Ein Jahr Krieg gegen die Ukraine: Who's next?

Russland hat die europäische Nachkriegsordnung aus den Angeln gehoben. Das Schicksal der Ukraine ist entscheidend – auch für unseren künftigen Frieden.

Menschen fliehen über eine zerstörte Brücke aus der Stadt

Szenen, die sich ins Gedächtnis gebrannt haben: Menschen fliehen aus der Stadt Irpin am 3. März 2022 Foto: Vadim Ghirda/ap

Seit nunmehr einem Jahr tobt er, Russlands mörderischer Feldzug gegen die Ukraine. Die Bilanz ist verheerend: Zehntausende Tote, wahllos zerbombte Städte und Dörfer sowie Millionen Geflüchtete und Heimatlose, die bis auf ihr Leben alles verloren haben. Die Kyiv School of Economics schätzt die Kriegsschäden im Land allein im Zeitraum Februar bis Dezember 2022 auf 137,8 Milliarden US-Dollar. Wie lange wird dieses Grauen mitten in Europa, das täglich weitere Opfer kostet, noch dauern?

Eine Antwort darauf hat Russlands Präsident Wladimir Putin diese Woche in seiner Rede an die Nation gegeben: Wenn nötig, lange. Denn für den Kreml ist der Feind nicht mehr nur die Ukraine, die zu „entnazifizieren“, zu unterwerfen und als Staat zu vernichten russische Soldaten in einen sinnlosen Tod geschickt werden. Moskau wähnt sich im Krieg gegen den „kollektiven Westen“. Und dieser, Inkarnation des Bösen, wolle unter der Ägide der USA Russland „erledigen“. Der Angreifer ist in dieser Logik zum Verteidiger mutiert, eine klassische Täter-Opfer-Umkehr. „Sein oder nicht sein“ also – zu dieser durch nichts belegten Propagandabehauptung passen auch die jüngsten Einlassungen des ehemaligen Präsidenten und heutigen Chefs des Nationalen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedjew, dass Russland zerfallen werde, sollte es diesen Krieg verlieren.

Derart historisch aufgeladene Narrative sind nicht nur der Versuch, die heimische Bevölkerung auf einen möglicherweise langen Krieg einzuschwören und die Reihen um den „leader“ Putin noch fester zu schließen, wobei die Anzahl der eigenen Opfer keine Rolle spielt. Sie sind, neben einer unverhohlenen Kampfansage an den Westen, auch Ausdruck der bitteren Einsicht in Moskau, sich verkalkuliert zu haben.

Die Ukraine ist, zum Erstaunen vieler, die die Entwicklungen seit der Orangenen Revolution von 2004 ignoriert haben, widerständiger als erwartet. Die Menschen scheinen zu allem bereit – trotz oder gerade wegen des hohen Blutzolls, den sie entrichtet haben. Denn die Existenz ihres Staates steht auf dem Spiel. Aber es geht auch um die Freiheit, sich dem Moskauer Diktat ein für alle Mal zu entziehen und über den künftigen Weg der Ukraine selbst zu entscheiden – eine Kategorie, die in den Köpfen der Mehrheit der Rus­s*in­nen nicht vorkommt, ja nicht vorkommen darf.

Der Westen lässt sich bislang nicht spalten

Auch Putins Kalkül, den Westen zu spalten, ist bislang nicht aufgegangen. Dies war die klare Botschaft von US-Präsident Joe Biden, die er Anfang dieser Woche zuerst in Kyjiw und dann in Warschau überbrachte. Zwar sind die jeweiligen Interessen der Nato-Staaten, die zwar nicht völkerrechtlich, jedoch politisch und moralisch längst Kriegspartei sind, unterschiedlich. Dennoch ist das Credo in weiten Teilen Konsens, fest an der Seite der Ukraine zu stehen. Das hat auch das Votum über eine UN-Resolution zur Ukraine am Donnerstag gezeigt. 141 von 193 Staaten stimmten dafür und damit für einen Rückzug der russischen Truppen. Dieser ist eins von Kyjiws erklärten Kriegszielen.

Unterstützung also, solange das überfallene Land sie braucht – nicht nur, aber auch mit Waffen. Russland hat die europäische Nachkriegsordnung aus den Angeln gehoben. Das Schicksal der Ukraine wird maßgeblich darüber mit entscheiden, ob die Menschen auch hier in Zukunft friedlich werden leben können.

Ohne Frage: Die Aufrüstung der Ukraine birgt Risiken, die niemand abschätzen kann. Schon jetzt werden in den westlichen Gesellschaften Verwerfungen sichtbar. Ängste, Unsicherheit und Kriegsmüdigkeit wachsen genauso wie politische Polarisierung. Was aber ist die Alternative? Verhandlungen und ein sofortiger Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine? Wer, wie hierzulande die Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht, solche Forderungen erhebt, sollte um der Aufrichtigkeit willen gleich dazu sagen, wozu er/sie in letzter Konsequenz bereit zu sein scheint: um des lieben Friedens willen die Ukraine zu opfern.

Und nicht nur sie. Was ist beispielsweise mit Georgien und der Republik Moldau? Beide Länder, nach ihrer Unabhängigkeit von Kriegen gegen Russland unter dem Deckmantel separatistischer Kräfte nachhaltig traumatisiert, erleben die Soft Power Moskaus tagtäglich am eigenen Leib: Destabilisierung, koste es, was es wolle, um den eigenen Machtanspruch durchzusetzen. Dazu muss nicht einmal ein Schuss fallen, denn Russlands Instrumentenkasten ist reichhaltig bestückt. Wer wird sie schützen?

Von der estnischen Regierungschefin Kaja Kallas stammt der Satz: „Wir könnten die Nächsten sein.“ Ihre Warnung gilt es ernst zu nehmen. Wohin es führt, das nicht zu tun, erleben wir seit dem 24. Februar 2022. Wer wird der Nächste sein? Eben, genau darum geht es. Um nichts weniger als das.

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Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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