Die These: Mehr Missachtung geht nicht

Wie die Gesellschaft in der Coronakrise mit Kindern und Jugendlichen umgeht, ist skandalös. Nun braucht es nichts Geringeres als einen Marshallplan für junge Menschen.

Durch eine offene Tür blickt man in ein Klassenzimmer mit Schüler/innen die Masken tragen

Beispiel für Missachtung der jungen Menschen: das drastisch unterfinanzierte deutsche Schulsystem Foto: Political-Moments/imago-images

Eine aktuelle Diskussion hätte die Situation kaum schöner zuspitzen können: Der Tübinger Bürgermeister sagte, es gebe Triage in den Kinder- und Jugendpsychiatrien, nicht auf den Intensivstationen – und schon schwappte Aufregung durch die Medienlandschaft.

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Daraufhin verkündete die zuständige Fachgesellschaft, das stimme überhaupt nicht. „Jedes notfallmäßig und dringlich vorgestellte Kind aus dem zugehörigen Einzugsgebiet wird kinder- und jugendpsychiatrisch in jedem Einzelfall sofort versorgt.“ Darauf wiederum meldeten sich zahlreiche Kol­le­g:in­nen bei der Fachgesellschaft, um zu sagen, das stimme seit Jahren nicht mehr. Wir alle haben ungeheure Probleme, suizidgefährdete junge Menschen in stationäre Behandlungen zu bringen. Die Fachgesellschaft ruderte ein bisschen zurück, und das Thema versandete. Schließlich hatte inzwischen schon irgendein anderer Bürgermeister irgendwas anderes gesagt, und außerdem ging es ja nur um Kinder.

Wir sparen uns unsere Zukunft. Und das geht über den Klimawandel hinaus: Nicht nur die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist unterfinanziert, auch für das Schulsystem, die Freizeitangebote, die Familienarbeit, die Ernährung und die Spielplätze unserer Kinder gibt es nicht genug Geld.

Es ist jetzt sofort und dringend die Zeit, einen Marshallplan für die Kinder aufzulegen! Also einen hervorragend finanzierten, klug überlegten und mit Verve in die Zukunft gedachten Plan für unsere Kinder. Die Begründung dafür ist nicht Corona, aber das Verhalten, das wir als Gesellschaft in dieser Krise gegenüber unseren Kindern gezeigt haben, sollte der Tiefpunkt sein, der deutlich macht: Mehr gesellschaftliche Missachtung der Kinder geht nicht. Wir müssen alles ändern.

Schluss mit dem schamhaften Schmunzeln

Es gibt praktisch keine kostenlosen Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche. Ja, diese müssen kostenlos sein, nur dann sind sie niedrigschwellig und inklusiv genug. Stattdessen läuft die Polizei durch die Parks und vertreibt die Jugendlichen. Wohin sollen sie gehen? Nach drüben?

Und wussten Sie, dass ausgerechnet Er­zie­her:innen kein Lehrlingsgehalt bekommen?

Seit wie vielen Jahren schmunzeln wir schon leicht schamhaft über ein zerfleddertes Schulsystem, das einen Umzug von Lübeck nach Hamburg für Kinder erschwert und das den Aufbau eines Auslandsschulsystems für Botschaften, Hilfsorganisationen und Mit­ar­bei­te­r:in­nen deutscher Unternehmen unmöglich macht? International arbeitende Familien entscheiden sich lieber für das amerikanische oder französische Schulsystem, weil sie damit Kontinuität für ihre Kinder wahren können. Interessant für ein Land, das sich gern selbst den Exportweltmeistertitel verleiht.

Seit wie vielen Jahren schauen wir uns immer wieder Berichte über zerfallende Schulgebäude an und hören von der Knappheit der Kindergartenplätze? In vielen Schulen sind die Toiletten in miserablem Zustand. Und aus der technischen Ausrüstung der Schulen sollte man vermuten, das Zeitalter der Heimcomputer habe gerade begonnen.

Therapien wie im Mittelalter

Die Halbierung der jetzigen Klassenstärken würde nicht nur dazu führen, dass das Potenzial von jeder und jedem angemessener gefördert werden würde. Es würde auch die Arbeitszufriedenheit der Lehrkräfte stark verbessern, sodass diese länger im Beruf bleiben könnten. Momentan gehören Leh­re­r:in­nen zu den Gruppen, die am häufigsten vor dem gesetzlichen Renteneintritt ihren Beruf verlassen.

Ein solch sinnvoller Schritt würde auch dazu führen, dass viel weniger junge Menschen die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Anspruch nehmen müssten. Einerseits könnten sie mit ihren Problemen besser und schneller gesehen werden. Andererseits müssten aus ihren Handicaps, wie beispielsweise einer Aufmerksamkeitsstörung, keine Behinderungen werden, wenn ihnen individualisiert geholfen werden könnte.

Überhaupt ist das Schulsystem geeignet, einen medizinisch denkenden Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Man hat riesige Zahlen von Schüler:innen, die alljährlich mit ungefähr demselben Ziel das System durchlaufen – eigentlich eine Idealbedingung für wissenschaftliche Studien. Man probiert eine neue Idee aus, vergleicht sie mit dem Alten und misst das Ergebnis. Dann setzt sich die bessere Idee durch und immer so weiter. In der Medizin funktioniert es so.

Im Mittelalter behandelte man Gicht mit Brennnessel-Auspeitschungen, heute mit Schmerzmitteln und Harnsäurehemmern. Doch unser Schulsystem entwickelt sich nicht auf diese Art weiter. Auf die Medizin übertragen, werden im Schulsystem immer wieder mittelalterliche Ansätze hervorgeholt, auch wenn sich schon längst bessere Therapien bewährt haben. Mit unserer Gesundheit nehmen wir es genau, was mit unseren Kindern passiert, ist mehr oder weniger egal. Also, natürlich nicht mit unseren Kindern, die schicken wir in die zunehmende Zahl von Privatschulen und -instituten. Es geht eher um die Kinder der anderen.

Wirtschaft über alles

Coronahilfen hat bekanntermaßen die Industrie bekommen, der Tourismus, die Lufthansa, das Hotel- und Gastgewerbe. Selbst die Autoindustrie hat Coronahilfen bekommen, obwohl deren Krise nichts mit einer Infektionskrankheit, sondern mit dem langjährigen Beharren auf Verbrennungsmotoren zu tun hat. Und natürlich wird sich Deutschland dem 2-Prozent-Ziel für Rüstungsausgaben weiter annähern, das haben wir unseren Nato-Partnern versprochen. Und was sind schon 60 Milliarden Euro, wenn es um ein Versprechen unter Freunden geht?

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Corona hat uns gezeigt, wo die Schwachpunkte unserer Gesellschaft liegen, wie die Interessen derzeit priorisiert werden. Die Wirtschaft wird es ganz gut überstehen, das Gesundheitswesen erweist sich als leistungsfähig – Kultur und Kinder waren letztendlich egal.

Statt sich künstlich über die Triagierung in Krankenhäusern zu erregen, sollten wir tatsächlich damit aufhören, Kinder und Jugendliche als unwichtige Personen zu behandeln. Es kann nicht nur darum gehen, dass diese Menschen in ihren Einrichtungen – möglichst ganztägig – betreut werden, damit ihre Eltern an der Wertschöpfung teilnehmen können. Es ist auch wichtig, was in diesen Einrichtungen passiert.

Als die Kinder gegen wissenschaftliche Empfehlungen wieder in voller Stärke in die Schulen geschickt wurden, wie im Herbst geschehen, fiel plötzlich allen auf, was für wichtige soziale Orte die Schulen doch sind. Aber kaum kann der reguläre Schulbetrieb wieder aufgenommen werden, ist diese Weisheit vergessen. Wie wird denn konkret dafür gesorgt, den sozialen Aspekt dieser Orte zu stärken? Wie viele So­zi­al­ar­bei­te­r:in­nen gibt es dort? Wie wird die soziale Arbeit dort gefördert?

Hauptsache, es geschieht

So also sehen wir unsere Kinder: eine beliebig verschiebbare, eindeutig verzichtbare und ohne Widerstand ausschaltbare Minderheit, die nicht in der Lage ist, sich ausreichend Gehör zu verschaffen und die man deshalb jederzeit noch in die dunkelsten Keller sperren kann, solange man dazu ein paar bedauernde Worte spricht.

Wenn wir uns – gerade auch im Wahljahr – für die Zukunft entscheiden wollen, dann sollten dabei die Menschen, die in dieser Zukunft leben sollen, eine tragende Rolle spielen. Denn – um Gertrude Stein zu paraphrasieren – Geld ist genügend vorhanden, es steckt nur leider in den falschen Taschen.

Der deutsche Staat investiert in Flugzeuge, Kreuzfahrtschiffe und Tagebaue, hat aber kein Geld für Schulen, Jugendclubs und kein Kindergeld, das diesen Namen verdient. Irgendwelche halbherzigen, zeitlich begrenzten Partikularprogramme zur Nachhilfe in ein paar Schulfächern werden sicher nicht die Probleme der Jugend lösen, die in der Coronakrise grell sichtbar geworden sind.

Ob wir aus Scham über die vergangenen 14 Monate oder aus Scham über die vergangenen 14 Jahre oder aus Vorfreude auf eine gute und lebenswerte Zukunft die Entwicklung der Kinder endlich adäquat fördern, ist zweitrangig – Hauptsache, es geschieht.

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49, ist Schriftsteller und Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -­psychotherapie in Berlin.

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