Ende des Assad-Regimes: Momente, die niemand den Syrern nehmen kann
Aufgebrochene Zellen, umgestürzte Statuen, wiedervereinte Familien: Syrien ist ein anderes Land. Ein Essay über die Bedeutung dieses historischen Augenblicks.
Ich habe meine eigene Assad-Zeitrechnung. Als 20-Jähriger habe ich unter Vater Hafiz al-Assad, in Damaskus für ein Auslandssemester studiert. Die Angst der Menschen war schon damals greifbar. Über Politik wurde nicht geredet, denn die Spitzel des Regimes waren überall. In den letzten Jahren stand ich in Damaskus als Journalist auf der Schwarzen Liste, da meine Berichte dem Regime nicht genehm waren. Heute, mit 61 Jahren, erlebe ich nach einer auf den sozialen Medien und vor dem Fernseher verbrachten Nacht das Ende des Sohnes Baschar al-Assad. Das Regime ist Geschichte.
Es ist ein historischer Moment, für alle Syrer und Syrerinnen, ob sie im Land sind oder zu den 12 Millionen zählen, die vor dem brutalen Regime in alle Teile der Welt geflohen sind. Was sie in den letzten Stunden in Syrien und in Damaskus erleben, sind hochemotionale Szenen. Der Klassiker sind die allerorts vom Sockel geholten Assad-Statuen, einst Symbol der zementierten Macht des Regimes. Aber es sind vor allem die Szenen vor den Kerkern des Regimes, die besonders bewegen.
Zellen wurden von den Rebellen aufgebrochen, hinter denen Menschen ungläubig auf die geöffneten Türen starren. Allen voran das berüchtigte Sednaya-Gefängnis, unter den Syrern auch bekannt unter dem Namen „Der Schlachthof“. Kleine Kinder kommen aus den Zellen voller Frauen gelaufen. Sie haben in ihrem Leben nichts anderes als Assads Kerker gesehen. Vor einer der Geheimdienstzentralen mitten in Damaskus laufen ausgezehrte Männer in Unterhosen zerstreut über die Straße ihrem neuen Leben entgegen.
Herzzerreißende Szenen vor Gefängnissen
Das sind keine Einzelfälle. Über hunderttausend Menschen sind in den Kerkern des Regimes verschwunden. Oft wissen deren Angehörige nicht, ob sie noch leben, exekutiert oder zu Tode gefoltert wurden. Es gibt herzzerreißende Szenen der Wiedervereinigung zwischen den Freigelassenen und deren Müttern. Es werden Fotos von jungen Männern in der Blüte ihres Lebens verbreitet, bevor sie in Gefangenschaft landeten. Heute sind Bilder ihrer Freilassung zu sehen, auf ihnen alte ausgemergelte Männer mit grauem Bart und ausgefallenen Zähnen.
Eine Gruppe junger Männer kann ihr Glück nicht fassen. Am Morgen sollten sie exekutiert werden. Eine halbe Stunde zuvor ergriffen ihre Wächter die Flucht vor den Rebellen. Nicht alle Geschichten haben ein Happy End. Viele Menschen suchen in den letzten Stunden verzweifelt nach ihren Vätern, Brüdern oder Schwestern, ohne zu wissen, ob sie überhaupt noch am Leben sind. Eine Mutter steht vor dem Gefängnis. Ihr Sohn sei dort ermordet worden. Aber jetzt, sagt sie, könne sie wenigstens in Frieden sterben. In Trauer, aber doch erleichtert, dass es vorbei ist.
Viele der Gefangenen sind komplett verwirrt. Manche glauben sogar, dass noch der Vater des jetzt gestürzten Präsidenten, Hafiz al-Assad, an der Macht ist. Sie leben noch, aber die Folterknechte des Regimes haben ihre Köpfe und Seelen für immer zerstört.
All das sind Momente, die sich in den letzten Stunden kollektiv ins syrische Gedächtnis eingebrannt haben, so wie der Mauerfall damals in Deutschland. Es sind Momente, die niemand den Syrern nehmen kann, bei aller Skepsis und Ungewissheit, wie es nun eigentlich weitergeht.
Denn das ist völlig offen. Unkenrufe warnen vor einem neuen Afghanistan, war doch eine der wichtigsten Rebellengruppen einst mit al-Qaida affiliiert. Manche der Rebellen haben als militante radikale Islamisten im Irak gegen die US-Truppen gekämpft, darunter auch der Chef der führenden Rebellengruppe HTS, Abu Muhammad al-Jolani. Heute redet er aber anders, etwa im Interview mit CNN. Er spricht davon, auch religiöse Minderheiten schützen zu wollen und ein Syrien der Institutionen aufzubauen, an dem alle teilnehmen. Die Tage der Willkür sollen vorbei sein. Niemand weiß: Hat al-Jolani Kreide gefressen und ist eigentlich ein radikal-islamistischer Wolf im demokratisch moderaten Schafspelz? Oder ist es doch so, wie er selbst sagt, dass er über die Jahre einen politischen Lernprozess durchgemacht hat, der ihn reifer und weiser gemacht hat? Man würde Syrien Letzteres wünschen.
Andere prophezeien Syrien ein ähnliches Schicksal wie Libyen nach dem Sturz Muammar al-Gaddafis. Ein Land, das nun im Chaos versinken wird, im Kampf zwischen den verschiedenen bewaffneten Milizen, um die Macht im Land. Doch zumindest bis zu diesem Zeitpunkt scheinen die Rebellen zu versuchen, einen friedlichen und geordneten Übergang der Macht zu versuchen. Offensichtlich waren sie mit dem letzten Premierminister Assads, Mohammed Ghazi al-Jalali in Kontakt. Denn Assad war gerade einmal ein paar Minuten nach seiner Flucht aus Damaskus mit seinem Flugzeug in der Luft, da meldete sich bereits sein bisheriger Premier von zu Hause in Damaskus per Videobotschaft an die Nation. Er verkündete, mit den Rebellen kooperieren zu wollen und die staatlichen Institutionen auf eine ordentliche Weise zu übergeben.
Ein starker Einsatz: Der Diktator und seine Familie waren über Nacht geflohen, und sein Regierungschef verhält sich mutig wie der Kapitän im sinkenden Schiff, um den Staat und dessen Institutionen zusammenzuhalten. Es ist auch ein Zeichen an den gesamten Assad-Verwaltungsapparat, nun nicht in Panik zu verfallen. Zu oft haben die Araber schmerzhaft erlebt, was passiert, wenn sich ein Staat auflöst, etwa in Libyen oder im Irak. Und als hätte al-Jolani nur auf dieses Zeichen gewartet, erließ er kurz darauf den Befehl an seine Einheiten in Damaskus, in keine staatlichen Institutionen einzudringen. Beide Seiten versuchen, den Kollaps des alten Regimes in geordnete Bahnen zu lenken.
Ob das am Ende alles so funktioniert wie präsentiert, sei dahingestellt. Sind die Kämpfer der einstigen al-Qaida-nahen Nusra-Front und der daraus entstanden HTS wirklich zu weltoffenen Islamisten geworden, die in Syrien ein „all inclusive“-System schaffen wollen? Und wie viele Beispiele gibt es in der Geschichte, in der die Männer mit den Waffen am Ende ihre Macht an eine zivile Verwaltung abgeben, die dann vielleicht sogar Wahlen organisiert? „Etwas unwahrscheinlich, möchte man auf die erste Frage, und „nicht viele“ auf die zweite antworten. Aber wer weiß, vielleicht wird Syrien zu einem leuchtenden Beispiel.
Man würde es den Menschen nach so viel Leid wünschen. Man hat Angst, mit seiner Hoffnung falsch zu liegen und es am Ende vorgehalten zu bekommen, wie naiv man gewesen sei. Aber es lohnt sich, sie dennoch auszusprechen – die Hoffnung, die nicht in Syrien sterben soll. Und man will den Syrerinnen und Syrern eine Chance geben, trotz aller skeptischen Beobachtung von außen. Sie hätten es verdient.
Apropos außen, vieles wird davon abhängen, wie sich die verschiedenen regionalen Köche verhalten, die seit Jahren in der syrischen Küche ihre Süppchen kochen. Die Regionalmächte Türkei mit den Rebellen, der Iran mit dem Regime und Russland als internationale Player. Und was ist mit den USA, deren Soldaten immer noch im Nordosten Syrien stationiert sind? Und wie verhält sich Israel? Die Interessen der Köche könnten unterschiedlicher nicht sein.
Die Türkei möchte den Einfluss der Kurden in Nordsyrien eindämmen. Gleichzeitig will Ankara eine einigermaßen stabile Situation in Syrien schaffen, die die Rückkehr der fast vier Millionen syrischen Flüchtlinge ermöglicht, die heute in der Türkei leben. Der Iran, wenn er schon seinen Einfluss auf Syrien mit dem Ende des Regimes verliert, möchte wenigstens noch irgendwie die Nachschubwege der Hisbollah erhalten. Man fragt sich, was ist hinter den Kulissen gelaufen? Warum gehen die von der Türkei unterstützen Rebellen im Moment relativ zahm vor?
Und warum hat der Iran keine Gegenoffensive mithilfe iranischer Revolutionsgarden und schiitischer Milizen organisiert, um dem Regime Assad doch noch unter die Arme zu greifen? Hat man sich da im Hintergrund auf etwas geeinigt? Die Türkei wirkt auf den ersten Blick wie der Sieger, aber die Häme gegenüber dem Iran bleibt aus. Und auch die arabischen Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien, suchen immer noch eher einen Ausgleich mit ihrem einstigen Erzfeind Iran. Je mehr all diese Länder an einem Strang ziehen, desto größer ist die Chance, dass ein Syrien ohne Assad nicht entgleist.
Es stimmt sicher, dass mit dem Fall des Regimes Assad die Karten in der Region neu gemischt werden. Aber diejenigen, die sie mischen, das sind dieselben geblieben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Getöteter General in Moskau
Der Menschheit ein Wohlgefallen?
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Bombenattentat in Moskau
Anschlag mit Sprengkraft
Weihnachten und Einsamkeit
Die neue Volkskrankheit
Sturz des Assad-Regimes
Freut euch über Syrien!
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf