Elternwünsche in Coronazeiten: Selbst gemachtes Leid
Nach einer Umfrage in Niedersachsen kann sich die Hälfte der befragten Eltern nicht vorstellen, Kinder privat zu betreuen. Das ist fantasielos.
Z urecht beklagen Eltern seit Wochen, dass die Bedürfnisse von Familien zu wenig berücksichtigt werden, wenn es um Lockerungen der Pandemiemaßnahmen geht.
Aber recht machen kann man es ihnen auch nicht, wie die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage in Niedersachsen zeigen. Einig sind sie sich nur darin, dass die Kindertagesstätten vor den Sommerferien wieder öffnen sollen, das wollen drei Viertel. Noch mehr würden wohl die Frage „Soll Corona aufhören“ mit „ja“ beantworten.
Dass sich Eltern uneins sind, ist wenig verwunderlich, weil die Familien- und Arbeitssituationen so unterschiedlich sind. Auf einer Skala von fünf Stufen gibt ein Drittel an, gut klarzukommen oder wenig belastet zu sein, ein weiteres Drittel hat das Gefühl, sich zu zerreißen oder eine Stufe davorzustehen.
Aber dass sich die Hälfte nicht vorstellen kann, Kinderbetreuung privat zu organisieren, verblüfft. Bis Mittwoch galten bundesweit strenge Kontaktverbote. Doch wie viele Kinder durften zwei Monate lang nicht einmal die beste Freundin oder das Nachbarskind zum Spielen treffen?! Es ist anzunehmen, dass die meisten Eltern früher oder später Ordnungswidrigkeiten begangen haben, um ihren Kindern Leid zu ersparen.
Jetzt ist das Kontaktverbot gelockert– aber die Hälfte der Befragten will lieber Kinder dem höheren Infektionsrisiko im Kindergarten aussetzen, anstatt sie zu Hause spielen zu lassen?
Auch kurios: Ein Viertel lehnt eine Corona-Elternzeit ab, 17 Prozent der Befragten haben dazu keine Meinung. Sie verzichten freiwillig auf die Wahl, während der Pandemie zu arbeiten oder zu Hause die Kinder zu betreuen?
Corona hat in vielen Bereichen zu kreativen, pragmatischen Lösungen geführt. Aber wenn es um das Leben mit Kindern geht, dann fehlt vielen Deutschen die Fantasie, dass es auch ohne institutionelle Kinderbetreuung gehen kann. Oder sie haben sich damit abgefunden, dass nur Kindertagesstätten Mütter von Reproduktionsarbeit entlasten können.
Dabei würden weder ein Corona-Elterngeld noch privat organisierte Kinderbetreuung die Situation für berufstätige Mütter verschlimmern. Das jetzt abzulehnen, ist selbst gemachtes Leid.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz