Die neue Wohnungslosigkeit: „Wer obdachlos wird, ist kein Penner“
Die Zahl der Wohnungslosen steigt. Und diese Gruppe ist vielfältiger geworden. Manchmal reicht ein Schufa-Eintrag für die Misere.
„Unsere Bewohnerschaft ist sehr heterogen“, sagt Heimleiter Clemens Ostermann über die Einrichtung mit 108 Plätzen, „da sind auch bürgerliche Leute dabei, sogar Akademiker.“ Das Heim wirkt wie eine Arche Noah voller Menschen, die eigentlich nur eint, dass sie kaum eine Chance haben auf dem normalen Wohnungsmarkt. Hier leben deutsche Verschuldete mit Schufa-Eintrag, Alkoholiker und psychisch Kranke, Altersarme, anerkannte syrische Flüchtlinge mit Universitätsabschluss, EU-Osteuropäer mit Minijobs, die aufstockende Hartz-IV-Leistungen beziehen, Menschen mit Behinderungen.
Die Gruppe der Wohnungslosen ist vielfältiger geworden, das zeigt sich nicht nur in der Forckenbeckstraße. Es war auch Thema der Bundestagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG) in Berlin, die noch bis Freitag läuft. 860.000 Wohnungslose gibt es laut BAG in Deutschland. Etwa die Hälfte davon sind anerkannte Flüchtlinge. 52.000 der Wohnungslosen leben auf der Straße, rund die Hälfte von ihnen sind EU-BürgerInnen.
„Man sollte nicht alle in einen Topf werfen“, sagt Sonja N. Sie selbst hat eine Scheidung hinter sich, dann kamen die Depressionen, sie verlor ihren Job, dann die Wohnung, die nur befristet war, dann eine vorübergehende Bleibe. „Wer obdachlos wird, ist kein Penner“, betont die Blondine mit dem freundlichen Gesicht, „das sind Leute, die oft schwere Schicksale hinter sich haben.“ Ein Problem von N. ist der Schufa-Eintrag. Nach einem Einkauf mit einer ungedeckten Kreditkarte erreichten die Bankbriefe sie nicht wegen einer Adressenänderung. Großes Pech. „Mit Schufa-Eintrag kannst du die Wohnungssuche vergessen“, sagt N., „ich habe mich schon hunderte Male beworben.“ Wenn man die gewohnte Bonitätssicherheit nicht bringen kann, schalten die Vermieter auf stur.
Der Wohnungsmarkt der Metropolen
N. ist ein Beispiel dafür, was sich verändert hat auf dem Wohnungsmarkt der Metropolen: Es gibt sie kaum noch, die Sozialwohnungen für Fälle wie sie. Wohnungen für Leute, die eine Krise haben und keine Arbeit. Die aber deswegen noch lange nicht auf Dauer in eine Obdachlosenunterkunft gehören. Der Deutsche Städtetag hatte vor 30 Jahren eigentlich beschlossen, dass Schluss sein soll mit den Obdachlosenheimen. Aber die Zahl der Sozialwohnungen sinkt in den Metropolen, die Häuser fallen aus der Sozialbindung und zu wenige werden neu gebaut.
Sonja N.
Auch der Bedarf hat sich geändert: Vor allem fehlen bezahlbare Kleinwohnungen und Wohnungen für kinderreiche Familien. Hartz-IV-Empfänger, die aus dem Obdachlosenheim kommen, dürfen etwa in Berlin eine Wohnung mit einer Bruttokaltmiete von 437 Euro anmieten. Doch um preiswerte Appartements konkurrieren nicht nur in der Hauptstadt Tausende. Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich das unter einer Jamaika-Regierung ändert. Sozialer Wohnungsbau stand bisher bei der Union nicht oben auf der Agenda.
Heime wie das in der Forckenbeckstraße werden daher wieder gebraucht. „Es gibt viel mehr Interessenten, als wir Plätze hier haben“, sagt Ostermann. Im Heim kann man so lange bleiben wie nötig, braucht dazu aber einen Anspruch auf Sozialleistungen, also Hartz IV, Sozialhilfe oder Grundsicherung im Alter. Wer als Wohnungsloser keinen Platz im Heim bekommt, wird vom Sozialamt an die Notübernachtungen verwiesen – und hier geht es noch weniger komfortabel zu.
Die Obdachlosen müssen jeden Morgen wieder gehen und können erst am Abend wieder vorsprechen. Im Winter werden im Rahmen der Kältehilfe zusätzliche Plätze eingerichtet. In einigen Einrichtungen darf man nur ein paar Nächte hintereinander wiederkommen und muss sich dann für eine Weile woanders umsehen. In den meisten Notquartieren dürfen zumindest im Winter auch EU-Migranten oder Ausländer ohne Aufenthaltserlaubnis übernachten.
Unfreiwillig obdachlos
Gregor, 44, aus Posen in Polen, hat einschlägige Erfahrungen mit Notquartieren gemacht. Seit Anfang 2016 überlebt er in München auf der Straße, ohne Anspruch auf Sozialleistungen oder ein Recht auf eine längerfristige Unterbringung im Heim. Nur die Suppenküchen bleiben. Und es gibt die Teestube „komm“ des Evangelischen Hilfswerks in der Zenettistraße, wo der große Kaffee nur 40 Cent kostet und sich schon vor der Öffnung um 14 Uhr eine Menschentraube bildet. Gregor übernachtete im vergangenen Jahr fünfmal im Kältenotquartier in der Bayernkaserne. Der Ort ist berüchtigt für Diebstähle. Auch Gregor wurde beklaut, sagt er. Den Rest des Winters verbrachte er auf der Straße.
Vor zehn Jahren habe er seine Heimat verlassen, erzählt er in der „komm“-Teestube. In Italien auf einer Apfelplantage arbeitete er als Pflücker für 7 Euro die Stunde. Irgendwann war Schluss mit dem Job. Aber zurück? „Die Mutter war tot, die Schwester weggezogen. Ich hatte da niemanden mehr“, sagt er. Immerhin: Seit Anfang des Monats hat er ein Bett im Kloster St. Anna, die Kirche erlaubt auch EU-Migranten einen längerfristigen Aufenthalt. Bis März darf Gregor hier bleiben. Er habe Aussicht auf einen Job, erzählt er. Sogar ein Job in seinem erlernten Beruf als Tischler.
Einige der Obdachlosen aus den osteuropäischen EU-Ländern arbeiten in Deutschland. In Hamburg ging das Gerücht um, die Notübernachtungen würden als eine Art kostenlose Monteursunterkunft von EU-Arbeitsmigranten oder Jobsuchenden genutzt. In den Notübernachtungen machen Sozialarbeiter eine Art „Perspektivberatung“.
„Manche Menschen zeigen beim Check-In ihre Ausweise“, sagt Susanne Schwendtke, Sprecherin des Hamburger Unterkunftsbetreibers „Fördern & Wohnen“. „Zeigt jemand dann beispielsweise einen rumänischen Pass mit Heimatadresse, wird in der Perspektivberatung geklärt, ob er seine Obdachlosigkeit im Sinne des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes dadurch beenden kann, dass er seine Heimatwohnung aufsucht.“
Obdachlose aus EU-Ländern
Wer nicht unfreiwillig obdachlos ist, hat keinen Anspruch auf den Aufenthalt in einer Notübernachtung. In Hamburg werden die Leute dann zu einer Wärmestube geschickt, die nachts geöffnet hat, aber keine Schlafgelegenheit bereithält. In manchen Städten bietet man den EU-Migranten für vier Wochen eine Überbrückungsleistung und die Fahrkarte in die Heimat an – wenn sie sich verpflichten, auszureisen und nicht mehr wiederzukommen. Auf der Bundestagung der BAG wurde diese Praxis kritisiert.
Auch Obdachlose aus EU-Ländern hätten ein Recht auf eine Unterkunft in Deutschland, erklärt dort der Rechtsanwalt und ehemalige Stadtrechtsdirektor Karl-Heinz Ruder. Grundlage dieses Anspruchs sind die Ländergesetze zum Schutze der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, also Polizeigesetze, keine Sozialgesetze. Die Ordnungsmacht sei in deren Rahmen zur „Gefahrenabwehr“ verpflichtet, also auch zum Schutz von Leib und Leben, sagte Ruder.
Er zitierte verschiedene Rechtsprechungen, nach denen bei „unfreiwilliger Obdachlosigkeit“ zur Gefahrenabwehr auch eine „ganztägige Unterbringung“ gehört. „Das muss sich aber nicht um die gleiche Unterkunft für Tag und Nacht handeln“, so Ruder mit Verweis auf das Oberverwaltungsgericht Baden-Württemberg. Danach ist es erlaubt, die Leute nachts in einem Notquartier unterzubringen und sie für den Tag an eine Wärmestube zu verweisen. Ruder hält die Trennung in Nacht- und Tagquartier für problematisch. Asylbewerber müssten schließlich auch nicht morgens wieder aus dem Heim weg. „Da ist doch von vorneherein klar, dass sie ganztägig untergebracht sind.“ Flüchtlinge und Obdachlose, auch solche aus der EU, „die müssen gleichbehandelt werden.“
Geflüchtete Wohnungslose
Flüchtlinge werden, wenn sie das Asylverfahren durchlaufen haben und anerkannt sind, rein statistisch oftmals zu „Wohnungslosen“. Sie bekommen meist Hartz-IV-Leistungen. Wenn sie keine bezahlbare Wohnung finden, was zum Beispiel in Berlin häufig der Fall ist, bleiben sie statistisch als „Wohnungslose“ weiter im Heim. Laut BAG sind 440.000 der Wohnungslosen anerkannte Flüchtlinge. In manchen Regionen spricht man dabei von „Fehlbelegern“, weil anerkannte Flüchtlinge mit Aufenthaltserlaubnis eigentlich nicht ins Wohnungslosenheim gehören. Genauso wenig wie Sonja N.
Auch bei N. im Haus leben anerkannte Flüchtlinge, eine syrische Familie. „Reizend, die Jungs“, sagt N., „die sind nett und sprechen richtig gut deutsch.“
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