piwik no script img

Eil-Beschluss des BundesverfassungsgerichtsMordverdächtiger kommt frei

Vor mehr als 40 Jahren wurde ein Mädchen ermordet. Seit Februar saß der Tatverdächtige in U-Haft – aufgrund eines womöglich verfassungswidrigen Gesetzes.

Bis zu seinem Lebensende kämpfte Hans von Möhlmann um Gerechtigkeit für seine ermordete Tochter Foto: Hauke-Christian Dittrich/dpa

FREIBURG taz | Das Bundesverfassungsgericht hat per Eil-Beschluss angeordnet, dass der 63-jährige Ismet H. sofort aus der Untersuchungshaft entlassen wird. Er ist dringend verdächtig, 1981 die Schülerin Frederike von Möhlmann vergewaltigt und ermordet zu haben. Seine Inhaftierung beruht jedoch auf einem möglicherweise verfassungswidrigen Gesetz, das das Bundesverfassungsgericht zunächst gründlich prüfen will.

Frederike von Möhlmann aus Hambühren (Landkreis Celle) war 17, als sie 1981 vergewaltigt und ermordet wurde. Verdächtigt wurde der damals 22-jährige Ismet H., doch 1983 sprach ihn das Landgericht Stade wegen nicht ausreichender Beweislage frei.

Allerdings konnte 2012 eine Sekretspur vom Tatort per DNA-Analyse Ismet H. zugeordnet werden. Ein neuer Prozess war aber nicht möglich, da H. bereits rechtskräftig freigesprochen worden war.

Auf Initiative von Frederikes Vater Hans von Möhlmann änderte der Bundestag 2021 die Strafprozessordnung und führte einen neuen Wiederaufnahmegrund ein. Wenn „neue Beweismittel“ auftauchen und nun „dringende Gründe“ für eine Verurteilung sprechen, kann ein Verfahren auch „zuungunsten“ des Angeklagten wiederaufgenommen werden.

Gegen diese Änderung bestehen aber große verfassungsrechtliche Bedenken. Denn im Grundgesetz heißt es: „Niemand darf wegen derselben Tat zweimal bestraft werden“. Dies wird bisher so verstanden, dass auch nach einem Freispruch keine erneute Anklage möglich ist.

Tatverdächtiger seit Februar in Untersuchungshaft

Der inzwischen 63-jährige Ismet H. wurde im Februar verhaftet und saß seitdem wegen Fluchtgefahr in U-Haft. Auch wenn H. inzwischen ausschließlich deutscher Staatsbürger ist, könne er in sein Geburtsland Türkei fliehen.

Zugleich beantragte die Staatsanwaltschaft Verden die Wiederaufnahme des Verfahrens. Das Landgericht Verden hielt den Antrag für zulässig, ebenso das Oberlandesgericht Celle im April.

Gegen den Celler Beschluss und gegen das umstrittene Gesetz hat der Hamburger Anwalt Johann Schwenn im Auftrag von Ismet H. im Mai Verfassungsbeschwerde eingelegt. Außerdem beantragte der Anwalt, dass H. per einstweiliger Anordnung aus der Untersuchungshaft entlassen wird. H. habe sich dem Verfahren nicht durch Flucht entzogen, obwohl er von der Gesetzesänderung wusste. Nur über diesen Antrag entschied nun der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts.

Ismet H. aus der Untersuchungshaft entlassen

Die Ver­fas­sungs­rich­te­r:in­nen stellten fest, dass die Verfassungsbeschwerde eingehend geprüft werden muss. In einer „Folgenabwägung“ kamen die Ver­fas­sungs­rich­te­r:in­nen zum Schluss, dass Ismet H. bis zur Karlsruher Entscheidung über das Gesetz aus der U-Haft zu entlassen ist. Dem Schutz der Freiheit vor einer möglicherweise verfassungswidrigen U-Haft komme „ein größeres Gewicht zu als dem durch die Untersuchungshaft gesicherten staatlichen Strafinteresse“. Die Entscheidung war in Karlsruhe umstritten und fiel mit fünf zu drei Richterstimmen.

Das Verfassungsgericht hat den Haftbefehl jetzt zwar ausgesetzt, doch darf H. seinen Wohnort nicht ohne Genehmigung der Staatsanwaltschaft verlassen. Seinen Personalausweis und Reisepass muss er abgeben. Außerdem muss sich H. zweimal wöchentlich bei einer Behörde melden. Nach Angaben des Landgerichts Verden war Ismet H. bereits am Freitag aus der Haft entlassen worden.

Eigentlich wollte das Landgericht im August mit der neuen Hauptverhandlung gegen Ismet H. beginnen. Dazu wird es nun aber wohl nicht kommen. Das Verfassungsgericht legte nahe, dass auch das Landgericht auf die Karlsruher Entscheidung über das umstrittene Gesetz wartet. Wenn das Wiederaufnahmeverfahren dann noch möglich ist, hätte es eine „höhere Befriedungswirkung“, als wenn noch Zweifel an der gesetzlichen Grundlage bestehen. Das Bundesverfassungsgericht ließ allerdings offen, wann es über die Verfassungsbeschwerde entscheiden wird.

Hans von Möhlmann, der Vater der getöteten Schülerin, erlebt all das nicht mehr. Er war im Juni nach langer schwerer Diabetes-Erkrankung im Alter von 79 Jahren gestorben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • Das ist ja spannend - für welche Tatbestände gilt denn dieses neue Gesetz ?

    Ich mein' ja nur. Vllt ergeben sich ja in der Maskenaffäre auch irgendwann "Neue Beweismittel" ... dann wäre auch ein Freispruch vor dem BGH einen feuchten Schnodder wert, oder ?

    de.wikipedia.org/wiki/Maskenaff%C3%A4re

    • @Bolzkopf:

      Die neue Vorschrift gilt nur für Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Sie gilt also nicht für Abgeordnetenbestechung (§ 362 Nr. 5 Strafprozessordnung).



      Außerdem hat der BGH im Fall der CSU-Abgeordneten Nüßlein und Sauter keinen Mangel an Beweisen festgestellt, sondern dass das Verhalten gar nicht strafbar war. Das ist ein ganz anderes Problem. Selbst wenn das Strafgesetzbuch verschärft wird, um solche Urteile künftig zu vermeiden, könnte es nicht auf alte Vorgänge angewandt werden.

  • 4G
    49732 (Profil gelöscht)

    Bitter für die Familie von Frederike! Und ein herber Schlag für den Kampf gegen Femzide.

  • RS
    Ria Sauter

    Möchte nicht wissen, wie sich die Angehörigen fühlen.



    Unglaublich, dass dieses Gesetz noch nicht geändert wurde.