Wahlen in der Türkei: Urnengang im Kartenhaus

Erdoğan hat ein fragiles Finanzsystem mit starken Abhängigkeiten geschaffen. Die wirtschaftliche Dauerkrise erhöht auch den Druck auf die Demokratie.

Erdogan hält eine Rede

An ihm führte wieder kein Weg vorbei: Präsident Erdoğan Ende Mai in Ankara Foto: Umit Bektas/reuters

Recep Tayyip Erdoğan dürfte in einem Punkt richtiger liegen, als er selbst denken mag. Als der türkische Präsident in der Nacht zu Montag seinen Wahlsieg verkündete, sagte er, seine Mitbürger hätten bei der Abstimmung „ihren Willen an den Urnen verteidigt“. Immer wieder hat er in seiner Kampagne den demokratischen Willen der Türkei betont, und man muss sagen, dass er recht behalten hat – entgegen seiner eigenen Politik, die Opposition im Land systematisch zu schwächen.

Es scheint paradox: In der Türkei wählt eine Mehrheit erneut Erdoğan, einen religiös-nationalistischen Präsidenten, der das Land zuletzt in eine massive Wirtschaftskrise geführt hat. Der Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu kämpft sich auf 48 Prozent der Stimmen. Das ist angesichts der geschwächten Rechtsstaatlichkeit in der Türkei und einer massiven Denunziationskampagne gegen ihn ein Erfolg.

Genau hierin zeigt sich auch der demokratische Wille in der Türkei, den Erdoğan eigentlich meinen sollte: Trotz ihrer systematischen Benachteiligung ist die Opposition der Regierung bei einer Wahl so gefährlich geworden wie in den vergangenen 20 Jahren nicht. Das ist angesichts der hohen Erwartungen, die durch Prognosen über einen Sieg der Opposition beflügelt wurden, zwar ein schwacher Trost für die Menschen in der Türkei. Doch die demokratischen Institu­tio­nen im Land haben sich als bemerkenswert resilient erwiesen.

Das zeigt sich an der hohen Wahlbeteiligung mit über 86 Prozent am 14. Mai und noch 84 Prozent bei der Stichwahl am Sonntag. Die Be­ob­ach­te­r*in­nen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bezeichneten die Wahlen als „gut organisiert“. Kritik äußerte die Organisation dagegen wiederholt an den ungleichen Wettbewerbsbedingungen und „einem ungerechtfertigten Vorteil des Amtsinhabers“ etwa wegen einer klaren Benachteiligung der Opposition in den Medien des Landes und „den anhaltenden Beschränkungen der Meinungsfreiheit“.

Wahlbetrug unwahrscheinlich

Trotzdem haben auch die Oppositionsparteien bis zuletzt keinen Einspruch gegen das Wahl­ergebnis erhoben. Die CHP von Kemal Kılıçdaroğlu hatte nach eigenen Angaben anderthalb Jahre an der Wahlvorbereitung gearbeitet und dabei auch die parteiinterne Wahlbeobachtungsmission massiv verstärkt. Im Vorfeld der Stichwahlen bezeichnete die CHP ihre Anstrengungen diesbezüglich als „sehr erfolgreich“. Man muss davon ausgehen, dass die Türkei wirklich so abgestimmt hat, wie es das Ergebnis zeigt.

Der Alltag in der Türkei wird derzeit von einer massiven Wirtschaftskrise bestimmt, für deren Fortgang viele Menschen im Land Erdoğan verantwortlich machen, darunter durchaus auch seine eigenen Wähler*innen. Nach seiner Wiederwahl verlor die türkische Lira erneut an Kraft: Der Wechselkurs zum Euro liegt bei inzwischen etwa 22 zu 1, noch 2017 waren 4 Lira etwa 1 Euro wert.

Wer Schulden im Ausland hat, und das trifft auf die privatwirtschaftlichen Unternehmen in der Türkei in großem Maße zu, muss diese Verbindlichkeiten immer teurer bezahlen. Mit schuldenfinanzierten Ausgaben wird die Wirtschaftsleistung weiter aufrechterhalten. Erdoğan übt dafür auch Druck auf die Zentralbank aus, damit sie den Leitzins niedrig hält und Unternehmen günstige Kredite aufnehmen können.

Die Auswirkungen dieser Geldpolitik sind in der Türkei überall zu spüren: an dem Run auf Sachwerte, an den massiven Preissteigerungen bei Immobilien, an den stark gestiegenen Lebensmittelpreisen. Die Inflation vernichtet die Kaufkraft der Menschen, dennoch wird die Konjunktur des Landes durch ein massives Kreditprogramm weiter aufgeheizt. Die National-Religiösen haben in der Türkei ein fragiles Kartenhaus geschaffen, das bei dem leisesten Stoß in sich zusammenzufallen droht.

Erdoğan hat sich unentbehrlich gemacht

Was passiert, wenn die Nachfrage vollends einbricht? Was passiert, wenn die Vereinigten Arabischen Emirate als einer der größten Gläubiger der Türkei ihre Kreditvergabe überdenken? Erdoğan hat sich in dieser fragilen Wirtschaftsordnung unentbehrlich gemacht: Er verteilt die auf Pump finanzierten Konjunkturgewinne in Form von Mindestlohnsteigerungen und Rentenerhöhungen. Diese Geldspritzen verpuffen wegen der Inflationsrate zwar direkt wieder, schaffen aber kurzzeitige Linderungen, die besonders vor den Wahlen auf Zuspruch stoßen.

Gleichzeitig schafft er es durch geopolitisches Taktieren immer wieder, Deviseneinnahmen und Direktinvestitionen zu akquirieren: Gute Wirtschaftsbeziehungen zu Russland und in die Ukraine gleichermaßen sind für die türkische Regierung kein Widerspruch, die Wiederaufnahme der vollständigen diplomatischen (und wirtschaftlichen) Beziehungen zu Israel im vergangenen Jahr ist es auch nicht, trotz der Beteiligung der Hüda Par, die mit der türkischen Hizbollah-Bewegung assoziiert wird, an Erdoğans Bündnis.

Der Präsident konnte erfolgreich das Image eines Machers entwickeln, der die Wirtschaft des Landes gegen den westlichen Druck und Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank behauptet. Auch ein Kartenhaus ist ein Haus, in dem man sich einrichten kann. Interessant sind übrigens auch die Krisengewinnler dieser Wirtschaftspolitik: Die deutschen AKP-Wähler*innen profitieren mit ihren starken Euro-Einkommen von dem finanziellen Niedergang der Türkei, weil sie sich dort die teuren Mittelmeergrundstücke und Luxusappartements kaufen können.

Die Opposition hat es nicht geschafft, hier ein alternatives Szenario zu entwerfen. Sie ist mit ihren Versprechen von Rechtsstaatlichkeit und Ordnung, mit denen auch ein vernünftigeres Investitionsklima in der Türkei zu schaffen wäre, nicht bei den Menschen durchgedrungen. Je länger nachhaltige Lösungen der türkischen Dauerkrise auf sich warten lassen, desto größer werden auch die Risiken für die Demokratie des Landes.

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Berichtet seit 2022 als Korrespondent im Parlamentsbüro der taz unter anderem über die FDP und die Union. Studium der Sozialwissenschaften und Volkswirtschaftslehre Köln, London und Moskau.

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