Die Mitropa-Gaststätte in Leipzig: Ein Palast der Republik
Unsere Autorin erinnert sich an die Mitropa in Leipzig. Die opulente Halle stand für Weltläufigkeit und doch auch fürs Ankommen.
Spätestens in Lutherstadt Wittenberg ist die Sache klar: Das wird nix mehr. Die „Studentenschleuder“ von Berlin nach Leipzig, jeden Sonntagabend gerammelt voll, hat Verspätung. Der Zug am Ende der Woche hat fast immer Verspätung. Und dann ist am Hauptbahnhof in Leipzig die letzte Straßenbahn weg.
Und nun?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Erst mal rein in die Mitropa. Ein Bier, ein Korn, eine Soljanka. Die Kellnerinnen kennen das – und wuchten das Zeug – zack, zack – an den Tisch. Ohne Bestellung. Sonntagnacht gibt es studentische Stammgäste, vor allem bei Schnee und Eis. Manche warten auf die erste Straßenbahn in der Früh, andere auf ein Taxi.
Ich habe so manche Nacht in der Mitropa im Leipziger Hauptbahnhof durchgemacht – in den 1980ern als Studentin in Leipzig. Die Mitropa, eine Halle so großzügig, offen und hoch wie der Petersdom in Rom, nur ohne Goldschnickschnack. Dafür Holztische, harte Stühle, eine breite Holztreppe auf eine Empore. Die Luft eine Smogmischung aus Zigarettenqualm und öligem Bockwurstdunst. Durchgehend geöffnet, sogar zu Weihnachten. Tagsüber Lokal für Reisende und Geschäftsleute, nach Dunkelwerden Asyl für Schichtarbeiter, Trinker, Stasispitzel, Prostituierte, einsame Herzen. Ein Palast der Republik.
Zur Gründungszeit eine begehrtes Angebot
Im Jahr 1916 gründeten die Eisenbahnverwaltungen von Deutschland, Österreich und Ungarn die Mitteleuropäische Schlaf- und Speisewagen-Aktiengesellschaft: Schlafangebote in den Zügen, Imbisslokale in den Bahnhöfen. Auch in Leipzig. Damals das größte und begehrteste gastronomische Angebot in der Stadt. Zwei riesige Säle, der Preußensaal in der Westhalle für die 3. und 4. Klasse, im Ostzugang der Sachsensaal für die 1. und 2. Klasse. Beide Säle in edlem Holz mit sorgfältig kolorierten Decken und reduziert geschwungenen Kronleuchtern. Auf den Tischen im Sachsensaal weiße Tischdecken, im Preußensaal blankes Holz, aber nicht weniger gastlich. Die stilsicherste Architektur, seit es Bahnhofsgastronomie gibt.
Die Mitropa überlebte beide Weltkriege, starb kurz darauf im Westen und rettete sich in die DDR – mit einem fortan schlechten Ruf. Bitter-saurer Kaffee, schales Bier, verkochte Nudeln. Dreckige Speisewagen in den Zügen, schlampige Bistrobuden in den Bahnhöfen, in Berlin, Dresden, Halle, Karl-Marx-Stadt. Ab 1961 kamen Autobahnraststätten dazu. In rund einhundert Gaststätten und Kiosken, in sechs Hotels, zehn Flughafenrestaurants und in den Zügen der Reichsbahn machten 15.000 Mitarbeiter:innen am Ende der DDR-Zeit einen jährlichen Umsatz von 1,5 Milliarden DDR-Mark. Inoffiziell war der Betrag noch höher, es wurde viel unter der Hand gehandelt, Trinkgeld kam noch drauf.
In Pasewalk, einer seinerzeit apathischen Kleinstadt im DDR-Bezirk Neubrandenburg, war die Mitropa-Gaststätte für NVA-Soldaten eine Art Rettungsanker. Die jungen Männer, die zur „Fahne“ in den Norden abkommandiert waren, nahmen nach einem freien Wochenende oder nach dem Urlaub an ihren Heimatbahnhöfen den letztmöglichen Zug in Richtung NVA-Standort. Die meisten Züge erreichten Pasewalk gegen 2 Uhr nachts. Die nächste Regionalbahn nach Eggesin und Torgelow, wo die Kasernen standen, fuhr etwa gegen 4 Uhr morgens. „In der Mitropa war es immer warm und es gab Kaffee“, erzählt ein Mann, der regelmäßig dort saß: „Das machte den Vorort zur Hölle ein wenig erträglicher.“
Umbau in der DDR
Die Mitropa in Leipzig war schon immer mehr. In den frühen Jahren der DDR erlebte sie zwar eine räumliche Umrüstung, aus den beiden Speisesälen wurden reine Wartesäle, die Mitropa-Gaststätte, in der ich so manche Sonntagnacht verbrachte, befand sich genau dazwischen und war fortan der einzige Gastroraum. Doch selbst derart geschrumpft war sie das größte Restaurant der Stadt – und eines der beliebtesten. 1957 servierten die Kellner:innen allein etwa 28.000 Bockwürste. Damals sollen an den Schürzen der Keller:innen Scheren gebaumelt haben – zum Abschneiden der Lebensmittelmarken, die es für Kartoffeln, Fleisch und Zucker bis 1958 noch gab.
Während der Leipziger Messe im Frühjahr und im Herbst erlebte die Mitropa regelmäßig eine Hochzeit. Die Kellner:innen trugen „mehr als 10.000 preiswerte Vollgerichte“ an die Tische. „In diesen Tagen wurden verzehrt 110.000 kalte und warme Speisen, 132.000 Prager Schinken, belegte Brötchen und Imbissbeutel“, wird der damalige Gaststättenleiter Gerhard Legscheidt in einem Buch über den Leipziger Hauptbahnhof von 1965 zitiert. Getrunken wurden danach 50.000 Flaschen Mineralwasser und andere alkoholfreie Getränke, 9.200 Flaschen Weißwein und Sekt, 135.000 Glas Bier, 177.000 Tassen Kaffee. Dafür gab es neben der eigenen Küche auch eine Molkerei, eine Bäckerei, eine Fleischerei und mehrere Kühlräume.
Schleichender Verfall und Mangelwirtschaft
Doch der Verfall der DDR machte auch vor der Mitropa nicht halt. Nahezu jede Tasse, die ich zu meiner Leipziger Zeit Mitte und Ende der Achtzigerjahre in den Händen hielt, hatte eine abgeplatzte Stelle, einen Sprung, Verfärbungen. Das schnörkellose weiße Geschirr mit dem grünen oder blauen Rand ließ sich mühelos übereinanderstapeln. 20 Tassen auf einem Tablett – kein Problem. Aber manchmal rutschte den Servierer:innen doch eins aus der Hand. Der Saal zuckte kurz, dann lallte jemand: „Is wieder Polterabend?“
Mit der Wende war auch das Ende der Mitropa besiegelt. „Die Küche war runtergewirtschaftet, die Mangelwirtschaft ließ kaum mehr einfallsreiche Gerichte zu“, sagt Thomas Oehme, Centermanager der Promenaden Hauptbahnhof Leipzig, des heutigen Bahnhofsbetreibers. Wiener Würstchen, dunkler Kaffee, Toast – so sah das Speisenangebot in der Regel aus.
Imbissbude statt Mitropa-Saal
Nach 1990 baute die ECE-Immobiliengruppe das Bahnhofsgelände zu einem Einkaufszentrum mit mehreren Etagen um. Der legendäre Mitropa-Saal wurde dichtgemacht, heute wird dort Pizza verkauft. Der einstige Glanz – dahin. Nur die beiden früheren Wartesäle lassen zumindest etwas von der huldvollen Geschichte und der einzigartigen Innenarchitektur erahnen. Decken und Wände wurden saniert, die Kronleuchter aufgehübscht. Im Preußensaal in der Westhalle verkauft heute der Buchladen Ludwig Zeitschriften, Rätselhefte und Leipzig-Souvenirs. Auf der Empore betreibt Ludwig ein Café. In der Osthalle, im Sachsensaal, hat Starbuck’s eine Filiale eingerichtet.
Wer heute im Bahnhof essen will, nimmt die Rolltreppe runter ins Untergeschoss und steuert eine der zahllosen Imbissbuden an: asiatisch, frittiert, Kartoffelgerichte, Käse, Fisch, Kuchen, alles da. Aber dann: Pommes in der Styroporbox und Kaffee im Pappbecher. Wenigstens fahren die Straßenbahnen heute öfter und bis in die Nacht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Bisheriger Ost-Beauftragter
Marco Wanderwitz zieht sich aus Politik zurück