Debatte über Viertagewoche: Vier Tage zu viel, fünf zu wenig
Wer von miesen Jobs nicht reden will, sollte von der Arbeitszeitverkürzung schweigen. Ein Plädoyer für ein differenziertes Verständnis von Tätigkeit.
Es war im Alter von zwölf Jahren, als ich eine Erfahrung machte, die ich allen am demokratischen Prozess Interessierten empfehlen kann: bei einer Abstimmung auf verlorenem Posten zu stehen. Als gewählter Klassensprecher durfte ich mit darüber entscheiden, ob an unserer Schule der Samstagsunterricht abgeschafft werden sollte.
Zu Beginn der Diskussion waren auch noch andere aus den unteren Klassen mit mir der Meinung, es sei besser, alle 14 Tage Samstag früh ein paar Stunden abzureißen und dafür unter der Woche das dumpfe Gebäude eine Stunde früher verlassen zu dürfen. Von ihrer Warte nicht minder nachvollziehbar argumentierten die oberen Klassen, sie wollten am Samstag ausschlafen und das Wochenende genießen; und ebenso verständlich wollten die tonangebenden Jungfunktionäre mit einem einstimmigen Ergebnis der Schüler:innen vor die Gremien treten.
Es war nicht leicht, diesem Druck zu widerstehen, ich zitterte beim finalen Nein. Meinem kindlichen Ich gebe ich aber heute noch recht: Es ist besser, die Arbeit über mehrere Tage, am besten über alle sieben, zu verteilen als sie auf wenige(re) zusammenzupressen, um dann am langen Wochenende komatös gar nicht erst aus dem Schlafi rauszukommen.
Für mich ist der Sonntagabend zum Beispiel eine sehr gute Zeit zum Arbeiten; und alle, die Kleinkinder zu Hause haben, wissen, wie erholsam auf allen Ebenen ein ganzer Tag ohne Abholhetze im Büro ist – im Bundeswirtschaftsministerium ist man schon weiter und darf auch bei der Arbeit im Familienkreis bleiben.
Ignorant und ungerecht
Abstrakt gesagt muss eine Debatte über Arbeitszeitverkürzung immer auch eine über Freizeitgestaltung sein. Denn sowenig der Arbeitsplatz ein politik- und demokratiefreier Ort sein darf, so sehr ist die Idee, in der Freizeit machten dann eben alle einfach, was sie wollten, naiv; und er ist ignorant und ungerecht in Bezug auf große Bevölkerungsgruppen: Wer Kinder, eine zu pflegende Person, professionell zu versorgende Tiere oder – würde meine Mutter noch sagen – einen Ehemann zu Hause hat, für die ist die Vier-Tage-Woche nicht mal ein Traum.
Sie widerspricht einem Lauf der Dinge, der nicht einer von oben verordneten Einteilung gehorchen kann, sondern dem gewiss manchmal brutalen Rhythmus der Natur sich beugen muss. Es macht nicht immer Spaß, am Sonntagmorgen Heu für die geliebten Pferde in die Boxen zu schippen oder um sieben in der Früh auf dem Spielplatz zu stehen, weil das Kind toben möchte und dann der Nachbar unter einem wieder austickt wegen Kindergetrampel – aber es ist menschlich.
Karl Marx sah das möglicherweise ähnlich, wenn er den befreiten Menschen prognostizierte, dem es möglich sei, „morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“. Ein Wochenende taucht hier ebenso wenig auf wie eine Viertagewoche. Was daran liegt, dass Marx radikal war – Saskia Esken hingegen Sozialdemokratin, Yasmin Fahimi DGB-Vorsitzende und Hermann Gröhe stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag ist.
Die aktuelle Diskussion mit den von diesen und anderen Protagonisten ins öde Spektakel geworfenen Schlagworten wie „Lohnausgleich“, „Verdichtung der Arbeitszeit“, „Fachkräftemangel“ und dem unvermeidlichen „Bärendienst“ ist steril. Wer den Blick weitet, wird um die Erkenntnis nicht herumkommen, dass Gesellschaften, in denen mehr und anders gearbeitet wird als in Deutschland – Polen und Italien etwa – nicht unmenschlicher sind, sondern dynamischer und oft auch menschenfreundlicher.
Zwangsarbeit und Leerlauf
Es sind nicht die Arbeitsstunden oder Tage entscheidend, die Frage ist, ob gelebt wird oder eher Leben abgehakt. Zudem geht die aktuelle Diskussion nicht von den konkreten Menschen aus, die längst gelernt haben, sich dem Teil ihrer Beschäftigung, der als Zwangsarbeit oder Leerlauf empfunden wird, zu entziehen, wie kürzlich eine Recherche der Zeit schön dargelegt hat.
An meinem Arbeitsplatz mahnt mich zur Verbesserung meiner Arbeitsintensität regelmäßig eine Mail, ich solle jetzt mal aufstehen und „mich auf den Körper konzentrieren“; wenn ich im Homeoffice bin, lege ich ganz selbstverständlich zwischendurch die Wäsche zusammen oder räume die Spülmaschine aus. Das kommt der marxschen Vision deutlich näher als die Debatte um eine Viertagewoche.
Aber zurück zum Hauptpunkt: Es gibt Arbeiten, die nicht der Profitmaximierung dienen, sondern die zum Überleben des Einzelnen, seiner Bezugsgruppe oder auch der Gattung Mensch getan werden müssen. Reden sollten wir also über all jene elenden und prekären, aber auch über die überflüssigen oder sogar schädlichen Beschäftigungen, die Shit- und Bullshit-Jobs, in denen ein Tag die Woche schon zu viel ist.
Eine Gesellschaft, die etwas auf die Würde aller hält, wehrt sich dagegen, dass Menschen durch Arbeit kaputt gemacht werden. Eine Gesellschaft aber, die allein in diesem Jahr schon den Tod von 600 Menschen im Mittelmeer gleichgültig hingenommen hat, Menschen, die zynischerweise jede Arbeitszeit dem Tod vorgezogen hätten – die redet eben, was sie am besten kann: Bullshit, sieben Tage die Woche.
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