Generation Corona: Ein ausgelaugter Jahrgang
Die Politik hat viel versucht, damit die Pandemie bloß die Schulabschlüsse nicht gefährdet. Das ging auf Kosten der Schüler:innen.
D ie Generalprobe ist für Lucien Hildesheim schon mal gründlich schiefgegangen. Drei Wochen vor ihren Abschlussprüfungen denkt die Realschülerin an die missratene Mathe-Vorprüfung und fragt sich ernsthaft: „Klappt das überhaupt mit dem Bestehen?“ Sicher ist sich die Zehntklässlerin da keinesfalls. Und das liegt nicht nur an ihrer Matheschwäche.
Lucien geht in Stadtilm in Thüringen auf die Gemeinschaftsschule. Mitte April kratzte hier im Ilm-Kreis der Inzidenzwert an der 350er-Marke. Generell gehört Thüringen zu den Bundesländern, in denen die Schulen mit am längsten geschlossen waren. Lockdown, Unterrichtsausfall, Isolation, dazu Prüfungsvorbereitungen, Notendruck, Stress – für Lucien und ihre Klassenkamerad:innen waren die vergangenen Monate, war dieses zweite Coronaschuljahr: eine Belastung. Lucien beschreibt es als permanente Ausnahmesituation: „Ich kann mich gar nicht mehr zum Lernen motivieren.“ Mit dem Realschulabschluss will sie es trotzdem noch probieren.
Rund 1,1 Millionen Schüler:innen machen in diesem Frühjahr und Sommer in Deutschland ihre Schulabschlüsse, private und Berufsschulen sind da noch nicht mitgerechnet. Während viele Abiturient:innen schon mit ihren Prüfungen durch sind, stehen sie an den meisten Förder-, Haupt- und Realschulen noch aus. Die 16 Kultusminister:innen in den Ländern haben ihre Prioritäten früh erklärt: Alle Schüler:innen sollen, wenn irgend möglich, ihre Abschlüsse machen können, bei den Schulöffnungen waren Abschlussklassen noch vor den Grundschulen dran.
Manche sprechen schon von einer Generation Corona, einer verlorenen Generation. Aber gibt es die überhaupt?
Brüche und Auszeiten sind normal, sie sind Bestandteile jeder Biografie. Nach dem Zweiten Weltkrieg starteten mehrere Jahrgänge mit Notabitur und wurden schnell Leistungsträger:innen der beiden Deutschlands in Ost und West. Vor 30 Jahren wurde der Sommer 89 einer der Anarchie für die Jugend der ehemaligen DDR, mit dem Sozialismus brach ein Bildungssystem zusammen. Doch in der heutigen Gesellschaft, die Wert auf stringente Lebensläufe legt, wird der Bruch schnell zum Makel, die Auszeit erklärungsbedürftig.
Die Sozialwissenschaftler Diether Dohmen und Klaus Hurrelmann warnen vor einem leichtfertigen Umgang mit dem Begriff „Generation Corona“. Und doch konstatieren sie: „Es gibt eine größere Gruppe von jungen Menschen, deren Zukunftschancen sich durch die Entwicklungen des vergangenen Jahres höchstwahrscheinlich deutlich verschlechtert haben.“ Das ist das Fazit ihres gerade erschienenen Buches, in dem sie zahlreiche Untersuchungen zur Situation von Kindern und Jugendlichen im Pandemiejahr zusammentragen.
Kein Nachteil, so lautet das Versprechen der Politik, solle den Absolvent:innen wegen der Pandemie entstehen. Doch was ist dieses Versprechen wert, wenn die Politik in Echtzeit mitverfolgen kann, dass sich die Ungleichheiten im Bildungssystem mit jeder Woche Distanz- oder Wechselunterricht verstärken? Wenn die Folgen für das Berufsleben der Betroffenen heute noch gar nicht absehbar sind?
Die Unsicherheit ist, was den Betroffenen vor allem zu schaffen macht: Ist es fair, dass ihnen nach zwei chaotischen Schuljahren dieselben Prüfungen abverlangt werden wie den Jahrgängen ohne Corona? Können sie kurz vor Ende der Schulzeit die unverschuldeten Wissenslücken alle noch füllen? Haben sie die gleichen Chancen auf einen guten Ausbildungs- oder Studienplatz? Die taz hat mehrere Schüler:innen kurz vor ihrem Abschluss befragt, wie sie das Coronajahr erlebt haben, und wie sie in die Zeit danach starten.
Lucien Hildesheim, 10. Klasse Realschule
An Lucien Hildesheims Gemeinschaftsschule in Stadtilm scheitert das Versprechen der Politik auf Chancengleichheit schon an der Internetverbindung. Die Schule habe im ersten Lockdown zwar viel umgestellt, um Onlineunterricht möglich zu machen, erinnert sich die 16-Jährige. „Aber entweder hatten wir Schüler Internetprobleme oder die Lehrer.“ Wegen der schlechten Verbindung zu Hause sei sie in die Konferenzen gar nicht erst reingekommen. Den Stoff habe sie sich dann hinterher von Klassenkamerad:innen besorgen müssen. Mit den Internetproblemen kamen die Lernlücken, mit den Lernlücken der Stress und mit dem Stress die Selbstzweifel allein vor dem Bildschirm. Als Lucien und ihre Mitschüler:innen dann endlich wieder in die Schule durften, standen sofort Klausuren an, reihenweise, „manchmal acht in einer Woche“.
Das alles hätte Lucien vielleicht noch bewältigt. Doch die strengen Beschränkungen galten ja nicht nur für das Schulleben, auch die Freizeit war anders und anstrengend. Keine Freundin, die man mal eben in den Arm nehmen kann, und Luciens Hobbys – Schulchor und Tanzunterricht – fielen ersatzlos aus.
Dann kam der Januar, die Bewerbungsfristen für Ausbildungsplätze rückten näher, die Halbjahreszeugnisse standen an. Als Lucien klar wurde, dass sie in Mathe von einer Vier auf eine Fünf abrutschen würde, „da ist die Bombe geplatzt und ich bin zusammengebrochen“. Sie habe viel geweint, konnte sich nicht konzentrieren, für ein paar Tage war an Lernen nicht zu denken. Von der Schule bekam sie keine Hilfe. Die Schulsozialarbeiterin war pandemiebedingt nicht im Einsatz. Geholfen haben ihr stattdessen Freunde und ihre Familie.
Eine Befragung von 6.000 Abiturient:innen in Deutschland zwischen Herbst 2019 und Frühjahr 2021 des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ergab, dass das Risiko einer Depressions- oder Angststörung beim Abiturjahrgang 2021 um 25 Prozent gestiegen ist. „Das ist schlimmer als der Effekt, den Erwachsene beim Eintritt in die Arbeitslosigkeit erleben“, sagt Alexander Patzina vom IAB, der die Befragung mitdurchgeführt hat. Sorgen um die berufliche Zukunft können laut dem Sozialwissenschaftler rund 50 Prozent des erhöhten Erkrankungsrisikos erklären. Man müsse zudem davon ausgehen, dass die Situation für Schüler:innen anderer Schulformen noch belastender sei.
Florim Abdullahu kommt an einem Abend Ende März von der Arbeit. Er hat noch schnell geduscht und sitzt nun mit weißem T-Shirt vor dem Bildschirm. Der 26-Jährige macht eine Ausbildung zum Dachdecker. Den praktischen Teil absolviert er in einem kleinen Betrieb und in einem Ausbildungszentrum, den theoretischen Teil in der Berufsschule in Karlsruhe. Bald stehen dort die Prüfungen an – Deutsch, Fachtheorie und Wirtschaft. Wann genau, ist noch nicht klar. Eigentlich fühlt er sich gut vorbereitet, ein wenig nervös ist er dennoch. Zur praktischen Prüfung wird nur zugelassen, wer die Fachtheorie bestanden hat. „Davor hab ich am meisten Respekt.“
Abdullahu ist im Kosovo aufgewachsen, hat dort angefangen, Pädagogik zu studieren. Vor vier Jahren kam er nach Deutschland. Der Liebe wegen. Mit Frau und Sohn wohnt er in einem Dorf in Baden-Württemberg. Handwerker sind gefragt. Für die Ausbildung hat er sich beworben, weil auch sein Vater den Beruf ausübte. „Als Kind war ich oft auf Dächern.“
Alle sechs bis acht Wochen fährt er nach Karlsruhe auf die Berufsschule. Die Heinrich-Hübsch-Schule ist ein mächtiger Komplex aus rotem Klinker. Über 1.700 Schüler:innen aus 50 Nationen werden dort beschult. Auch 130 Geflüchtete sind darunter. Sie werden Maurer:innen, Zimmerer:innen, Schlosser:innen oder auch Dachdecker:innen. In Handwerksberufen hätten Geflüchtete häufig gute Chancen, sagt Schulleiter Hannes Ludwig.
Abdullahu war im zweiten Lehrjahr, als im Frühjahr 2020 der erste Lockdown verfügt wurde. Die Heinrich-Hübsch-Schule stieg fast sofort auf Onlinelernen um. Das Netz war zunächst überlastet, es dauerte, Aufgaben hochzuladen. Der Blockunterricht von kurz vor acht bis halb vier fand über ein Streamingportal statt. Anfangs habe er sein Handy genutzt, später einen Laptop gekauft, erzählt Abdullahu. Nicht alle seiner 17 Mitschüler:innen hätten sofort Anschluss gehabt, mittlerweile haben alle Endgeräte. Keiner sei während des Coronajahres abgesprungen.
Die GEW schlug vor, auf Noten zu verzichten
Als die taz ihn Ende März dieses Jahres interviewt, sind die Schulen bundesweit gerade wieder geschlossen, wegen der Bundesnotbremse. Nur die Abschlussjahrgänge dürfen zum Präsenzunterricht. Mit Maske und auf Abstand. Er habe manchmal Kopfschmerzen und könne sich schwer konzentrieren, sagt Abdullahu. Er ist aber dankbar, dass Unterricht in der Schule stattfindet, denn das Onlinelernen sei noch anstrengender. Zumal sein Sohn noch nicht in die Kita geht. „Der Druck macht uns schon zu schaffen.“ Und er ist froh, dass die Prüfungen stattfinden.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Unter anderem die Bildungsgewerkschaft GEW hat vorgeschlagen, auf Noten und Prüfungen im Coronajahr zu verzichten. Davon hält Schulleiter Ludwig nichts: „Auf jeden Fall soll es Zeugnisse geben. Denn die Schüler:innen haben doch viel geleistet.“
Florim Abdullahu will einen guten Abschluss machen, bei Denis Kohl ist das schiefgegangen. Der 18-jährige Berliner wurde nicht zu den Abiturprüfungen zugelassen. Ausgerechnet kurz vor der Ziellinie hagelte es zu viele schlechte Noten. In Politik, in Physik. In Deutsch und Englisch. Vier sogenannte Leistungsausfälle erlaubt die Prüfungsordnung in den Grundkursen in zwei Jahren Oberstufe. Bei Denis waren es fünf – in einem Jahr. „Es ist schon echt ärgerlich“, sagt er am Telefon.
Man hört an seiner Stimme, dass es ihm nicht ganz leicht fällt, über die vergangenen Monate zu sprechen. Er erzählt von der Unlust, sich bei den Onlinekursen mündlich zu beteiligen. Von den Warnungen der Lehrer:innen, dass er sich jetzt reinhängen müsse, um noch auf die rettenden fünf Punkte, eine Vier minus, zu kommen. Warum ihm das Lernen zu Hause, allein vor dem PC, nicht liegt, kann er sich auch nicht erklären. „Ich hatte immer so einen Schnitt von 2,4 oder 2,6“, sagt er. „Wenn ich den Lehrer vor mir habe, kann ich mich viel besser motivieren.“
Er ist sich sicher: Ohne den langen Lockdown, die unübersichtlichen Onlinetools, mehr direkten Kontakt mit den Lehrer:innen würde er jetzt mit seinem Jahrgang das bestandene Abi feiern. Jetzt gehört er zu denen, die das Jahr wiederholen müssen.
Das bedauern auch seine Lehrer:innen. Denis sei ein guter Schüler, vor allem mündlich, und er liebe Sport, sagt sein Politiklehrer. Die Entscheidung habe das Kollegium, habe er sich nicht leicht gemacht. Einen Schüler lasse man nie gerne durchrasseln. „Doch ich bin mir unsicher, ob man Denis mit einem geschenkten Abitur einen Gefallen getan hätte.“
Er sei in manchen Fächern komplett abgetaucht, war in keinem Onlinemeeting, fehlte auch noch, als die Klasse nach den Faschingsferien wieder in die Schule durfte. Mehrfach habe er Denis angerufen, so der Lehrer. Dem Abiturient sei auch Lerncoaching angeboten worden. Letztlich blieb dem Lehrer nichts anderes übrig. Er musste Denis null Punkte eintragen. Aber er wünsche ihm, dass er den Frust jetzt in positive Energie umwandeln könne. Dann schaffe Denis im nächsten Jahr auch ein gutes Abitur – wenn nicht eine vierte oder fünfte Pandemiewelle dazwischenkommt.
Wie viele Schüler:innen wie Denis Kohl dieses Jahr ihren Abschluss verpassen, wissen die Ministerien noch nicht. Sind es mehr als erwartet, könnten die Bildungspolitiker:innen noch unter Druck geraten. Sie haben sich früh darauf festgelegt, dass trotz Pandemie alles so weitergehen muss wie immer: Lernen, Zensuren, Prüfungen. Schon im Januar – als die Schulen von Garmisch bis Flensburg noch geschlossen waren – erklärte die Kultusministerkonferenz: Abschlussprüfungen finden auch 2021 statt. Zu diesem Zeitpunkt lag die bundesweite Inzidenz bei über 100 und stieg ab Mitte Februar wieder steil an. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek sprach von einer „Gratwanderung“.
Die GEW forderte, die Abschlussprüfungen notfalls ausfallen zu lassen, aber das wollten die Bildungsminister:innen auf keinen Fall. Nur in Berlin verzichtete man auf schriftliche Prüfungen für den Mittleren Schulabschluss nach Klasse 10. Die übrigen Länder versuchten, den Druck aus dem Kessel zu nehmen. Sie verlegten Prüfungstermine nach hinten, ließen den Schulen mehr Auswahl bei den Aufgaben und verlängerten die Zeitvorgaben, um die Aufgaben zu bearbeiten. Selbst eine zusätzliche halbe Stunde blieb jedoch oft ungenutzt, denn bei gut gelüfteten, eiskalten Räumen glich manche Deutschprüfung im Frühjahr 2021 eher einer Polarexpedition mit Thermoskanne, Wärmekissen, im Mantel und mit Maske.
Sie hätte für das Pensum an Matheaufgaben im Abitur eigentlich doppelt so viel Zeit gebraucht, meint Cora Dobbratz aus Berlin. Sie besucht ein Gymnasium mit naturwissenschaftlichem Profil im Bezirk Lichtenberg. „Die Aufgaben waren alle machbar. Aber es waren einfach zu viele“, sagt sie. Das sei gerade in der derzeitigen Situation unfair, wo viele Schüler:innen durch die Pandemie zurückgeworfen seien. „Das komplette zweite Semester fand praktisch nicht statt.“ Dobbratz startete deshalb eine Petition im Internet. Sie fordert eine Überprüfung der Aufgaben und eine daran angepasste Bewertung. Ähnliche Petitionen laufen auch für andere Länder. In Bayern ist es eine Mathelehrerin, die darauf hinweist, dass versäumter Stoff nicht nachgeholt wurde und trotzdem Prüfungsbestandteil war. 37.500 Menschen unterschrieben, in Berlin hat Dobbratz bislang 600 Unterschriften gesammelt.
Einen Coronabonus solle es bei der Bewertung nicht geben, antworten die meisten Kultusministerien auf Anfragen der taz. Doch einige Ministerien appellierten an die Lehrer:innen, „die Bewertungen mit pädagogischem Augenmaß vorzunehmen“. So steht es in einem Brief, den das baden-württembergische Kultusministerium Mitte Februar an die Schulämter verschickte.
In Rheinland-Pfalz begannen die Abiturprüfungen am frühesten, Anfang Juni lagen flächendeckende Ergebnisse zu ihnen vor. Sie seien mit denen im vorigen Jahr vergleichbar, teilt das Kultusministerium nach einer ersten Sichtung der Daten mit. In den anderen Bundesländern werden ähnliche – möglicherweise sogar leicht bessere – Ergebnisse erwartet.
Also alles geritzt? Mitnichten, sagt der renommierte Bildungsökonom Ludger Wößmann: „Wie hoch die Bildungsverluste wegen der Pandemie wirklich sind, weiß niemand.“ Eine bundesweite Lernstandserhebung wie in den Niederlanden fehle bislang. Dort kam bei landesweiten Tests in den Kernfächern raus: Im Fernunterricht lernten die Schüler:innen so gut wie nichts. Die größten Lücken hatten Kinder aus sozial schwachen Familien.
Denis Kohl, nicht zu den Abiturpüfungen zugelassen
Ob das in Deutschland ähnlich ist, wollen auch Wößmann und sein Team vom ifo-Zentrum für Bildungsökonomik in München wissen. Deshalb haben sie im vergangenen und in diesem Jahr mehr als 3.000 Eltern gefragt, wie viele Stunden deren Kinder zu Hause mit Lernen verbracht haben. Das Ergebnis: Die tägliche Lernzeit hat sich im ersten Lockdown mehr als halbiert, im zweiten lag sie nur unwesentlich höher. Die entstandenen Lücken lassen sich möglicherweise nicht mehr aufholen, sagt Wößmann: „Ich denke da vor allem an die siebten bis neunten Klassen, die am längsten zu Hause lernen mussten.“
Berufswahl und Sicherheitsdenken
Natürlich gebe es auch dort Schüler:in-nen, die problemlos über einen längeren Zeitraum eigenständig lernten. Schwierig sei es jedoch für die, die sich ohnehin schwer tun mit dem Lernen oder zu Hause keine Unterstützung erhalten. „Wir sehen bei den Bildungsverlusten dieselben Ungleichheiten, die das deutsche Bildungssystem seit Langem prägen“, so Wößmann: „Erfolg und Misserfolg hängen wieder einmal stark mit dem Bildungshintergrund der Schülerinnen und Schüler zusammen.“
Das hat langfristige Folgen für die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, sagt der Volkswirt. Denn ausbleibender Schulunterricht, das zeigten viele Studien übereinstimmend, bedeute weniger Einkommen. Wer in Deutschland ein Drittel Schuljahr mehr lernt, verdient später statistisch gesehen 3 Prozent mehr. Bei denen, die wegen Corona ihre Berufsausbildung nicht beenden, dürften die Einbußen noch drastischer ausfallen, schätzt Wößmann. Er rechnet damit, dass der Anteil von ungelernten Arbeitskräften in der Bevölkerung in den kommenden Jahren steigen werde.
Der Realschülerin Lucien Hildesheim wird dieses Schicksal wohl erspart bleiben. Sie hat schon einen Ausbildungsplatz sicher – unabhängig davon, ob sie ihre Prüfungen besteht. Zu verdanken ist das dem Hauptschulabschluss, den sie vor einem Jahr gemacht hat. Sie hat gleich zwei Zusagen für die Ausbildung als medizinische Fachangestellte bekommen.
Lucien hat sich für das Bundeswehrklinikum in Ulm entschieden. Dort wird sie Patient:innen betreuen, Blut abnehmen und Infusionen legen. „Ich habe mich sehr über die Zusage gefreut – aber man muss eben auch erst mal einen Ausbildungsplatz finden.“
Florim Abdullahu blickt ebenfalls optimistisch in die Zukunft. Ende Mai hat er die theoretischen Prüfungen bestanden. „Am schwierigsten war Fachtheorie.“ Sein Ausbildungsbetrieb hat schon zugesagt, ihn zu übernehmen. Sein Ziel: zwei, drei Jahre arbeiten und dann vielleicht den Meister machen. Ende Juli stehen aber erst mal die praktischen Prüfungen für den Gesellen an.
Wie wenig selbstverständlich heute, in der Pandemie, ein sicherer Ausbildungsplatz ist, zeigt die Statistik. Im Jahr 2020 erreichte die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge mit rund 465.200 einen neuen Tiefstand. Auch weil sich viele Betriebe momentan keine Azubis leisten können oder wollen. Inwieweit sich die Verdopplung der Ausbildungsprämie, die das Bundeskabinett Mitte März beschloss, bemerkbar machen wird, ist derzeit noch nicht absehbar.
Lucien ist sich sicher, die richtige Ausbildung gewählt zu haben, denn fürs Krankenhaus habe sie sich schon immer interessiert. Allerdings spielte sie auch mit dem Gedanken, Köchin zu werden, erzählt sie. „Ich habe den Plan aber relativ schnell wieder in den Wind geschossen, weil es eben nicht so ein krisensicherer Job ist.“ Bei der Bundeswehr sei man auf jeden Fall abgesichert, „ob jetzt Pandemie ist oder sonst was.“
Dass sich junge Menschen in Krisenzeiten für sichere Jobs entscheiden, belegt laut Sozialwissenschaftler Alexander Patzina die Forschung. In der Pandemie könnte sich die Geschichte wiederholen. Bei einer Befragung von Abiturient:innen in Deutschland durch das IAB gab fast jede:r fünfte an, dass Corona sie in ihrer Ausbildungs- oder Studiumswahl stark beeinflusst habe.
Hamid Haziri, Landesschülervertreter in Thüringen
Auch Hamid Haziri, Landesschülervertreter für die thüringischen Regelschulen, beobachtet das: „Viele von uns haben Sorge, dass sie ihren Wunschberuf nicht ausüben können oder es nicht aufs Gymnasium schaffen, weil wir den Stoff aus Klasse 9 und 10 nicht richtig gelernt haben.“ Auch bei Hamid sah es im Februar gar nicht gut aus. „Man kann sich vieles selbst beibringen, aber nicht alles“ ist sein Resümee nach fast anderthalb Jahren Pandemie. Der Zehntklässler darf seit einigen Tagen wieder in den Präsenzunterricht und sagt: „Ich bin jetzt richtig am Ackern.“ Hamid möchte aufs Gymnasium, studieren, später Ethik- und Philosophielehrer werden.
Fatales Signal für den Ruf des Abiturs
Selbst Abiturient:innen, die eine gute Durchschnittsnote erzielen, könnten noch von der Pandemie eingeholt werden, warnt der Münchner Bildungsökonom Ludger Wößmann: „Ich befürchte, dass einige nicht die mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenzen haben, um ein Ingenieurstudium zu packen oder um es sich zuzutrauen.“ An den Unis werde man die Lücken beziehungsweise die fehlenden Bewerber:innen sicher bemerken. Dann blieben mehrere Möglichkeiten: Die Hochschulen weiten ihre Lernangebote vor und neben dem Studium aus – und setzen zusätzlich auf Eignungstests für alle Bewerber:innen unabhängig von der Abschlussnote. Das aber wäre ein fatales Signal für den Ruf des deutschen Abiturs, so Wößmann.
Es ist aber schon Realität. Laut dem Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) bieten zum kommenden Wintersemester bereits mehr als zwei Drittel aller Fachbereiche an deutschen Hochschulen Vor- oder Brückenkurse an, in Maschinenbau oder Physik sind es so gut wie alle. Und bei 60 Prozent der Studiengänge wird nicht mehr allein die Abiturnote für die Zulassung berücksichtigt, es fließen auch persönliche Gespräche, Wissens- oder Online-Selbsttests ein. Diese Entwicklung begann zwar schon vor Corona, für Studienanfänger:innen sind sie heute jedoch besonders wertvoll, meint CHE-Geschäftsführer Frank Ziegele.
Auch Yannick Martens möchte studieren, Biotechnologie in seiner Heimatstadt Berlin. Er ist mit dem Abitur eben an der Paula-Fürst-Gemeinschaftsschule fertig geworden und fühlt sich auf das Studium gut vorbereitet, auch dank seiner Biologielehrerin. „Sie hat auch in der Pandemie super Unterricht gemacht.“ Dass er sich auch ohne enge Betreuung motivieren und Stoff selbst erarbeiten kann, hat er in seinen anderen Prüfungsfächern – Englisch, Erdkunde, Deutsch – gelernt.
Deshalb findet er es seltsam, dass sein Abi weniger wert sein soll als das früherer Jahrgänge. Schließlich hätten sie kein Durchschnittsabitur bekommen, sondern alle Prüfungen geschrieben. Einen gewissen Bonus habe es zwar schon gegeben: „Wir konnten zwischen mehr Aufgaben wählen, okay.“ Und im ersten Lockdown seien sie in den Grundkursen nur mündlich geprüft worden, da hätten alle bessere Noten gehabt als sonst. Von den 32 Halbjahresnoten aus der Oberstufe, die in Berlin in die Abiturnote einfließen, fielen ein paar also unerwartet gut aus. „Aber dafür, dass wir echt viele Einschränkungen hatten, wurde uns das Abitur nicht geschenkt.“
Wie gut die Prüfungsvorbereitung gelaufen ist, wäre aber reines Lotteriespiel gewesen: „Es hing voll vom Lehrer ab.“ Als die Schulen geschlossen waren, habe die Biolehrerin beispielsweise nicht nur Aufgaben rumgeschickt, sondern Unterricht bei Zoom gehalten und Infos in eine eigene Whatsapp-Gruppe gestellt. „In den meisten Fächern haben wir aber über Monate nur die Stimme der Lehrkräfte gehört, in Deutsch fand irgendwann gar kein Unterricht mehr statt.“ Er schätzt, dass von 90 Mitschüler:innen, die mit ihm die Oberstufe begonnen haben, etwa 30 nicht bis zum Abi gekommen sind. Für eine Gemeinschaftsschule ist das aber auch ohne Corona nicht ungewöhnlich.
Am Montag vor einer Woche hat Yannick seine Noten erfahren, Gesamtschnitt: 1,8. Das könnte sogar für ein Biotechnologie-Studium an der TU Berlin reichen. Vergangenes Semester lag der NC dort bei 1,7. „Wenn nicht, muss ich überlegen, was ich mache. Entweder an einer Uni studieren, wo der NC niedriger ist, oder die Zeit mit einem Wartesemester überbrücken“, sagt er. Eines steht für ihn aber schon fest: „Den langen Sommer will ich erst mal genießen.“
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