Debatte um Spätis und Lärmbelästigung: In erster Linie eine Klassenfrage
Im Bezirk Pankow gibt es Aufregung um Spätis, deren Gäste zu laut sind. Ein Außenbestuhlungsverbot für Spätverkäufe aber kann nicht die Lösung sein.
G ibt es so etwas wie eine Berliner Leitkultur, dann gehören Spätis ganz sicher dazu. Da verwundert es nicht, dass aus nahezu allen politischen Lagern Leute laut schreien, wenn es den Spätverkäufen – wie jetzt im beschaulichen Bezirk Pankow, zu dem der noch beschaulichere Ortsteil Prenzlauer Berg gehört – an den Kragen geht. Manche haben Angst um ihre Nachbarschaftstreffs. Andere um billige Orte zum bis spät in die Nacht abhängen, Musik hören, Bier saufen, quatschen und lachen. Wer kann’s ihnen verdenken.
Auf der anderen Seite stehen dann die, die schnell als „Spaßbremsen“ gecancelt werden, wenn sie freundlich oder weniger freundlich um Ruhe bitten. Die als Spießbürger gelten, wenn sie sich sauberere Kieze wünschen und sich echauffieren über ein bisschen Urin im Vorgarten. „Zieh doch weg, wenn’s dich stört!“ wird ihnen dann entgegnet – oder: „So ist Berlin halt!“
Und irgendwie stimmt auch das. Berlin, besonders in seinen inneren Bezirken, ist lebendig, pulsierend und noch so vieles schöne mehr; aber eben auch laut, dreckig, konfliktreich und kompromissbedürftig. Viele Menschen prallen hier aufeinander, mit unterschiedlichen Interessen, Geschichten und Möglichkeiten.
Dass das so ist, ist aber eigentlich kein gutes Argument dafür, dass sich in Berlin nichts ändern darf. Sicher sollten die, die Ruhe wollen, sie auch bekommen können. Und natürlich sollten Hauseingänge frei von Bierflaschen, Kippenschachteln, anderem Müll und Urin sein.
Gesellschaftliche Schieflagen
Wenn sich – wie jetzt im Fall der Pankower Spätis – Anwohner*innen über Lautstärke und Feierrückstände empören und politisch Verantwortliche mit Verboten für die Betreiber*innen reagieren, drohen sich jedoch bestehende gesellschaftliche Schieflagen zu verschärfen. Denn die Frage nach der Außenbestuhlung von Spätverkäufen ist in erster Linie eine Klassenfrage. Und sie betrifft ganz besonders Menschen mit Migrationsgeschichte.
Eine Spätimiete kostet schnell ein paar tausend Euro im Monat. Ein Abend, an dem Tische und Bänke schon um 22 Uhr reingeräumt werden müssen, kann den Verlust mehrerer hundert Euro bedeuten. Im Monat also auch ein paar tausend. Das ist die halbe Miete, könnte man sagen. Für manche vielleicht sogar die ganze, abhängig von Wetter, Personalkosten etc.
Viele Spätibetreiber*innen lassen ihre Bänke und Tische also nicht draußen stehen, weil ihnen die Nachbar*innen egal sind. Und auch nicht, weil ihnen das Aufräumen vor ihren Läden bis nachts um 3 oder 4 Uhr besonders viel Spaß macht. Sie sind schlicht und ergreifend auf die Umsätze angewiesen. Tische und Bänke frühzeitig einräumen oder gar nicht aufbauen – das müssen sie sich leisten können.
In der Konsequenz bedeutet das: Wer für ein ruhigeres Berlin ein Außenbestuhlungsverbot für Spätis fordert oder politisch durchzusetzen versucht, macht das vor allem auf dem Rücken derjenigen, die in Berlin ohnehin schon strukturell benachteiligt sind: Menschen mit Migrationsgeschichte, die seltener Zugang zu gutbezahlten Jobs haben und besonders stark unter Verdrängungsmechanismen der Stadt, wie explodierenden Mieten, leiden.
Für eine gerechtere, postmigrantische Stadtgesellschaft von morgen kann ein Außenbestuhlungsverbot für Spätverkäufe also keine Lösung sein. Politische Lösungen für verständliche Konflikte um Sauberkeit, Lautstärke, Freizeit- und Einkommensmöglichkeiten müssen, so viel wird hier klar, die engen Verflechtungen von Klassenverhältnissen und strukturellem Rassismus mitdenken. Sonst lösen sie die Probleme der Einen zulasten der Anderen.
Ein Schuh wird anders daraus. Im Zusammendenken der Probleme können sich solidarische Lösungen ergeben. Sinkende Gewerbemieten scheinen ein sozial gerechter Schlüssel für kürzere Späti-Öffnungszeiten zu sein. Wer sich ruhigere Kieze wünscht, sollte sich in Zukunft also noch konsequenter für die Enteignung großer Immobilienkonzerne starkmachen.
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