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Debatte Minsk-AbkommenAlles ist offen

Kommentar von Barbara Oertel

Die zweite Vereinbarung von Minsk ist ein positives Zeichen, doch zu wolkig, um den Krieg zu beenden. Flankierende Maßnahmen sind nötig.

Ein prorussischer Kämpfer legt die Füße hoch. Bild: reuters

A ngesichts der stetig eskalierenden Kämpfe in den vergangenen Wochen und möglicher US-Waffenlieferungen an die Kiewer Regierung ist die jüngste Minsker Vereinbarung wohl das Maximum, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf diplomatischem Weg zu erreichen war. Ein Waffenstillstand, wenn er denn halten sollte – und das ist keineswegs sicher, würde dem Sterben ein Ende setzen und den vom Krieg ausgezehrten Menschen eine Atempause verschaffen.

Das allein wäre schon viel für ein Land, in dem seit dem Ausbruch des Konflikts über 5.000 Menschen getötet und laut UN 600.000 zu Flüchtlingen geworden sind. Aber was kommt danach? Oder anders gefragt: Taugt Minsk II als tragfähige Grundlage für eine langfristige politische Lösung der Krise, mit der am Ende alle beteiligten Seiten leben können?

Das ist mehr als zweifelhaft. Denn die Vereinbarung bleibt in vielen der 13 Punkte wolkig und ist – je nach Interessenlage – ganz unterschiedlich auslegbar. So sollen schwere Waffen hinter zwei Frontlinien zurückgezogen werden, wodurch die Geländegewinne der prorussischen Kämpfer seit dem ersten Minsker Abkommen vom 5. September 2014 nachträglich legitimiert werden. Den Prozess überwachen soll die OSZE. Zumindest bislang hatte die jedoch keine Möglichkeiten und Mittel, eine solche Aufgabe auch wahrzunehmen.

Die Umsetzung des Abzugs ausländischer Truppen und Söldner wirft ebenfalls Fragen auf. Schließlich behauptet Moskau bis heute, im Donbass würden keine russischen Soldaten kämpfen, sondern allenfalls einige versprengte Gestalten in Uniform, die Urlaub im Nachbarland machten. Erst Ende 2015 sollen Ukrainer wieder vollständig die russisch-ukrainische Grenze kontrollieren. Das ist nicht wenig Zeit für Nachschub an Kriegsgerät in Form von Hilfskonvois aus Russland.

Moskaus Ansinnen mitzumischen

Auch der politische Fahrplan bleibt diffus. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko mag es als Erfolg verkaufen, dass in der Vereinbarung nicht von einer Autonomie der beiden Gebiete Lugansk und Donezk die Rede ist, sondern nur von einer „Dezentralisierung“. Doch was diese in der Praxis bedeutet – darüber dürfte es wohl sehr unterschiedliche Vorstellungen geben.

Kiew geht von Sonderrechten aus (beispielsweise Selbstverwaltung und ein besonderer Status für die russische Sprache). Für die prorussischen Kämpfer und Russlands Präsidenten Wladimir Putin ist eine Dezentralisierung gleichbedeutend mit einem Status, der den beiden Regionen privilegierte Beziehungen zu Russland sowie ein Vetorecht gegenüber Entscheidungen der Kiewer Zentralregierung einräumt. Es braucht nicht viel Fantasie, um dahinter Moskaus Ansinnen zu erkennen, beim Nachbarn weiter kräftig mitzumischen.

Doch trotz aller Sollbruchstellen in der Vereinbarung, die vielleicht auch der Kürze der Verhandlungszeit geschuldet sind: Das Dokument könnte zum Ausgangspunkt einer friedlichen Lösung werden. Dazu braucht es „nur“ den politischen Willen. Dieser hängt aber davon ab, wie Putin und Poroschenko die Einigung zu Hause „verkaufen“ können.

So sieht sich der ukrainische Präsident mit Regierungsvertretern konfrontiert, die immer noch glauben, den Konflikt militärisch lösen zu können und einen wie auch immer gearteten Kompromiss als Verrat empfinden. Auch Putin, der den Konflikt in der Ukraine im Sinne einer Stabilisierung seiner eigenen Macht propagandistisch geschickt ausschlachtet, kann nicht einfach einlenken. Wie sollte der Verteidiger aller Russen seinen Landsleuten erklären können, dass er der „faschistischen Junta in Kiew“ jetzt doch das Feld überlässt?

Doch einmal abgesehen von Zwängen, eigenen Interessen und der Gefahr, dass auch diese Vereinbarung wieder scheitert: Es muss weiter verhandelt werden, und zwar schnell.

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Ressortleiterin Ausland
Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.
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11 Kommentare

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  • Als Nachtrag zum Prozess der Eskalation dieser Krise hier ein sehr interessanter Beitrag der BBC (!) zu den Schüssen auf dem Maidan und dem paramilitärischen Putsch:

    https://www.youtube.com/watch?v=mJhJ6hks0Jg

  • Der Kern des Konflikts wird in den blutigen Spielchen der Mächte gerne vergessen: eine ethnische Mehrheit und eine ethnische Minderheit in einem Staat, und keine bereitschaft zum Ausgleich.

    Der Hass aufeinander wurde durch den Krieg so angestchelt, dass keiner weiß, wie der INNERE Friede in der Ukraine wiederhergestellt werden kann. Und was im Westen völlig an den Rand der Wahrnehmung gerät: : Hat die ukainische Regierung überhaupt die Macht, die russenhassenden Milizen zur Einhaltung der Feuerpause zu bewegen?

    • @B. Wondraschek:

      Ist doch ganz einfach. Zuerst einmal durch die Entwaffnung der Paramilizen

    • @B. Wondraschek:

      Ich glaube, das wird einer der springenden Punkte. Zu dem Thema hatte ich ja gestern abend bereits einen Kommentar gepostet, der leider nicht freigeschaltet wurde. Herr Dmitry Jarosch, Chef des Rechten Sektors, hat bereits auf seiner FB-Seite verkündet, der Rechte Sektor würde sich nicht an das neue Minsker Abkommen gebunden fühlen.

  • Ja, das Bild ist scheisse. Wenn man schon beim beliebten deutschen Medienspiel Separatisten doof finden mit macht und deswegen findet, dass Sachartschenko zu nett aus der Wäsche schaut, dann nehmt doch den Chef aus Luhansk - aber doch nicht jemanden von der GSG 9.

     

    Trotzdem sollte auch dem schreibenden Beobachter klar sein, dass spätestens bei der im Frühling von der Ukraine geforderten Verfassungsänderung Schluss ist mit diesem Abkommen. Das würde keine Regierung der Welt in dieser Lage verkaufen können und da "wir" der Ukraine ja auch keine Mitgliedschaft anbieten können, sind "uns" die Zuckerstückchen ausgegangen.

    Ich glaube an den Krieg; wenn er einmal da ist, bleibt er auch zum Frühstück.

  • War der Kämpfer auf dem Bild dabei?

     

    Das Bild oben stammt aus einem Foto-Shooting April 2014 wie man am Sessel und Hintergrund sehen kann:

    http://www.nydailynews.com/news/portraits-pro-russian-protesters-gallery-1.1774261?pmSlide=1.1774251

  • Russlands Vorstellungen sind seit fast einem Jahr - also kurz nach dem Kiewer Putsch - allen Beteiligten bekannt: Garantierte Bündnisfreiheit und Föderalisierung der Ukraine. Auch viele westliche Beobachter (wie Kissinger, Mearsheimer usw.) haben einen Kompromiss, der Russland in diesen Punkten entgegenkommt und damit seinen vitalen Sicherheitsinteressen Rechnung trägt, befürwortet. Warum also mussten über fünftausend Menschen sterben - und im Falle des Scheiterns von Minsk 2 werden es noch viel, viel mehr werden - bis der Westen seine Pläne eine weiteren NATO-Expansion aufgibt und zur Vernunft zurückkehrt?

    • @HELMUT FALLSCHESSEL:

      für die EU spielt das leider keine Rolle...ab Montag werden die Sanktionen (beschlossen) verstärkt...

  • Cooles gestelltes vielleicht sogar echtes Bild. Durften die Azubis aus der Abteilung "Mediengestaltung" wieder einmal zum Zuge kommen mit ihrem Mission Impossible Geschmäckle?

  • Frau Oertel. Sie haben es leider immer noch nicht verstanden, es handelt sich nicht um einen x- beliebigen Konflikt zweier Streithähne (P u P) denen es einfach nur an polit Willen mangelt, die Friedensgelegenheit zu ergreifen, sondern um einen Kampf der Ukraine um ihre Souveränität gg einen gewalttätigen, zynischen Gangsterbaron namens Putin. Manche machen sich vllcht Hoffnungen durch unterschiedl Interpretationen eines "wolkigen" Vertragstextes herauswinden zu können. Aber der Text ist alles andere als wolkig, zumind was die entscheidenden Punkte angeht: Moskau will eine Föderalisierung, und wie Sie ganz richtig feststellen, soll diese Putins Hintertür ins ukrain politische System sein. Und was will Putin damit anfangen? Natürlich: die Ukraine fest an Russland ketten, die "Separatisten" werden künftig in Kiew mitbestimmen, als Vetomacht, oder wieder zu den Waffen greifen. Das kann nicht gutgehen. Diese ukrain Regierung wird das nicht mit sich machen lassen, dann kann sie gleich aufgeben. Frieden ist prinzipiell gut, weil dann keine Menschen mehr sterben, aber nicht jeder Frieden ist annehmbar. Die Ukrainer können es sich d Text zurechtbiegen, aber Putin sitzt am längeren Hebel. Und Merkel scheint sich auch keine Illusionen zu machen, ihre Aussage auf der Sicherheitskonferenz mit Mauer u Eisernem Vorhang wurden die Menschen Osteuropas ihrer völkerrechtl verbürgten Rechten u Freiheit beraubt, dass der Westen es geschehen ließ u zusah, kann sie angesichts der Anspannungen des Kalten Krieges niemandem übelnehmen, aber wir im Osten haben immer geglaubt, dass dies mal vorbei sein würde und wir nur den längeren Atem haben müssten, so Merkel. Für mich Fr Oertel klingt das nach Aufgabe- f die nächsten 40 Jahre. Merkel rechnet fest damit dass ein neuer Eiserner Vorhang die Ukr hinter sich verschwinden lassen wird. Fühlen Sie nicht die Bitterkeit und Bedrückung bei diesem Gedanken? Aber nein, Hauptsache ersteinmal Frieden.

    • @ingrid werner:

      Die Ostukrainer haben übrigens auf 1000qm Fläche verzichtet...