Die deutsche Corona-App: Bald wird Nähe gemessen
Kommende Woche soll es auch in Deutschland eine Corona-App geben. Wer sie nutzt, erfährt, ob jemand in seinem Umfeld infiziert war.
Auf der Open-Source-Plattform Github ließ sich in den vergangenen Wochen quasi live eine Geburt erleben. Zugegebenermaßen eine recht schwierige, eine, bei der ziemlich viele Menschen zugange sind, vor allem Männer – soweit sich das von außen beurteilen lässt. Es sind sich auch nicht alle immer einig, wie genau der nächste Schritt aussehen soll. Aber sie diskutieren sachlich, konstruktiv, mit vielen Codeschnipseln.
Allen ist klar, was hier am Ende auf die Welt kommt: Die deutsche App, die seit der Erfindung des Smartphones wohl die meiste Aufmerksamkeit bekam, bekommt und noch bekommen wird. Die App, die die Nachverfolgung von Kontakten mit Sars-CoV-2 infizierten Personen ins Digitale überführen soll.
Seit Pfingsten ist der Code komplett veröffentlicht, und seitdem intensiviert sich die Diskussion auf Github und Twitter. Es geht um Bugs, also Fehler im Code, die behoben werden müssen, wenn alles reibungslos funktionieren soll. Es geht um Verbesserungsvorschläge, etwa darum, dass die Datenbankberechtigungen besser eingestellt werden können, wie es Alvar Freude, hauptberuflich Referent beim Landesdatenschutzbeauftragten von Baden-Württemberg, in einem ausführlichen Twitter-Thread darlegt.
Die Linken-Abgeordnete Anke Domscheit-Berg sieht den Prozess positiv: „Auf Feedback von der Community wird schnell reagiert, es wurde auch proaktiv dazu aufgefordert, sich zu beteiligen.“
Keine Freiwilligkeit
Wie die App im Kern aussehen wird, ist klar. Der Code: Open Source; die Nutzung: freiwillig; und Anreize soll es nicht geben, das hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) vor einigen Wochen ungewöhnlich deutlich klargestellt: „Was ich nicht möchte: dass man von einer Freiwilligkeit spricht, aber so viele Anreize diskutiert, dass man nun von der Freiwilligkeit nicht mehr reden kann.“ Also keine Bevorzugung von App-Nutzer:innen, etwa beim Kino-Besuch oder der Bahnfahrt.
Kernfunktion der App ist es, Abstände zu anderen Geräten mit der gleichen oder einer kompatiblen App zu messen und Nutzer:innen zu warnen, wenn sie in den vergangenen 14 Tagen Kontakt zu einer Person hatten, die später als Sars-CoV-2-positiv getestet wurde. Darüber hinaus soll sie, optional, auch Ergebnisse des Tests übermitteln können.
Um herauszufinden, ob ein:e Nutzer:in Kontakt zu einer später positiv auf Sars-CoV-2 getesteten Person hatte, setzt die App nicht auf ein örtliches Tracking per Mobilfunkzellen oder GPS, wie in einigen Ländern. Sondern auf Bluetooth Low Energie (BLE). Damit ermitteln die Smartphones, welche anderen Geräte mit entsprechender App sich im Nahbereich von einigen Metern aufhalten.
Um ein möglichst hohes Maß an Datensparsamkeit zu gewährleisten, generiert eine App dabei ständig neue Identifikationsnummern (IDs). Die tauscht sie mit anderen Geräten im Nahbereich aus. Wird ein:e Nutzer:in positiv getestet, bekommt er:sie von der Teststelle oder über eine App-Hotline einen Code. Damit alarmiert die App die Kontakte der vergangenen 14 Tage.
Die App trackt keine Aufenthaltsorte
Aufenthaltsorte kennt oder trackt die App dabei nicht, ebensowenig persönliche Daten. Daher kommt auch der feine Unterschied im Namen: Bei den Corona-Apps handelt es sich meist um Tracing-Apps, also Apps zur Nachverfolgung von Kontakten, die ergänzen sollen, was die Gesundheitsämter jetzt schon tun. Im Unterschied zu Tracking-Apps, etwa für Läufer:innen, die via Standortbestimmung die Laufstrecke ermitteln.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Noch ein Datenschutz-Bonbon: Anders als etwa in Frankreich sollen die IDs der Nutzer:innen nicht auf einem zentralen Server gespeichert werden. Das ist gut für die Privatsphäre, weil sich einzelne Nutzer:innen somit nicht im Nachhinein von Personen, die – berechtigter- oder unberechtigterweise – Zugriff auf den Server haben, identifizieren lassen.
Bundesregierung und Robert-Koch-Institut hätten es wohl lieber zentral gehabt. Denn mit einer zentralen Speicherung lassen sich Kontaktnetzwerke erstellen. Also Übersichten darüber, welche Nutzer:innen wann mit welchen anderen Nutzer:innen Kontakt hatten. Das ist möglicherweise für die Pandemieforschung interessant, gab aber heftige Kritik von Datenschützer:innen.
Schließlich entschied sich die Bundesregierung um. Und das gibt durchaus Anlass zu Spekulation. Gesundheitsminister Jens Spahn und Kanzleramtsminister Helge Braun (beide CDU) hatten den Schwenk mit dem Vertrauens-Argument begründet: Für den epidemiologischen Nutzen der App ist es umso besser, je mehr Menschen sie verwenden. Und das werden umso mehr Menschen tun, je größer das Vertrauen in die App ist.
Die Schnittstellentechnologie ist zentral
Es gibt aber noch einen weiteren Punkt, der eine wichtige Rolle gespielt haben wird. Der hat mit den beiden maßgeblichen Herstellern von Smartphone-Betriebssystemen zu tun, mit Google und Apple. Diese stellen die Schnittstellen für Apps bereit.
Im Fall Corona-Nachverfolgungs-App heißt das, vereinfacht dargestellt, beispielsweise: Sie müssen dafür sorgen, dass die App an die Daten der Abstandsmessung kommt. Und Google und Apple unterstützen für ihre Systeme die dezentrale Speicherung. Für die französische App, die auf das zentrale Modell setzt, heißt das: Die App für iPhones funktioniert nur, wenn Nutzer:innen sie im Vordergrund laufen haben. In der Praxis ist sie damit für Apple-Nutzer:innen nicht ernsthaft verwendbar.
Auch wenn die hiesige App also im internationalen Vergleich in Sachen Privatsphäre und Offenheit recht weit vorne liegt – es ist längst nicht alles gut. Zum Beispiel kritisieren Bürgerrechtler:innen, dass keine gesetzliche Grundlage für ihren Einsatz vorgesehen ist.
Kritik von Bürgerrechtler:innen
Anfang Mai haben Vertreter:innen der Zivilgesellschaft daher einen Vorschlag für einen Gesetzentwurf vorgelegt. Im Juni zogen nun die vier grünen für Justiz zuständigen Minister:innen und Senatoren nach und forderten eine gesetzliche Grundlage für den Einsatz der App. Da könnte beispielsweise die Freiwilligkeit verankert sein, was einen sehr viel stärker bindenden Charakter hätte als die Aussage eines Bundesinnenministers. Auch ein Endpunkt ließe sich definieren: damit die App nicht nach der Pandemie für Überwachungs- oder Strafverfolgungszwecke umfunktioniert wird.
Und: Auch wenn die App selbst Open Source ist – die Schnittstellen von Google und Apple sind es nicht. Und die sind wichtig, sie sind quasi die Wurzeln der App in das Betriebssystem. „Weil die Schnittstellen proprietäre, also nicht-freie Software sind, lässt sich die App damit zum Beispiel nicht in Gänze überprüfen“, sagt Max Mehl von der Free Software Foundation Europe.
Und: Android-Nutzer:innen, die das System ohne Googles Play Services nutzen, müssen abwägen: Installieren sie diese und erlauben Google mehr Zugriffe aufs Betriebssystem? Oder verzichten sie darauf, die App zu nutzen? Apple-Nutzer:innen haben dieses Dilemma nicht, ein iPhone kann nicht ohne Apple-Dienste verwendet werden.
Zudem gibt es ein paar Fragen, die sich kaum beantworten lassen, bevor die App einige Zeit in Gebrauch ist: Wird es haufenweise Fehlalarme geben, weil die Bluetooth-Technologie die Abstände zum nächsten Gerät passabel misst, die App aber nicht weiß, ob der:die Besitzer:in gerade niest und hustet, laut singt oder still mit der Maske über Mund und Nase da steht? Ist es zu viel, die Kontakte der letzten 14 Tage zu alarmieren, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse eher eine Inkubationszeit von einer guten Woche vermuten lassen? Wird die Abstandsmessung funktionieren, werden Wände und Glasscheiben zuverlässig erkannt?
Ist vielleicht auch die Ansteckungsgefahr im Freien so gering, dass es besser wäre, die App dort auszuschalten, weil auch bei viertelstündigem Gespräch eine Ansteckung extrem unwahrscheinlich ist? Und werden diese Fragen überhaupt beantwortet werden? Oder läuft die App jetzt einfach ein Dreivierteljahr, dann gibt es eine Impfung und danach will niemand mehr das Wort Quarantäne hören.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid