Demokratie weltweit auf dem Rückzug: Regierungen immer autoritärer
Der Demokratiereport kritisiert „unverhältnismäßige, unnötige oder illegale“ Maßnahmen beim Umgang mit der Covid-19-Pandemie. Auch in Deutschland.
Herausgegeben ist der „Global State of Democracy Report 2021“, vom „Internationalen Institut zur Förderung von Demokratie und demokratischer Teilhabe“ (IDEA), das seinen Hauptsitz in Stockholm hat. In diesem Jahr ist sein Inhalt, wie schon der Untertitel „Stärkung von Resilienz in Zeiten einer Pandemie“ signalisiert, natürlich von den Folgen der Pandemie geprägt. Einer Pandemie, die laut IDEA „den Trend zu einer Erosion demokratischer Verhältnisse verstärkt“ habe: „Bis August 2021 haben 64 Prozent der Länder Maßnahmen ergriffen, die als unverhältnismäßig, unnötig oder illegal angesehen werden, um die Pandemie einzudämmen.“
Europa sei hier keine Ausnahme, konstatiert IDEA: „Zwei Drittel der europäischen Länder verhängten Einschränkungen der Versammlungsfreiheit und der Vereinigungs- und Bewegungsfreiheit. Diese Einschränkungen hatten weitreichende Auswirkungen auf andere Grundrechte und demokratische Prinzipien, wie beispielsweise das Recht auf Bildung für Schulkinder und das Recht auf Arbeit für die vielen Erwachsenen, die ihre Arbeitsplätze verloren haben.“ Der „wahre Lackmustest für die Widerstandskraft der Demokratien“ sei dabei die „Verhältnismäßigkeit von Notfallmaßnahmen“.
Als nicht mehr verhältnismäßig zählt IDEA beispielsweise auf, dass in Georgien bei der Verletzung von Corona-Notstandsmaßnahmen Geldbußen von umgerechnet bis zu 4.000 Euro und Haftstrafen von bis zu 3 Jahren drohten oder in Griechenland beim vorsätzlichen Verstoß gegen solche Regelungen lebenslange, bei Fahrlässigkeit bis zu 2 Jahre lange Haftstrafen verhängt werden konnten.
Politische Fehler begünstigen Populisten
Exzessive Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit sieht das Stockholmer Institut nicht nur in Albanien, Serbien und Polen, sondern auch in Großbritannien und Frankreich. Das im April 2021 beschlossene französische „Gesetz für globale Sicherheit“ behindere die Anzeige und Verfolgung missbräuchlicher Polizeigewalt und enthalte „besorgniserregende Aspekte der Einschränkung bürgerlicher Freiheiten“, weil beispielsweise durch Drohneneinsatz eine umfassende Überwachung von BürgerInnen ermöglicht werde.
Die staatlichen Reaktionen auf die Pandemie hätten darüber hinaus „überproportional gefährdete und marginalisierte Gruppen geschädigt, insbesondere Frauen, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen und Obdachlose“. Junge Menschen seien sozial und wirtschaftlich stärker betroffen als ältere Generationen. Menschen, die sowieso schon ausgegrenzt waren, seien „zusätzliche Hindernisse in den Weg gelegt“ worden.
In diesem Zusammenhang werden auch zwei konkrete Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung in Deutschland als unverhältnismäßig kritisiert. Zum einen eine fünf Wochen lange Quarantäne, die von Mitte April bis Mai 2020 über eine Flüchtlingsunterkunft in Hennigsdorf verhängt worden war, zum anderen die Quarantäne über einen ganzen Hochhauskomplex in Grevenbroich im April 2020 mit Zwangstests von rund 450 EinwohnerInnen. Hier äußert IDEA Bedenken, weil diese Maßnahmen offenbar ganz speziell „auf Nichtstaatsangehörige abzielten“.
Solcherart „durch die Pandemie aufgedeckte politische Mängel und soziale Bruchlinien werden mehr Menschen zu populistischen und autoritären Führern treiben, die selten dauerhafte Lösungen für die Anliegen der Bürger liefern“, befürchtet der IDEA-Generalsekretär Kevin Casas-Zamora.
Glücklicherweise sei aber „demokratische Erosion keine Einbahnstraße“: „Viele Demokratien haben sich auch während der Covid-19-Pandemie als widerstandsfähig erwiesen, indem sie demokratische Innovationen eingeführt oder ausgebaut und ihre Praktiken und Institutionen in Rekordzeit angepasst haben.“
Als „Schlüsselbotschaft“ des IDEA-Reports sieht es Casas-Zamora, „dass es für die Demokratien an der Zeit ist, mutiger zu sein, sich zu erneuern und sich selbst neu zu beleben“.
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