Die Linke und Sahra Wagenknecht: Die Gelähmten
Die Linke streitet über Flüchtlingspolitik und Sahra Wagenknecht. Nur mit Mühe stimmt die Fraktion für den UN-Migrationspakt. Stürzt sie ihre Chefin?
An diesem Donnerstag wird der Bundestag über den Entschließungsantrag von Union und SPD zum UN-Migrationspakt abstimmen. Auch die Linke wird einen Antrag zur Debatte beisteuern. In dem steht, was man von einer linken Partei erwartet: Die Fraktion fordert die Bundesregierung auf, für die Annahme des Pakts im Dezember in Marrakesch zu stimmen. Sie will zudem Fluchtursachen bekämpfen und setzt sich für eine zivile Seenotrettung der EU ein. Unterschrift: Sahra Wagenknecht, Dietmar Bartsch und die Fraktion. Doch wäre es nach Wagenknecht und Bartsch gegangen, dann wäre dieser Antrag so nie eingereicht worden.
Denn schon im Vorfeld gab es Zoff, wieder einmal. Die Migration ist das derzeit umstrittenste Thema in der Linken. Fraktionschefin Wagenknecht lehnt die Forderung nach „offenen Grenzen“, wie sie im Programm ihrer Partei steht, ab. Damit eckt sie in der Linken immer wieder an. Im aktuellen Spiegel kritisierte sie nun auch den UN-Migrationspakt: Dieser idealisiere Migration und sei „vor allem im Interesse großer Unternehmen“.
Als die migrationspolitische Sprecherin Gökay Akbulut einen Antrag vorbereitete, der den UN-Pakt im Grundsatz unterstützte und den menschenrechtlichen Ansatz lobte, stieß sie denn auch auf Widerstand. Wagenknechts Ko-Chef Bartsch, so hieß es, hätte am liebsten gar nicht über einen Pakt-Antrag abstimmen lassen, da dies den Riss in der Fraktion offenlegt. Und so kam es dann auch.
Die Vizefraktionsvorsitzende Sevim Dağdelen und die Leiterin des Arbeitskreises Außenpolitik, Heike Hänsel – beide gehören zum engen Kreis um Wagenknecht – verschickten in der Nacht vor der Fraktionssitzung am Dienstag ein Grundsatzpapier, das Wagenknechts Kritik aufnahm und zunächst die Ablehnung des Pakts empfahl. Selbst ein Genosse, der Wagenknechts einwanderungsskeptische Positionen teilt, fand: „Eine Ablehnung des Paktes wäre einfach irre gewesen.“
Fragile Koalition von „Reformern“ mit ehemaligen Linken
Wagenknecht-Gegner
Nach einer diskussionsreichen Sitzung, in der Gregor Gysi mal wieder den Vermittler spielte, beschloss die Fraktion den leicht verschärften, im Grundsatz aber immer noch bejahenden Antrag von Akbulut mit etwa 80-prozentiger Zustimmung. Wagenknecht und zehn weitere GenossInnen enthielten sich. Bartsch stimmte für den Antrag. Gegner von Wagenknecht frohlocken nun: „Das Hufeisen, die machttaktische Allianz von Wagenknecht und Bartsch, ist deutlich geschwächt.“
In der Fraktion ist die Stimmung seit Längerem vergiftet. Es ist die fragile Koalition von „Reformern“ mit den ehemaligen Linken um Wagenknecht, die die Fraktion zusammenhält. Dieses Hufeisen bindet die Mehrheit der Stimmen. Noch.
Es geht längst nicht mehr um einen bloßen Machtkampf der beiden Spitzenfrauen, Parteichefin Katja Kipping und Wagenknecht. Noch im März hatten 25 Parlamentarier einen offenen Brief an die Fraktionsvorsitzende verfasst und die Parteispitze vor öffentlicher Kritik von Wagenknecht in Schutz genommen. Inzwischen ist die Gruppe der 25 gewachsen. Wagenknechts Ablehnung von allem, was nach offenen Grenzen klingt, selbst zur Unteilbar-Demonstration für grenzenlose Solidarität im Oktober, und auch ihr Engagement für die Sammlungsbewegung Aufstehen irritieren viele Fraktionsmitglieder. Kann Wagenknecht weiterhin unsere Frontfrau sein, fragen sie sich. Sie entziehe sich beharrlich den Fragen der Abgeordneten und einer offenen Debatte, heißt es aus dem Kreis. Dort schätzt man, dass ihnen nur noch drei bis vier Stimmen zur Mehrheit in der Fraktion fehlen könnten. Und damit zum Sturz Wagenknechts.
Letzter Anlass für die Unzufriedenen war eine Fraktionssitzung Anfang November, auf der die Beauftragte für soziale Bewegungen, Sabine Leidig, einen Bericht der Unteilbar-Demonstration abgab und Wagenknecht kritisierte. Wagenknecht war nicht anwesend. Doch andere sprangen für sie in die Bresche und rügten Leidig. Schließlich, so berichten TeilnehmerInnen, unterband Bartsch die Debatte: Über Unteilbar werde nicht mehr diskutiert. Da erhob sich der Abgeordnete Thomas Nord: Seine politische Schmerzgrenze sei überschritten, er könne sich mit der Mehrheit der Fraktion nicht mehr identifizieren. Wenn sich nichts ändere, dann werde er die Fraktion nach der Klausur im Januar verlassen. Danach herrschte erst mal Stille.
Kein gutes Omen für die Linken
Nord, einst Schatzmeister der Partei, ist ein knorriger Brandenburger, der nichts mehr zu verlieren hat. Andere aber schon. Sie befürchten, wenn Nord nach der Klausur tatsächlich die Fraktion verlässt, könnte das andere inspirieren, es ihm gleichzutun. Gibt es dann zwei linke Fraktionen im Bundestag, die sich spinnefeind sind?
Nun werden Szenarien gewälzt, wie die Fraktion zu retten sei. Das drastischste: Wagenknechts Sturz als Fraktionschefin. Doch obwohl ihre Gegner mutmaßen, dass Wagenknecht für eine erneute Wahl an die Fraktionsspitze keine Mehrheit mehr bekäme, haben sie bislang nicht genug Stimmen für ihre Abwahl. Und wohl noch entscheidender: Sie haben keine Nachfolgerin für Wagenknecht. Parteichefin Kipping? Hält sich dezent im Hintergrund und will Wagenknecht nicht in der derzeitigen Situation als Fraktionschefin beerben, wohl wissend um die Öffentlichkeitswirkung eines Absägens der allgemein immer noch populären Parteiikone. Die stellvertretende Parteichefin Martina Renner? Hat wohl schon abgewinkt. Egal, wen man aufstelle, diese Person sei der Wut der Wagenknecht-Anhänger ausgeliefert, so die Renegaten. Noch hoffen viele, dass sich alles zum Guten wendet. „Ich warte auf ein Zeichen von Wagenknecht“, meint Nicole Gohlke, eine der Parteilinken, die sich der einstigen Führungsfrau des linken Flügels inzwischen entfremdet fühlen.
Die nächste Gelegenheit wäre am Freitag. Dann treffen sich Partei- und Fraktionsvorstand zur Aussprache im Bundestag. Das hatten sie auf dem Parteitag im Sommer vereinbart. Viereinhalb Stunden sind für die Tagung zum Thema Migration angesetzt. Doch die große Versöhnung wird nicht erwartet. Im Gegenteil. Derzeit scheint selbst eine gemeinsame Abschlusserklärung unmöglich zu sein. Kein gutes Omen für die Linke.
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