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Ein Jahr Krieg gegen die UkraineWho's next?

Kommentar von Barbara Oertel

Russland hat die europäische Nachkriegsordnung aus den Angeln gehoben. Das Schicksal der Ukraine ist entscheidend – auch für unseren künftigen Frieden.

Szenen, die sich ins Gedächtnis gebrannt haben: Menschen fliehen aus der Stadt Irpin am 3. März 2022 Foto: Vadim Ghirda/ap

S eit nunmehr einem Jahr tobt er, Russlands mörderischer Feldzug gegen die Ukraine. Die Bilanz ist verheerend: Zehntausende Tote, wahllos zerbombte Städte und Dörfer sowie Millionen Geflüchtete und Heimatlose, die bis auf ihr Leben alles verloren haben. Die Kyiv School of Economics schätzt die Kriegsschäden im Land allein im Zeitraum Februar bis Dezember 2022 auf 137,8 Milliarden US-Dollar. Wie lange wird dieses Grauen mitten in Europa, das täglich weitere Opfer kostet, noch dauern?

Eine Antwort darauf hat Russlands Präsident Wladimir Putin diese Woche in seiner Rede an die Nation gegeben: Wenn nötig, lange. Denn für den Kreml ist der Feind nicht mehr nur die Ukraine, die zu „entnazifizieren“, zu unterwerfen und als Staat zu vernichten russische Soldaten in einen sinnlosen Tod geschickt werden. Moskau wähnt sich im Krieg gegen den „kollektiven Westen“. Und dieser, Inkarnation des Bösen, wolle unter der Ägide der USA Russland „erledigen“. Der Angreifer ist in dieser Logik zum Verteidiger mutiert, eine klassische Täter-Opfer-Umkehr. „Sein oder nicht sein“ also – zu dieser durch nichts belegten Propagandabehauptung passen auch die jüngsten Einlassungen des ehemaligen Präsidenten und heutigen Chefs des Nationalen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedjew, dass Russland zerfallen werde, sollte es diesen Krieg verlieren.

Derart historisch aufgeladene Narrative sind nicht nur der Versuch, die heimische Bevölkerung auf einen möglicherweise langen Krieg einzuschwören und die Reihen um den „leader“ Putin noch fester zu schließen, wobei die Anzahl der eigenen Opfer keine Rolle spielt. Sie sind, neben einer unverhohlenen Kampfansage an den Westen, auch Ausdruck der bitteren Einsicht in Moskau, sich verkalkuliert zu haben.

Die Ukraine ist, zum Erstaunen vieler, die die Entwicklungen seit der Orangenen Revolution von 2004 ignoriert haben, widerständiger als erwartet. Die Menschen scheinen zu allem bereit – trotz oder gerade wegen des hohen Blutzolls, den sie entrichtet haben. Denn die Existenz ihres Staates steht auf dem Spiel. Aber es geht auch um die Freiheit, sich dem Moskauer Diktat ein für alle Mal zu entziehen und über den künftigen Weg der Ukraine selbst zu entscheiden – eine Kategorie, die in den Köpfen der Mehrheit der Rus­s*in­nen nicht vorkommt, ja nicht vorkommen darf.

Der Westen lässt sich bislang nicht spalten

Auch Putins Kalkül, den Westen zu spalten, ist bislang nicht aufgegangen. Dies war die klare Botschaft von US-Präsident Joe Biden, die er Anfang dieser Woche zuerst in Kyjiw und dann in Warschau überbrachte. Zwar sind die jeweiligen Interessen der Nato-Staaten, die zwar nicht völkerrechtlich, jedoch politisch und moralisch längst Kriegspartei sind, unterschiedlich. Dennoch ist das Credo in weiten Teilen Konsens, fest an der Seite der Ukraine zu stehen. Das hat auch das Votum über eine UN-Resolution zur Ukraine am Donnerstag gezeigt. 141 von 193 Staaten stimmten dafür und damit für einen Rückzug der russischen Truppen. Dieser ist eins von Kyjiws erklärten Kriegszielen.

Unterstützung also, solange das überfallene Land sie braucht – nicht nur, aber auch mit Waffen. Russland hat die europäische Nachkriegsordnung aus den Angeln gehoben. Das Schicksal der Ukraine wird maßgeblich darüber mit entscheiden, ob die Menschen auch hier in Zukunft friedlich werden leben können.

Ohne Frage: Die Aufrüstung der Ukraine birgt Risiken, die niemand abschätzen kann. Schon jetzt werden in den westlichen Gesellschaften Verwerfungen sichtbar. Ängste, Unsicherheit und Kriegsmüdigkeit wachsen genauso wie politische Polarisierung. Was aber ist die Alternative? Verhandlungen und ein sofortiger Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine? Wer, wie hierzulande die Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht, solche Forderungen erhebt, sollte um der Aufrichtigkeit willen gleich dazu sagen, wozu er/sie in letzter Konsequenz bereit zu sein scheint: um des lieben Friedens willen die Ukraine zu opfern.

Und nicht nur sie. Was ist beispielsweise mit Georgien und der Republik Moldau? Beide Länder, nach ihrer Unabhängigkeit von Kriegen gegen Russland unter dem Deckmantel separatistischer Kräfte nachhaltig traumatisiert, erleben die Soft Power Moskaus tagtäglich am eigenen Leib: Destabilisierung, koste es, was es wolle, um den eigenen Machtanspruch durchzusetzen. Dazu muss nicht einmal ein Schuss fallen, denn Russlands Instrumentenkasten ist reichhaltig bestückt. Wer wird sie schützen?

Von der estnischen Regierungschefin Kaja Kallas stammt der Satz: „Wir könnten die Nächsten sein.“ Ihre Warnung gilt es ernst zu nehmen. Wohin es führt, das nicht zu tun, erleben wir seit dem 24. Februar 2022. Wer wird der Nächste sein? Eben, genau darum geht es. Um nichts weniger als das.

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Ressortleiterin Ausland
Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.
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19 Kommentare

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  • "Denn die Existenz ihres Staates steht auf dem Spiel."



    Nein, dafür wäre ich nicht bereit zu sterben. Mein Mann auch nicht. Auch nicht meine Söhne.

    Staaten sind willkürliche Konstrukte. Sie ändern sich alle paar Jahrzehnte.

    Wir würden gehen und uns wo anders eine Existenz aufbauen. Und ggf. später zurückkehren.

    • @Diana Klingelstein:

      Und wenn alle so denken gibt es keinen Staat mehr wo sie hinfliehen können. Dann würden sie automatisch unter die Herrschaft irgendeines Faschisten fallen und ihre Söhne würden dann eingezogen um in den Kriegen des Herrscher umzukommen, damit der ein wenig mehr der Weltkarte in seiner Lieblingsfarbe bestreichen kann.

      • @Machiavelli:

        nein, wenn alle so denke würden gäbe es keine Kriege.

        • @Diana Klingelstein:

          Wir leben aber nunmal in der Realität von Diktator und brauchen Leute die die aufhalten.

  • "Wer wird der Nächste sein? Eben, genau darum geht es. Um nichts weniger als das."



    Richtig, und es geht um einen stabilen Kontinent. Solange Russland die Gelegenheit hat, Osteuropa zu destabilisieren, wird es keine nachhaltige Entwicklung in Gesamteuropa geben. Wie nimmt man Russland diese Gelegenheit? Indem es in der Ukraine besiegt wird. Indem Russland sich aus Transnistrien, Abchasien und Südossetien zurückziehen muss. Und indem Ukraine, Georgien und Moldawien Mitglieder in EU und NATO werden. Erst dann wird es dauerhaften Frieden und Stabilität in Europa geben. Das muss das strategische Ziel sein, über das Leute wie Scholz oder Macron nicht einmal nachdenken, geschweige denn es anstreben. Stattdessen haben die beiden Selenskij beim letzten Treffen in Paris allen Ernstes zu Gebietsabtretungen an Russland aufgefordert. Unfassbar.

    • @Michael Myers:

      „Stattdessen haben die beiden Selenskij beim letzten Treffen in Paris allen Ernstes zu Gebietsabtretungen an Russland aufgefordert. Unfassbar.“



      Wo haben Sie das denn her?

      • @Barbara Falk:

        Nun ja, sie forderten "Friedensverhandlungen", was aber auf Gebietsabtretungen hinausläuft.



        President Emmanuel Macron of France and Chancellor Olaf Scholz of Germany told Ukrainian President Volodymyr Zelensky that he needed to start considering peace talks with Moscow when the three leaders met in Paris earlier this month, people familiar with the conversation said.



        Over dinner at the Élysée Palace, the sumptuous seat of the French presidency, Mr. Macron delivered a more sober message, the people said, telling Mr. Zelensky that even mortal enemies like France and Germany had to make peace after World War II.



        www.wsj.com/articl...h-ukraine-38966950

  • So wie vor fünf Jahren jedes Argument gegen Putin und seinen kleptokratischen Machtapparat mit Trollfabriken und Mafiakontakten von den allermeisten negiert wurde, so wird heute jeglichem Argument widersprochen zumindest kurz innezuhalten und vor lauter Bedrohungsszenarien mal auch über z.B. Chinas 12 Punkte Idee zu reflektieren. Ablehnung... es sei nicht der richtige Moment und fertig. Mag ja sein, aber es mal wenigstens zu versuchen?



    Die kollektive Rechthaberei und Behauotungen in unserer westlichen Welt ist oft schwer erträglich. Schwarz und Weiß, da sind wir einfach stark. Und Scholz ist das Zentrum der Alternativlosigkeit in jedem Moment des Geschehens. Egal ob Waffen geliefert oder nicht geliefert werden, es ist immer im jeweiligen Moment zu 100% richtig.



    Gleiches gilt selbstredend für Friedensinitiativen. Es muss der Richtige zum richtigen Zeitpunkt das Richtige tun. Sonst gilts nicht! Alternativlos!

    • @Tom Farmer:

      China steht fest hinter Russland und ist somit kein geeigneter Kanditat für die Vermittlungsrolle. Und warum sollte man einen Friedensplan umsetzen, der international so gut wie keine Unterstützung hat? Dann doch eher den Plan, den 141 Länder unterstützen!



      Und ihr Gerede von schwarz-weißer Alternativlosigkeit ist gerade beim Thema Unterstützung unpassend, schaut man sich die Debatten zum Thema an und die Zeit, die sich die Bundesregierung hierfür lässt.

      • @Ingo Knito:

        Ich glaube Sie haben nicht gelesen oder nicht verstanden was ich geschrieben habe.



        China hat sich enthalten bei der UN. Taktik hin, Taktik her. Das Wort territoriale Integrität mal zu diskutieren ist also aus Ihrer Sicht sinnlos. Ja dann!

        • @Tom Farmer:

          Die Enthaltung Chinas wird als Unterstützung Russlands gewertet, da China Russlands Angriffskrieg nicht verurteilt oder auch nur so nennt. Territoriale Integrität muss man hier nicht diskutieren. Die ist im Völkerrecht eindeutig festgelegt. " Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt."

          • @Ingo Knito:

            siehe Nato und Kosovo

            • @Diana Klingelstein:

              Seinerzeit hat Rußland im Sicherheitsrat gegen eine UNO-Intervention gestimmt, trotz des nachgewiesenen Genozids an den Kosovaren durch Miloševićs Armee.



              Was wäre den Ihrer Meinung nach human gewesen? Einen autokratisch-diktatorischen Führer nach dem Vorbild Moskaus, der mittlerweile wegen Kriegsverbrechen verurteilt ist, einfach weiter gewähren zu lassen, damit das Selbstverständnis von Diktatoren ihre politischen Ziele mit Waffengewalt durchzusetzen, nicht gestört wird?



              Was ist das für ein schäbiges Pazifismus-Bild.



              Wenn alle tot sind, ist der Krieg vorbei.

  • Danke für diese gute Zusammenfassung.

    Sie haben klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, was ich kam formulieren kann. Ich kann nämlich bei so großer Ungerechtigkeit gar nicht mehr klar denken.

  • Die NATO Staaten sind NICHT Kriegspartei. Nur weil Länder Waffen, Training und Informationen liefern, sind sie noch lange keine Kriegspartei. Sonst wären ALLE Länder die dies wann auch immer auf der Welt machen immer auch Kriegspartei und damit immer alle Länder mit allen anderen im Krieg. Ansonsten guter Kommentar.

    • @Gnutellabrot Merz:

      Warum hieß es dann immer: Keine Waffen in Kriegsgebiete? Eben genau deswegen, dass man nicht Kriegspartei wird.

      • @resto:

        Das Argument war das man sich nicht an Konflikten beteiligen will, aber Waffen an ein Land zu liefern das sich verteidigt macht einen juristisch nicht zur Kriegspartei. Die Sovietunion schickte in Korea sogar Kampfflugzeuge und Piloten ohne Kriegspartei zu werden. China hatte Millionen Soldaten im Feld ohne offiziell Kriegspartei zu sein.

  • Medwedjew hat hoffentlich ausnahmsweise mal recht, und das russische Imperium zerfällt. Kaum jemand wird ihm nachtrauern. Ein Irrtum der Geschichte.

    • @Manuel Bonik:

      „Medwedjew hat hoffentlich ausnahmsweise mal recht, und das russische Imperium zerfällt. Kaum jemand wird ihm nachtrauern. Ein Irrtum der Geschichte.“



      Da interpretieren Sie Medwedjews Äußerung falsch. Das ist einfach nach innen, an die eigene Bevölkerung gerichtete Propaganda. „Ohne Putin kein Russland“ lautet der bekannte Spruch des Dumavorsitzenden Volodin. Sogar Putin selbst stößt jetzt in dasselbe Horn. Der Westen hat den Krieg gefesselt um Russland zu zerstückeln und das „russische Ethnos“ zu vernichten. Dieses Gerede soll die Loyalität zu Putin festigen.



      Ein Staatszerfall ist weder in russischem, noch in westlichem Interesse. Und nicht im ukrainischen.