an Kemalismus, türkischem Nationalismus und Pro-EU-Haltung in irgendeiner Form "links" gewesen?

    • @BigRed:

      Sollte eine Antwort auf Farang sein.

      Bin nicht der grösste Fan des Kommentarsystems der TAZ. :)

  • " Im Frühjahr kommenden Jahres stehen die Kommunalwahlen an."

    Ich kann diesen Zweckoptimismus nicht verstehen. Erdogan ist weiter Präsident und hat die Mehrheit im Parlament. Er wird also die nächsten Jahre nutzen, um sein Herrschaftssystem weiter auszubauen und das Land in seinem Sinne umzugestalten.

    Warum muss man sich an Strohalme klammern und die Situation schön schreiben?

  • Ein weiterer Erklärungsamsatz für den Wahlsieg Erdogans, zur Ergänzung der schon genannten:



    Indem Kilicardoglu meinte, im Wahlkampf die “alevitische Karte” spielen zu müssen (um sich vom Islamo-Nationalismus eines Erdogan und seiner AKP abzusetzen), hat er damit nur die (alten) inneroppositionellen Gräben zwischen säkular-nationalistischen Kemalisten (linke Variante CHP, rechte Variante IYI) und den linken “prokurdischen” (HDP/YSP) sowie internationalistisch orientierten ((TIP) Kräften wieder aufgerissen.



    Die alevitischen Glaubensangehörigen unter der türkischen und kurdischen Bevölkerung können mit ihren etwa 20% Bevölkerungsanteil zwar durchaus wahlentscheidend sein - worauf Kilicardoglu wohl setzte - , stehen seit jeher jedoch in einem Dilemma zwischen der Loyalität zum türkischen Staat (der sie immer noch ans Messer lieferte) und den laizistischen Prinzipien Atatürks auf der einen und den linken türkischen wie kurdischen revolutionären Bewegungen auf der anderen Seite.



    Dieser Spagat ist nicht zu schaffen und Kilicardoglu steht mit seiner ganzen Person und seinem politischen Programm für genau dieses Dilemma. Sein schlussendliches Anbiedern bei den Kräften, die die chauvinistische Überhöhung des Türkentums propagieren, zeigt, wohin die Reise gehen kann. Tragische Figur.



    Aleviten, schaut genau hin, wenn es um die Frage geht: which side you are stand on?

  • Natürlich nach unserem Bundeskanzler und all den anderen Führern der Freien Welt wünsche auch ich Herrn Erdogan alles, Gute, persönliches Wohlergehen und weiterhin viel Erfolg bei der Gleichschaltung der Medienlandschaft, Hetze gegen die Opposition und Andersdenkende überhaupt. Nicht vergessen: auch in seinem Kampf gegen den Terrorismus, die Kurden usw.

  • Die Türken freuen sich über die hohe Inflation und die Bayern über horrende Mieten in München.



    Oazapt is!

  • Wer die Medien beherrscht, gewinnt auch die Wahlen.



    Wäre es ein fairer Wahlkampf gewesen, sähe das Ergebnis anders aus.

  • War er der falsche Gegenkandidat?



    Nein natürlich nicht.



    die Medien in der Türkei sind allesamt pro Erdogan bzw. von AKP-Kräften kontrolliert.



    Das ist die Zukunft: Ungarn, Putin, Polen, Türkei, die Langzeitherrscher mit Massenanhang, weil gehorchen einfacher ist als selbst denken. Erdbeben: egal.

  • Das schöne an der Demokratie ist ja doch, dass wir alle immer mal wieder feststellen dürfen, wer eigentlich für den ganzen Mist verantwortlich ist: wir selber. In diesem Sinne herzlichen Glückwunsch!

    • @Benedikt Bräutigam:

      ..da wir nur in einer " repräsentativen Demokratie " leben , kann ich Ihre Meinung absolut nicht teilen und fühle mich ganz und gar nicht nicht verantwortlich...



      Meine Familie und ein großer Teil von unseren Freunden, Bekannten und Mitarbeitern übrigens auch nicht !

  • Die Anhänger Erdogans lieben halt ihren Rais - ihre Hoffnung, das Licht ihres Lebens. Was soll man da machen.

  • Also war es so: Es gab eigentlich eine Mehrheit, die Erdogan nicht mehr wollte, weil er ein übler, undemokratischer Autokrat ist, hat dann aber doch zumindest teilweise für ihn gestimmt, weil der Gegenkandidat der falsche war.

    Ja, das macht Sinn, da stimmt man dann natürlich lieber doch für den leider doch ein wenig faschistischen Kandidaten.

    Tatsache ist einfach, das ein großer Teil der Türken (und das besonders in der Diaspora, wo man mit den Folgen allerdings glücklicherweise auch weniger zu tun hat) ihn nach wie vor offensichtlich super findet.

  • Das ist ein enttäuschendes Ergebnis.



    Die Mehrheit der Türkinnen und Türken hat sich für Autokratie und gegen Demokratie entschieden.



    Die türkische Gesellschaft hat mit Ihrer Wahl die Abschaffung einer freien Justiz und das massive Vorgehen Erdogans gegen Presse und Opposition befürwortet. Es ist klar, dass sich die Türkei somit gegen die EU und für Nationalismus entschieden hat.



    Dass insbesondere die im Ausland lebenden Türkischen MitbürgerInnen hier als Zünglein an der Waage für Erdogan gestimmt haben, läßt tief blicken.

  • Wenn man hier seit Wochen die Berichterstattung verfolgt könnte man meinen Erdogan sei nur mit Glück nochmal Präsident geworden. Tatsächlich aber sitzt er doch fester im Sattel als jemals zuvor - ernsthafte politische Konkurrenz? Fehlanzeige 🤷‍♂️



    Es brauchte schon eine Allianz aus sechs Parteien ("Tisch der Sechs") und dazu nochmal die Zusage von sieben oder acht Kleinstparteien Kemal Kilicdaroglu zu dulden, um überhaupt einen Gegenkandidaten zu "erschaffen".



    Dieser Gegenkandidat sollte für Kemalismus, türkischen Nationalismus, ein parlamentarisches Regierungssystem und Pro-Europäismus stehen und wanzte sich doch völlig ohne Scheu zuletzt an ultrarechte Kräfte heran nur um irgendwie eventuell noch ein paar Stimmen zu gewinnen - ein "linker" Kandidat der offen gegen syrische Flüchtlinge hetzt, Glückwunsch dazu.



    Wer glaubt denn ernsthaft das Kemal Kilicdaroglu unter diesen Bedingungen auch nur irgendwie eine stabile Politik zustande gebracht hätte ohne das ihm dieses Bündnis um die Ohren geflogen wäre...(?) - CHP und HDP waren nur unter größten Bauchschmerzen und nach der Zusage von Posten dabei, die IYI zwischenzeitlich ausgetreten.



    Erdogan ist wahrlich kein Segen (mehr) für die Türkei, aber aktuell doch alternativlos.

  • "Viele Menschen aus der Opposition sind überzeugt, dass Erdoğan gegen den populären Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu, den er rechtzeitig vor den Wahlen durch einen politischen Prozess aus dem Rennen genommen hat, wahrscheinlich verloren hätte."

    Dieser Meinung stimmen viele Menschen in der Türkei zu. Das war einige Monate vor der Wahl ein fieser Schachzug Erdogans. Ekrem Imamoglu (53) war in der Türkei sehr beliebt. Ich denke u.a. auch an die vielen polit. Gefangenen, die weiterhin in den Gefängnissen schmachten müssen.

    • @Thomas Kniep:

      Überzeugt sein, dass etwas wahrscheinlich passiert wäre ist, da bin ich überzeugt, wahrscheinlich eine Nonsens-Aussage.

      Und tatsächlich ist es so, dass abgesehen von den selbst im türkischen Rechtssystem mindestens zweifelhaften Aktionen von Erdogan bey, offensichtlich etwa die Hälfte der türkischen Wähler*innen ihn und seine Politik gutheißen.



      Konservatismus bis hin zur Obrigkeitshörigkeit, Vermischung von Religion und Politik und Unehrlichkeit sind ja auch nicht nur in der Türkei in der Mehrheit verankert. In Bayern ist gerade Wahlkampf, und ich bin mit Blick auf einen wie Söder froh, dass wir in Deutschland im Bund und in den Ländern noch anders verfasst sind als die Türkei. Das gilt es mit dem noch weiteren Blick auf die AfD mit großer Energie zu verteidigen.

  • Das er gewinnt war doch schon vor Wochen klar, die deutschen Medien wollten es nur nicht wahrhaben. So wie klar ist, was was morgen geschrieben wird, nämlich dass diese Wahl nicht korrekt gewesen sei. Vielleicht sollten wir einfach mal akzeptieren, dass die türkische Mehrheit Erdogan gewollt und gewählt hat. Nein, ich hätte ihn ganz sicher nicht gewählt.

    • @Rudi Hamm:

      Klar ist, dass die Zuspitzung des Wahlkampfs auf das Thema sunnitisch-islamo-nationalistischer “Reis” vs. alevitisch-laizistisch-demokratischer “Dede” von beiden Seiten sich für die Opposition als Eigentor erwiesen hat.



      Es ist ja nicht nur eine politisch-ideologische Auseinandersetzung, was da in der Türkei passiert, es hat auch etwas von Kulturkampf, übrigens genau so in der deutschtürkischen Community hierzulande (beides lässt sich natürlich nicht trennscharf voneinander abgrenzen). Wer aber die Entwicklung und den aktuellen Zustand der türkischen Gesellschaft kennt, konnte wissen, in welche Richtung die Reise geht.



      Der konservativ-islamische roll-back der Türkei ist übrigens ein Phänomen, der schon lange vor Erdogan beobachtet und beschrieben wurde.

  • War es doch ein Fehler der Opposition, Kilicardoglu nominiert zu haben? Es ist jedoch jetzt müßig, darüber zu spekulieren, ob Imamoglu der bessere Kandidat gewesen wäre. Auch er hätte inhaltlich nichts anderes vertreten als Kilicardoglu, auch er hätte ein politisch höchst fragiles, heterogenes Oppositionsbündnis angeführt.



    Die Zeit für den „Reis“ ist noch nicht abgelaufen, wenn er auch angeschlagen ist. Das gilt es zu akzeptieren. Auch wenn es in dem einen oder anderen Fall zu Wahlmanipulationen gekommen sein sollte, ist sein Stimmenvorsprung dennoch einfach zu groß.



    Ich denke, das verzweifelte Anbiedern Kilicardoglus bei den nationalistisch-säkularen Parteien hat ihm im linken und liberalen Lager mehr Stimmen gekostet als er am Ende auf der rechten Seite gewonnen hat.



    Ich persönlich bin jedenfalls von einem Oppositionskandidaten enttäuscht, in dem zu Anfang des türkischen Wahlkampfes viel Hoffnung gesetzt wurde, der sich öffentlich zum Alevitentum und damit zu Demokratie, Toleranz, Frieden und Religionsfreiheit bekannte, in der Zielgeraden jedoch eine aus meiner Sicht fatale, im Grunde unverständliche politische Kehrtwende vornahm.



    Zur Haltung der türkischen und kurdischen Linken in der Türkei, die unter dem Dach der neugegründeten YSP (Linksgrüne Partei) mit einer gemeinsamen Liste antraten (da die HDP als bis dahin drittstärkste politische Kraft im türkischen Parlament permanent vom Parteiverbot bedroht ist) ist vielleicht folgender Link aufschlussreich:



    jacobin.de/artikel...an-koca-interview/

  • Was genau meint Herr Gottschlich, dessen Berichte ich sonst wirklich hochachte, mit dem " eigentlich längst abgeschlagenen Teil" der Türkei? Dasselbe wie die hocharrogante und ergo unkluge Präsidentschaftskandidatin Clinton mit "fligh-over-states" in den USA? Oder was früher das "Proletariat" war?



    Diese "abgeschlagenen Teile" gibt es in allen Gesellschaften und der Glaube, dass irgendeine höhere Vernunft der Geschichte dies im weiteren Zeitverlauf schon richten werde, ist schon zu oft widerlegt worden. Zumindest, wenn man die Zeitdauer eines Menschenlebens als Maßstab für relevante Veränderungen heranzieht.

    • @Ignaz Wrobel:

      Ne, bei Clinton hiess das "deplorables" (und bei Obama "They get bitter, they cling to guns or religion or antipathy to people who aren't like them or anti-immigrant sentiment or anti-trade sentiment as a way to explain their frustrations.")



      In Deutschland kanzelt man solche Wähler als "Globalisierungsverlierer" ab.

    • @Ignaz Wrobel:

      Die Kritik am arroganten, ihre eigenen Unterschichtsanhänger düpierenden und speziell an der Kandidatin Hillary Clinton festzumachenden Wahlkampf der US-Democrats in 2017 teile ich.



      Mit den türkischen gesellschaftlichen Verhältnissen, der politischen “Landkarte” und dem Parteiensystem dort ist das allerdings nur bedingt vergleichbar. Das gilt übrigens auch für den Vergleich Erdogans mit Trump.



      Ich würde mal behaupten, dass es sich bei den Erdogan-Anhängern keinesfalls um “abgeschlagene” Bevölkerungsgruppen handelt, jedenfalls nicht ausschließlich, weder in der Türkei noch hier in Deutschland, wo die Zustimmung zu Erdogan ja noch viel höher ausfällt.



      Wir können uns also noch weiter den Kopf zerbrechen (oder die Haare raufen) über den Wahlsieg Erdogans … obwohl, einige Anhaltspunkte gibt es schon, die in der Debatte auch schon benannt wurden. Die haben im Fall der Türkei nur wenig mit der Prekariats-These zu tun.