Demos wegen Corona-Pandemie verboten: Virus killt Versammlungsfreiheit
Behörden in Niedersachsen und Hamburg untersagen Proteste unter Verweis auf Corona-Kontaktverbote, auch wenn Demonstranten Abstand halten.
Für den gestrigen Donnerstag hatte die Initiative „Leave no one behind“ eine Kundgebung am Hamburger Steintorplatz in Hauptbahnhofsnähe angemeldet, um „auf die prekäre Situation von Wohnungslosen und Geflüchteten in Zeiten von Corona“ hinzuweisen. Dort stand bis vor Kurzem ein Zelt, in dem Geflüchtete von der Insel Lampedusa seit Jahren auf ihr Schicksal aufmerksam machten und zuletzt auch andere Geflüchtete über Corona informierten. Unter Verweis auf das Corona-Versammlungsverbot war das Zelt abgerissen worden.
Die Polizei untersagte die Dauerkundgebung am sogenannten „Lampedusa-Platz“ ebenfalls unter Verweis auf die Hamburger Allgemeinverfügung zur Corona-Pandemie. Die bei der Gesundheitsbehörde beantragte Ausnahmegenehmigung sei abgelehnt worden, teilte die Polizei mit.
Dabei hatte „Leave no one behind“ in einer Stellungnahme zur Demo-Anmeldung versichert, die Gruppe sei sich der Infektionsgefahr bewusst. Um dennoch ihre Grundrechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit wahrnehmen zu können, werde „diese Meinungsäußerung so organisiert, dass eine erhöhte Infektionsgefahr für Teilnehmende wie auch für Passant*innen nicht besteht“.
Hygienisch organisiert
Die erwarteten rund 50 Teilnehmenden sollten die Mindestabstände von zwei Metern zueinander einhalten. Über Megafon-Durchsagen hätten auch Passanten angehalten werden sollen, diesen Abstand einzuhalten. Flugblätter werden nicht verteilt und es werde auch nicht breit mobilisiert, um die Anzahl der Teilnehmenden händelbar zu halten. „Sollten aus Sicht des Gerichts oder der Gesundheitsbehörde weitere Vorsichtsmaßnahmen erforderlich sein, kommen wir dem gerne nach“, heißt es in der Erklärung.
Die Initiative hatte bereits am vergangenen Sonntag eine Kundgebung an diesem Ort abzuhalten versucht – wie Teilnehmende versichern, unter den gleichen Sicherheitsvorkehrungen. Die Polizei schickte sie dennoch weg. „Ich hab da gestanden, völlig allein mit meinem Pappschild, 20 Meter von allen anderen entfernt – und auch das war eine verbotene Versammlung“, berichtet ein Mitglied der Initiative.
Die jetzt ergangene Eilentscheidung (2 E 1550/20) sei inakzeptabel. „Offensichtlich ist das Gericht der Behörde gefolgt, obwohl wir sehr deutlich gemacht haben, dass wir jede Menge Vorsichtmaßnahmen ergreifen wollen, weil wir weder uns noch andere gefährden wollen“, sagte ein Initiativen-Vertreter.
Das Versammlungsverbot sei auch deshalb nicht nachvollziehbar, weil der Protest ja gerade darauf aufmerksam machen sollte, dass Geflüchtete und Wohnungslose oft nicht in der Lage seien, dem von der Gesundheitsbehörde erlassenen Abstandsgebot zu folgen.
Das Hamburgische Verwaltungsgericht argumentierte dennoch, es sei „nicht auszuschließen, dass die von der Antragstellerin begehrte Aussetzung der Allgemeinverfügung im Hinblick auf die von ihr geplante Versammlung von etwa 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu einer weiteren Verbreitung des Coronavirus und damit zu einer schwerwiegenden und nicht wieder rückgängig zu machenden, möglicherweise lebensgefährdenden Schädigung der menschlichen Gesundheit führen wird“.
Mitglied der Initiative „Leave no one behind“
Die 15 bis 20 Protestierenden die sich am Donnerstagabend mit Pappschildern dennoch am Hauptbahnhof versammelten, wurden von einem großen Polizeiaufgebot abgefangen. Der Initiative zufolge erhielten sie Strafanzeigen. In Initiativensprecher bezeichnete das Vorgehen der Polizei als „krass“.
Eine ganz ähnliche Entscheidung (15 B 19689/20) wie in Hamburg hat das Verwaltungsgericht Hannover erst Anfang dieser Woche im Eilverfahren getroffen. Dort ging es um eine Versammlung unter dem Motto „Gegen das totale Versammlungsverbot unter dem Deckmantel der Epidemiebekämpfung“. Auch hier gingen die Antragsteller gegen die Allgemeinverfügung vor, die bestimmt, dass sich nicht mehr als zwei fremde Personen beisammen im öffentlichen Raum aufhalten dürfen.
Ob diese Regel rechtens sei, lasse sich im Eilverfahren nicht feststellen, urteilte das Gericht. Aber auch, dass die Antragsteller sich nur mit fünf bis 15 Menschen versammeln und einen Mindestabstand von zwei bis drei Metern wahren wollten, rechtfertige nicht, die Allgemeinverfügung auszusetzen – zumal die Aussetzung dann für andere gelte. Gesundheit und Leben wögen schwerer als eine vorübergehende Aussetzung des Versammlungsrechts.
Den gleichen Tenor hat eine ebenfalls am gestrigen Donnerstag ergangene weitere Entscheidung (21 E 1509/20) des Verwaltungsgerichts Hamburg. Ob Einzelne demonstrieren können, will die sozialpolitisch engagierte Hamburgerin Petra Lafferenz am Sonnabend ausprobieren, indem sie sich mit einem Sandwich-Plakat an die Alster stellt. Mit dem faktischen Demonstrationsverbot sei eine Grenze überschritten. „Das ist völlig unverhältnismäßig“, findet sie. „Unser Land rühmt sich bürgerlicher Freiheiten – und die möchte ich in Anspruch nehmen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Misshandlungen in Augsburger Gefängnis
Schon länger Indizien für Folter
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!