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Einseitiger WahlkampfEs reicht vorne und hinten nicht

Volkan Ağar
Kommentar von Volkan Ağar

In diesem Wahlkampf geht es vor allem um Migration. Probleme wie Kinderarmut oder Wohnungsnot gehen unter. Wo bleiben Maßnahmen gegen soziale Verwahrlosung?

Hier könnte Ihre Werbung stehen – leere Plakatwände in Hannover. Wo bleiben die sozialen Inhalte? Foto: Julian Stratenschulte/dpa

E s reicht, es reicht, es reicht. Wie viel eigentlich noch? Kinderarmut, Altersarmut, Wohnungsnot. Was kommt vielleicht als Nächstes? Das sind alles keine Zufälle, sondern die Folge einer Kette einer falschen jahrelangen Sozialpolitik.

Diese Sätze kommen Ihnen möglicherweise bekannt vor. Das liegt daran, dass sie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder mit etwas anderem Inhalt nach der Gewalttat von Aschaffenburg, bei der ein Mann aus Afghanistan ein Kind und einen Mann getötet hatte, vorgetragen hat.

Wie viele andere vor und nach ihm hat der CSU-Politiker damit eine direkte, kausale Verbindung zwischen Gewalttaten und der Einwanderung von Menschen hergestellt. Dabei ist dieser behauptete Zusammenhang ungefähr so stichhaltig wie die verschwörungsgläubige Verbindung zwischen der Coronapandemie und dem herbeifantasierten Versuch dunkler Mächte, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Zum Glück hat es dieses Geschwurbel nicht in den Mainstream geschafft.

Eine rechtsextreme Verschwörungserzählung bestimmt den Wahlkampf

Mainstream geworden ist dagegen, wie sich zuletzt eindrucksvoll im Bundestag und in deutschen Talkshows beobachten ließ, eine andere extrem rechte Verschwörungstheorie: die Erzählung vom großen Austausch. Diese stilisiert die vermeintlich unkontrollierte Einwanderung zum großen existenziellen Problem und zur alles entscheidenden Identitätsfrage westlicher Gesellschaften hoch.

Selbstbewusst eigene Themen setzen

Bis vor wenigen Jahren verbreiteten peinliche Nazi-Hipster diese Fantasie noch auf Youtube. Heute bestimmt sie den deutschen Wahlkampf. Der Begriff Zustrombegrenzungsgesetz, wie die Union ihren Entwurf genannt hat, könnte aus der Feder von Martin Sellner stammen.

Dabei gibt es so viele echte Probleme in diesem Land. Die Po­li­ti­ke­r:in­nen und Parteien, die das fiese Spiel der AfD und Union nicht mitspielen wollen, könnten diese existenziellen, alles entscheidenden Probleme aufgreifen und einen selbstbewussten eigenen Wahlkampf kämpfen – statt sich die Themen von Rechtsaußen vorgeben zu lassen. Sie sollten doch spätestens in der letzten Woche bemerkt haben, dass nur die Rechten gewinnen, wenn man den Rechten hinterherläuft.

Zu den echten Problemen dieses Landes gehört, dass man Geld in die Hand nehmen muss, wenn man Migration menschenwürdig gestalten will: nicht nur für die Unterbringung, sondern auch die psychologische Betreuung der Menschen, die zu uns kommen, und die wir auch brauchen, wollen wir als demografisch herausgeforderte Gesellschaft funktionsfähig bleiben.

Kein Essen, kein Geld, keine Wohnung

Zu den echten Problemen des Landes gehört aber auch die um sich greifende soziale Verwahrlosung, die in einem so reichen Land wie Deutschland ein besonders großer Skandal ist.

Da sind die Eltern, die sich keine gesunde Ernährung für ihre Kinder leisten können. Fast jedes zehnte Elternteil spart an gesunden und oft teuren Produkten, wie eine aktuelle Forsa-Umfrage im Auftrag der NGO Save the Children zeigt. Und das sind nur diejenigen Eltern, die die Scham überwunden und es zugegeben haben.

Jedes siebte Kind in Deutschland war 2023 armutsgefährdet, kann man beim Statistische Bundesamt nachlesen. Laut der neusten Zahlen dieses Bundesamts waren 2024 weiterhin ein Fünftel der Gesamtbevölkerung von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht.

Da sind die 3,5 Millionen Menschen über 65 Jahren, die im vergangenen Jahr von Altersarmut bedroht waren, wie ebenso aus Zahlen des Statistischen Bundesamts hervorgeht. Damit hat diese Zahl einen Rekordwert erreicht.

Ständig „Brandmauer“ zu sagen, reicht nicht

Da ist die grassierende Wohnungsnot, vielleicht die größte soziale Frage unserer Zeit. Fast täglich gibt es neue Meldungen über die steigende Not bei diesem menschlichen Grundbedürfnis. In Deutschland fehlen aktuell 550.000 Wohnungen und niemand hat einen Plan, wie die gebaut werden sollen – so lautet eine Analyse, die im Auftrag des Bündnisses Soziales Wohnen erfolgt und am Mittwoch veröffentlicht worden ist. Dabei hat die scheidende Bundesregierung nicht einmal die 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr geschafft, die sie sich vorgenommen hatte.

Um es noch einmal mit Markus Söder zu sagen: Ja, es reicht – denn es reicht vorne und hinten nicht.

Sich jetzt auf Union-Bashing zu beschränken und in Dauerschleife das Wort Brandmauer zu wiederholen, ist deshalb zu wenig. Eines haben die letzten Wochen wieder gezeigt: Was das wichtigste Wahlkampfthema ist, das bestimmen Po­li­ti­ke­r:in­nen und Interessensgruppen, die Themen setzen, Journalist:innen, die mit jenen über diese Themen sprechen, und die vielen Menschen, die diese Interviews hören und lesen und das so gesetzte Thema dann in Umfragen als sehr wichtig befinden.

Dass eine Mehrheit der Deutschen laut Umfragen den AfD-gestützten migrationspolitischen Vorstoß der Union richtig findet, dass das Thema Migration laut Umfragen das wichtigste Wahlkampfthema ist, das ist keine naturgegebene Notwendigkeit. Das ist ein vorläufiger Sieg der rechtsextremen Menschenfeinde und ihrer Mitläufer. Aber bis zur Bundestagswahl sind es ja noch ganze zweieinhalb Wochen.

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Volkan Ağar
Redakteur taz2
Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.
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1 Kommentar

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  • Das Migrationsthema hat für die Union den Vorteil das man nicht über Soziales sprechen muss. Die meisten werden sich nach der Wahl wundern das es für sie nicht besser wird.