Ende der Ampelkoalition und Trump-Wahl: Drama pur
Trumpwahl, Ende der Ampelkoalition und alles kulminiert im ARD-Brennpunkt: der historische Abend des 6. November 2024.
„Let it sink in“, sagen Amerikaner, lass es sacken. Die Wendung drückt gut aus, dass es in historischen Momenten diesen vielleicht nur kurzen, aber intensiven Augenblick gibt, an dem die Welt stillsteht, weil man erst realisieren muss, dass wirklich wahr ist, was man da gerade wahrgenommen hat, weil man es zunächst gar nicht glauben kann.
Staunen kann in diesem Augenblick sein, auch gelinder Schrecken, aber auch eine Steigerung des Lebensgefühls. Am Mittwoch gab es einmal wieder so einen historischen Moment. Trumpwahl, wahrlich eigentlich historisch genug. Und dann poppten aber abends auch noch die Eilmeldungen auf, und man starrte auf den Bildschirm und erfuhr vom Ende der deutschen Regierungskoalition. Wahnsinn. Dieses Das-kann-doch-gar-nicht-sein-Gefühl.
Sobald die Nachricht gesackt war, fing vieles schnell wieder zu sprudeln an: der Strom von Meinungen, Spins und politischen Einschätzungen, mit deren Wahrnehmung man Aufregung in Aktion übersetzt. Die Nachrichtenkanäle drehten auf, die sozialen Medien brodelten.
Wie ein Bösewicht bei Shakespeare
Endlich konnten alle Lindner wie einen Bösen von Shakespeare ausbuhen; für einen Abend stand Scholz dagegen wie ein tragischer Held da. Übersprudelnde Meinungsproduktion gehört zu historischen Momenten. Aber auch dieser kontemplative Moment des Sackenlassens gehört dazu.
Er sensibilisierte für aufblitzende Details. Wie textsicher Olaf Scholz plötzlich war! Wie gut er dastand als die Verkörperung des aggressiv Staatsmännischen, innerlich simmernd vor Empörung, und zugleich des pflichtbewussten Kapitäns, der das sinkende Schiff noch im Untergang aus der Gefahrenzone steuern will.
Über Lindner: „Zu oft hat er mein Vertrauen gebrochen.“ Drama pur. Emotionaler können Hanseaten nicht. Wie ungewohnt fahrig dagegen Wirtschaftsminister Robert Habeck in seinem ersten Statement wirkte, auch er musste das alles offenbar erst einmal sacken lassen. Und wie aufdringlich dieser Zaun dabei im Hintergrund wirkte.
Andere Details: Korrespondenten vor Ort, die, um Wartezeiten zu überbrücken, analysierend vor sich hin plapperten. Moderatorinnen, die sie rüde unterbrachen, wenn es Neues zu vermelden gab. Oder die Geschichte der Krawatte. Bei seinem Statement trug Scholz sie selbstverständlich, später, als er vor der SPD-Fraktion seinen Beifall abholte, hatte er sie abgenommen. Wann nehmen Spitzenpolitiker an so einem historischen Tag ihre Krawatte ab? Im Fahrstuhl? Und wohin stecken sie sie? In die Jacketttasche? Oder gibt man sie einem Referenten?
Neben den großen Fragen – Ampelkoalition: von vornherein zum Scheitern verurteilt oder vertane gesellschaftliche Chance?, Neuwahlen: richtig oder falsch?, und überhaupt: Wie geht es jetzt weiter? – lässt man auch solche Details sacken. Wahrscheinlich vergisst man sie wieder. Aber an die Energie dieses Tages, die sie einen hat wahrnehmen lassen, wird man sich erinnern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Israels Brüche der Waffenruhe
Die USA sind kein neutraler Partner