Drohmail-Affäre „NSU 2.0“: Aus dem Dunkel
Der Berliner Alexander M. soll als „NSU 2.0“ rassistische Drohschreiben verschickt haben. Beim Prozessauftakt kündigt er seine Aussage an.
A ls Alexander M. am Mittwoch zur Anklagebank im Saal 165 des Landgerichts Frankfurt am Main geführt wird, in Funktionsjacke und rotem Sweater, streckt er noch in Handschellen mit beiden Händen den Opferanwältinnen und Fotograf:innen beide Mittelfinger entgegen. Seine Verteidiger schauen weg. Alexander M. macht klar, was er von dieser Verhandlung hält: nichts.
Ein Wachtmeister nimmt ihm die Handschellen ab, der Angeklagte atmet schwer unter der Schutzmaske, er scheint aufgeregt. Dann setzt er sich, verschränkt die Arme: Alexander Horst M., 54 Jahre, aus Berlin, alleinstehend, seit Jahren erwerbslos, vielfach vorbestraft.
Das also könnte das Gesicht des Hasses sein. Zumindest sieht es die Anklage gegen ihn so. Laut der ist Alexander M. der Verfasser von 116 wüsten Drohschreiben, in denen ein selbsternannter „NSU 2.0“ fast drei Jahre lang zumeist Engagierte gegen Rassismus quer durch die Republik beschimpfte. Die E-Mails, SMS und Faxe erreichten die NSU-Opfer-Anwält:innen Seda Başay-Yıldız und Mehmet Daimagüler, die Comedians İdil Baydar und Jan Böhmermann, die Politiker:innen Janine Wissler, Martina Renner (beide Linke), Ricarda Lang (Grüne) und die Autor:innen Hengameh Yaghoobifarah und Deniz Yücel.
Als „Scheißtürken“, „Volksschädling“ oder „Abfallprodukte“ wurden die Angeschriebenen von dem Verfasser beschimpft, der sich „SS Obersturmbannführer“ nannte. Ihnen wurde angedroht, sie würden „mit barbarischer sadistischer Härte abgeschlachtet“, ihnen würde der „Kopf abgerissen“. Verschickt wurden auch Bombendrohungen, an Gerichte oder die Walter-Lübcke-Schule in Hessen. Im Fall von Seda Başay-Yıldız wurde am Ende auch ein öffentlicher Aufruf zu ihrer Tötung ins Internet gestellt, samt Nennung ihrer Adresse. Dazu hieß es immer wieder: „Heil Hitler! NSU 2.0 Der Führer“.
All dies endete erst, als am 3. Mai 2021 Alexander M. in seiner Wohnung im Berliner Stadtteil Wedding festgenommen wurde – als Beschuldigter für die „NSU 2.0“-Drohserie.
Vorwürfe zurückgewiesen
Am Mittwoch hat der Prozess gegen Alexander M. begonnen, in dem Frankfurter Gerichtssaal, in dem auch der Mord an Walter Lübcke verhandelt wurde. Alexander M. soll schon nach seiner Festnahme die Vorwürfe zurückgewiesen haben. Später schrieb er an mehrere Gerichte und beschwerte sich über seine Inhaftierung. Eine Vernehmung aber lehnte er ab.
Im Saal 165 spricht Alexander M. am Morgen zumindest kurz. Von Richterin Corinna Distler nach seinen Personalien gefragt, gibt er knapp seinen Namen und Geburtsdatum an, die Adresse verweigert er. „Ich gebe keine privaten Daten in öffentlicher Sitzung an“, blafft er. Es seien ja auch Journalisten da. „Steht ja in der Akte drinne.“
Fast drei Stunden lang verlesen die Staatsanwälte Sinan Akdogan und Patricia Neudeck die Anklage. Sie zitieren Drohschreiben um Drohschreiben, Schmähung um Schmähung. Es sind unflätigste rassistische Beschimpfungen, teils im NS-Jargon, mit expliziten Todesdrohungen. M. habe sich der Volksverhetzung, der Störung des öffentlichen Friedens und der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten schuldig gemacht, sagen die Ankläger. Alexander M. folgt mit verschränkten Armen, es scheint ihn wenig zu interessieren. Zwischendrin blättert er in einem Gesetzbuch, bittet um eine Pinkelpause.
Die NSU-2.0-Drohserie geht über Alexander M. hinaus. Bis heute ist sie auch eine Polizeiaffäre. Im Fokus steht dabei auch ein Mann, der nicht angeklagt ist: Polizist Johannes S.
Polizeibeamte involviert?
Auffällig war früh, dass etliche „NSU 2.0“-Schreiben auch private Daten der Angeschriebenen enthielten – Adressen, Handynummern, Namen von Angehörigen. In den Fällen von Seda Başay-Yıldız, İdil Baydar und Janine Wissler waren die Daten von Polizeicomputern abgerufen worden, auf Revieren in Frankfurt am Main, Wiesbaden und Berlin. Das machte die Sache zu einem Politikum. Der ungeheure Verdacht: Steckten Polizeibeamte dahinter?
Der Fall belastete die hessische Polizei schwer. Ein Sonderermittler wurde eingesetzt, Polizeipräsident Udo Münch trat zurück. Er beschäftigte den Bundestag, den hessischen Landtag, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier reiste an.
Bis Alexander M. verhaftet wurde. Und die Staatsanwaltschaft bekannt gab, dass dieser als Einzeltäter anzusehen sei: Er habe wohl durch fingierte Anrufe bei der Polizei, bei denen er sich als Behördenangestellter ausgab, die Privatdaten erlangt. Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) erklärte, die Opfer und Polizei könnten „aufatmen“, die Gewerkschaft der Polizei forderte eine Entschuldigung für die „haltlosen“ Vorwürfe gegen die Polizei.
Aber Seda Başay-Yıldız, die in dem Prozess Nebenklägerin ist, und andere Betroffene haben weiter Zweifel. Im Gericht ist sie am Mittwoch nicht, sie schickt eine Anwältin. Sie will dem Angeklagten keine Genugtuung gönnen. Nach den Drohungen musste Başay-Yıldız umziehen, ihre neue Wohnung absichern, sie stand unter Polizeischutz. Auch die Politikerin Martina Renner ist Nebenklägerin und schickte eine Anwältin.
Betroffene zweifeln
Schon im Vorfeld aber sagte Başay-Yıldız der taz, für sie sei bis heute nicht ausgeräumt, dass Polizeibeamte an der Drohserie beteiligt waren. „Ich glaube, dass Polizisten zumindest an dem ersten Drohfax an mich aktiv mitgewirkt haben“, sagt Başay-Yıldız. „Dass die Beamten ausgetrickst wurden, ist eine Behauptung des vom Innenminister eingesetzten Sonderermittlers. Und die ist in meinem Fall auch noch ziemlich realitätsfern.“
Angeklagt aber ist nur Alexander M. Das Bild, dass die Ermittler von ihm zeichnen, ist das eines querulantischen Einzelgängers. Geboren wurde er in Ostberlin, wuchs bei seiner Mutter auf, die Schule verlief holprig, er machte eine Ausbildung zum Informatiker. Zuletzt lebte M. allein und seit Jahren erwerbslos in einer Einzimmerwohnung im Berliner Wedding, bei seiner Festnahme notierten Beamte einen vermüllten Zustand. Kontakt soll er fast nur zu seiner Mutter gehabt haben. Vor Gericht gab er schon vor Jahren an, er sei ein Einzelgänger, der den ganzen Tag vorm Rechner sitze.
Der 54-Jährige ist vielfach vorbestraft, saß bereits mehrere Jahre in Haft. Verurteilt wurde er etwa wegen Beleidigung, Bedrohung, Körperverletzung, Hehlerei oder Amtsanmaßung. Ein psychiatrisches Gutachten von 2005 bescheinigte ihm eine Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen, dissozialen Zügen. Und M. kennt sich laut Ermittlern gut mit der NS-Zeit aus, aus familiärer Erfahrung: Sein Vater soll Mitglied des SS-Totenkopfverbandes Thüringen gewesen sein, damals am KZ Buchenwald stationiert. Die Anklage sieht auch das als Indiz dafür, dass Alexander M. der selbsternannte „SS Obersturmbannführer“ der NSU-2.0-Schreiben ist.
Die große Lücke in der Anklage aber bleibt: Wie soll Alexander M. an die Polizeidaten gelangt sein? Gleich das erste Drohschreiben an Seda Başay-Yıldız wirft Fragen auf. Dieses ging am 2. August 2018 um 15.41 Uhr als Onlinefax bei der Kanzlei von Başay-Yıldız ein, verschlüsselt versendet über einen Server des Tor-Netzwerks. Die Frankfurterin war damals nicht nur als NSU-Opfer-Anwältin bekannt, sondern auch für die Vertretung eines Islamisten. „Miese Türkensau“, beschimpfte sie der Absender, der sich „Uwe Böhnhardt“ nannte, nach dem NSU-Terroristen. „Du machst Deutschland nicht fertig. Verpiss dich lieber, solange du hier noch lebend rauskommst, du Schwein.“ Es folgte die Nennung von Başay-Yıldız’ Privatadresse und der Name ihrer damals zweijährigen Tochter, beide öffentlich nicht bekannt. Und die Drohung, ihre Tochter zu „schlachten“. Am Ende das Kürzel: „NSU 2.0“.
Am gleichen Abend erschien auf dem linken Indymedia-Onlineportal ein Kommentar zu Başay-Yıldız, auch dort mit ihrer Adresse und dem Aufruf, ihr „jede Menge Ärger“ zu machen.
Neue Qualität
Başay-Yıldız war Beleidigungen gewohnt. Das aber war neu – sie informierte das hessische Landeskriminalamt. Was sie da noch nicht wusste: Ihre Privatdaten waren, rund anderthalb Stunden bevor sie das Drohfax erhielt, auf einem Dienstrechner im 1. Polizeirevier Frankfurt am Main abgerufen worden. Und das wesentlich akribischer als bisher bekannt, wie die taz zuletzt offenlegte: Mit insgesamt 17 Abfragen wurde nach Başay-Yıldız in drei Datenbanken gesucht – nach ihrer Adresse, den dort gemeldeten Personen und deren Geburtsdaten oder dem Auftauchen der 46-Jährigen als Beschuldigte oder Geschädigte von Straftaten. Sechs Minuten lang.
Başay-Yıldız ist überzeugt: „Eine solch detaillierte Abfrage ist auf telefonischen Zuruf sowohl faktisch als auch zeitlich ausgeschlossen. Das wirkt vielmehr, als hätten die Beamten all ihre Daten durchsucht, um gezielt etwas über mich herauszufinden.“
Tatsächlich fiel der Verdacht der Ermittler, nachdem diese auf die Datenabfrage im 1. Revier in Frankfurt stießen, zuerst auf Polizeibeamte. An dem Rechner, an dem die Abfrage stattfand, war eine junge Beamtin eingeloggt, Miriam D. Sie soll später angegeben haben, sich an die Abfrage nicht zu erinnern – sie aber auch nicht ausschließen zu können. Das Problem: Der Dienstrechner war über Stunden entsperrt, mehrere Beamte konnten ihn benutzen, ein Zettel mit Passwort lag daneben. Wer letztlich die Abfrage zu Başay-Yıldız tätigte, konnten die Ermittler bis heute nicht herausfinden. Auch die fünf weiteren Polizisten, die damals im Revier im Dienst waren, sollen alle behauptet haben, sich an den Tagesverlauf und die Abfrage nicht erinnern zu können.
Was die Ermittler aber entdeckten, war eine Whatsapp-Gruppe namens „Itiotentreff“ auf dem Handy von Miriam D. Sechs Beamte tauschten sich dort aus, inklusive rechtsextremer Sprüche und Hitlerbilder. Die Staatsanwaltschaft bewertete Dutzende Beiträge als strafrechtlich relevant. Und auch einer der Teilnehmer der Chatgruppe rückte nun in den Verdacht: Polizist Johannes S. Er fiel im Chat mit derben Beiträgen auf. Er war am Tag des ersten Drohfax an Başay-Yıldız im Dienst auf dem Frankfurter Revier. Er soll sich mit Tor-Verschlüsselung auskennen, einen Vortrag darüber bei der Polizei gehalten haben. Und er soll im Internet nach „Yildiz“ gesucht haben.
Verdächtiger entlastet
Johannes S. wurde daraufhin überwacht – und vermeintlich entlastet. Weil festgestellt wurde, dass er beim Versand eines späteren „NSU 2.0“-Schreibens anderweitig beschäftigt war. Offen aber bleibt, ob das Schreiben nicht auch zeitversetzt verschickt worden sein könnte. Sein Alibi, wonach er zum Zeitpunkt des ersten Drohfax an Başay-Yıldız auswärts auf einem Einsatz war, stimmt wohl nicht: Ermittler rekonstruierten, dass der Einsatz erst später begann.
Die „NSU 2.0“-Serie ging, nach einer Pause, ab Dezember 2018 erst richtig los. In einem weiteren Schreiben an Başay-Yıldız wurden auch ihre Eltern namentlich bedroht, auch sie öffentlich nicht bekannt. In einem anderen stand Başay-Yıldız’ neue Adresse – obwohl diese mit einem Sperrvermerk als geheim eingestuft war. Und auch weitere Personen erhielten nun die Schreiben, meist nachdem Medien über sie berichtet hatten. Wie „getriggert“ habe der Verfasser auf die Berichte reagiert, notierten Ermittler.
Und nun kamen die Schreiben alle von derselben E-Mail-Adresse des russischen Anbieters Yandex, verschickt nach Tor-verschlüsselten Logins. Zu den privaten Daten stellten die Ermittler fest, dass sich einige zwar mit längeren Suchen im Internet finden ließen – in zehn Fällen aber nicht. Und in drei davon – Başay-Yıldız, Baydar, Wissler – gab es eben zuvor die Abfragen auf Polizeirevieren. Einen dienstlichen Grund dafür fanden die Ermittler nicht.
Aber der Drohschreiber blieb ungefasst. Auch eine eigens von den Ermittlern aufgesetzte, fingierte Internetseite, die einen Tor-Zugriff entschlüsselte hätte, blieb fruchtlos. Ebenso wie ein Rechtshilfeersuchen an Yandex, das erst nach Monaten beantwortet wurde. Bis ein Schach-Onlineportal den Durchbruch brachte.
Die Festnahme
Zuvor schon hatten die Ermittler auf dem rechtsextremen Onlineportal PI-News zwei Nutzer namens „Obersimulant“ und „Sudel-Ede“ entdeckt, die ähnliche Formulierungen wie der „NSU 2.0“-Schreiber verwendeten – Sprachgutachten bestätigten das. Nun fanden sie im Frühjahr 2021 die gleichen Usernamen auch auf einem Schachportal wieder, die dort teils rassistisch ausfällig wurden. Von einem dieser Accounts führten eine IP-Adresse und Bestandsdaten schließlich zu Alexander M. – er hatte die Schachseite nicht Tor-verschlüsselt genutzt.
Ab Mitte April 2021 wurde Alexander M. observiert, am 3. Mai schließlich festgenommen – bewusst abends, als der 54-Jährige an seinem eingeschalteten PC saß und diesen nicht mehr sperren konnte. M. soll noch mit einer Schreckschusswaffe die Beamten bedroht haben. Auch für die Bedrohung muss er sich nun verantworten. Und für zwei verbotene Würgehölzer und Kinderpornografie, die in seiner Wohnung gefunden wurden.
Seda Başay-Yıldız
Dass Alexander M. die Vorwürfe bestreitet, beunruhigt die Ankläger nicht. Seine Beschwerden gegen seine Inhaftierungen wiesen Gerichte bisher ab. Und die Ankläger haben tatsächlich einiges gegen Alexander M. in der Hand.
Da sind seine einschlägigen Vorstrafen. In einem Berliner Sozialamt soll er schon vor Jahren einem Mann mit einer Gaspistole ins Gesicht geschossen, in einem Arbeitsamt einen Mitarbeiter mit Reizgas besprüht haben. Zudem soll er andere mit Drohanrufen überzogen haben. So etwa den Leiter der JVA Moabit, den er laut eines Gerichtsurteils als „perverses Schwein“ beschimpfte und drohte, ihn umzubringen.
Schwerwiegende Indizien
Schwerwiegender aber: Auf M.s Rechner fanden sich mehrere NSU-2.0-Drohschreiben oder Fragmente dazu. Dazu konnten die Ermittler nachweisen, dass Alexander M. Zugang zum Yandex-Postfach hatte, von dem aus die Schreiben verschickt wurden. Auf seinem PC fanden sich auch Log-ins zu PI-News und dem Schachportal – und Suchanfragen zu den Bedrohten, vor allem Başay-Yıldız.
Die Anklage verweist darauf, dass sich M. bereits in der Vergangenheit bei einer Bank als Polizist ausgegeben und die Daten eines Kunden angefordert habe. Dem Berliner Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten schrieb er 2019, wie leicht es sei, sich als Mitarbeiter auszugeben und so bei Ämtern an Daten zu kommen. Auf seinem PC fand sich ein Hinweis zu einem Anruf bei einer Polizeistation, bei dem er sich als Staatsanwalt ausgegeben haben soll.
Auch die taz erhielt im August 2018 – kurz nach dem ersten Drohschreiben an Başay-Yıldız – zwei Anrufe, die nun in Ermittlungspapieren auftauchen. Der Anrufer gab sich als Polizist aus dem Wedding aus, der vom taz-Geschäftsführer und der Chefredakteurin die Handynummer der Kolumnist*in Hengameh Yaghoobifarah verlangte – was abgelehnt wurde. Darauf drohte der Anrufer: „Ihrer Kollegin blüht noch einiges.“ Schon kurz zuvor war auch Yaghoobifarahs Vater von einem Unbekannten angerufen worden, der nach der Handynummer und Adresse fragte.
Für die Ermittler sind dies Indizien genug, dass Alexander M. so auch bei den Polizeiwachen vorging. „Der anfängliche Verdacht, Polizeibeamte könnten in strafrechtlich relevanter Weise an der Datenabfrage beteiligt gewesen sein, hat sich nicht bestätigt“, erklärt die Frankfurter Staatsanwaltschaft.
Viele Fragen offen
Für Seda Başay-Yıldız ist das keineswegs so klar. Sie verweist darauf, dass auch im Nachhinein keiner der befragten Frankfurter Polizeibeamten von solch fingierten Anrufen berichtet hat. Das Vorgehen passe auch nicht zu der sehr ausführlichen Suche zu ihrem Namen mit gleich 17 Abfragen in drei Datenbanken. „So reagiert man doch nicht auf einen telefonischen Zuruf. Noch dazu von einer Person, die man nicht kennt“, sagt Başay-Yıldız.
Für sie bleibt auch ungeklärt, wer am Abend des ersten Datenabrufs den Indymedia-Kommentar zu ihr veröffentlichte – in der Anklage gegen Alexander M. taucht er nicht auf. Wer war es dann? Unerklärlich ist für Başay-Yıldız auch, wie der Drohschreiber an ihre neue, geheime Adresse kam. Auch diese soll am Telefon weitergegeben worden sein – trotz des damaligen Sperrvermerks und längst bundesweiten Wirbels um den Fall? „Das passt alles nicht zusammen.“
Die Anwältin ist mit ihren Zweifeln nicht allein. In einer Erklärung kurz vor Prozessbeginn nennen es auch die ebenfalls bedrohten İdil Baydar, Hengameh Yaghoobifarah und die Linken-Politikerinnen Wissler, Renner und Anne Helm einen „Skandal“, dass sich die Ermittlungen zuletzt auf einen Einzeltäter konzentrierten. „Der NSU-2.0-Komplex ist mit der Festnahme des Angeklagten nicht aufgeklärt.“ Vielmehr gebe es Hinweise auf eine „mindestens gezielte Datenweitergabe aus Polizeikreisen“, zu denen „nachdrücklich“ ermittelt werde müsse.
Tatsächlich scheint sich auch die Staatsanwaltschaft Frankfurt mit ihrer Einzeltäterthese nicht sicher zu sein. Sie bestätigt der taz, dass zumindest gegen Johannes S. und Miriam D. weiterhin Verfahren wegen Geheimnisverrats laufen, zu der Datenweitergabe zu Başay-Yıldız. Bislang hätten die Ermittlungen aber keinen hinreichenden Tatverdacht ergeben, sagt eine Sprecherin. Man wolle noch abwarten, ob der Prozess gegen Alexander M. neue Erkenntnisse bringe.
Ermittlungen laufen weiter
Gegen Johannes S. und Miriam D. laufen auch immer noch Ermittlungen wegen der „Itiotentreff“-Chatgruppe, ebenso gegen die vier weiteren beteiligten Polizisten. Einer verließ inzwischen freiwillig den Polizeidienst. Die anderen fünf sind bis heute – seit dreieinhalb Jahren – suspendiert.
Başay-Yıldız will darauf drängen, dass die Frage, ob und wie die Polizisten an den Drohungen gegen sie beteiligt waren, im Prozess aufgeklärt wird. „Die Drohungen des Angeklagten sind ein Problem. Das größere Problem aber bleibt, dass er oder andere dafür interne Polizeidaten von mir verwenden konnten, die zielgerichtet abgerufen wurden. Das gibt dem Ganzen eine völlig andere Dimension“, sagt Başay-Yıldız.
Auch Alexander M. setzt offenbar Hoffnungen auf den Prozess. Nach seiner Verhaftung soll er angekündigt haben, im Prozess zu beweisen, dass er unschuldig sei. Nach der Anklageverlesung am Mittwoch legt er sich bereits eine Erklärung bereit. Ob er denn in diesem Prozess aussagen wolle, fragt Richterin Distler. „Ja, es kommt eine umfangreiche Einlassung von mir.“ Er wolle sofort beginnen. Die Anklage könne er „so nicht stehen lassen“. Sein Verteidiger aber fällt M. ins Wort, dies wolle man erst am zweiten Prozesstag am Donnerstag tun. Alexander M. widerspricht: „Ich möchte es gerne jetzt verlesen. Ich bin hochmotiviert.“ Doch auch Richterin Distler will die Aussage lieber am Folgetag hören.
Der Donnerstag war bereits für eine mögliche Aussage von Alexander M. reserviert, er wird viel Zeit bekommen. Und offenbar will sich der 54-Jährige dabei auch nicht von seinen Anwälten aufhalten lassen. Vielleicht kann er dann beantworten, wie er an die Polizeidaten kam. Und, warum seit seiner Festnahme keine „NSU 2.0“-Drohschreiben von der Yandex-Adresse mehr auftauchten.
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