Debatte Asyl für Gülen-nahe Funktionäre: Wo Erdoğan Recht hat
Angesichts des autokratischen türkischen Präsidenten neigen viele Deutsche zu Vereinfachungen – etwa bei der Wahrnehmung der Gülen-Sekte.
F ür manchen Leser in Deutschland mag es sich wie eine Provokation anhören, aber es ist trotzdem richtig: Nicht alles, was der türkische Präsident sagt, ist von vornherein falsch.
Es gibt in Deutschland derzeit wohl keinen Politiker, der in weiten Teilen der Bevölkerung so verhasst ist wie Recep Tayyip Erdoğan. Es stimmt, Erdoğan tut alles dafür, sich unbeliebt zu machen, und die Kritik an seinem zunehmend totalitären Verhalten als Präsident ist vollkommen berechtigt.
Doch diese Stimmung in Deutschland verführt auch dazu, es sich allzu einfach zu machen und alles, was Erdoğan für richtig erklärt, automatisch für falsch zu halten. Das lässt sich an zwei Punkten gut festmachen. Das ist zum einen die Kritik Erdoğans am Umgang der Europäischen Union mit der Türkei und zum anderen die unterschiedliche Analyse darüber, wer hinter dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 steckt.
Beginnen wir mit der EU. Nach dem Motto, jetzt reicht es aber wirklich, hat SPD Kanzlerkandidat Martin Schulz in seinem TV-Duell mit Merkel die Stimmung von mehr als 80 Prozent aller Wähler in Deutschland aufgegriffen und ankündigt, er als Bundeskanzler würde die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei endgültig abbrechen. Das Ganze ist selbstverständlich dem Wahlkampf geschuldet, zeigt aber auch, wie Mainstreamdenken zu politischen Dummheiten verleitet.
Verschleppte Verhandlungen
Einmal besteht innerhalb der EU keine Chance, ein notwendiges einstimmiges Votum zum Abbruch der Beitrittsverhandlungen herzustellen, was lediglich dazu führt, dass Erdoğan propagandistisch ausschlachten kann, wie isoliert die Bundesregierung in Europa dasteht. Außerdem, und das ist viel alarmierender, demonstrieren sowohl Schulz wie Merkel, wie sehr ihnen die demokratische Opposition in der Türkei egal ist, die durch die Bank gegen den Abbruch der Verhandlungen argumentiert.
Darüber hinaus hat Erdoğan Recht, wenn er der EU vorwirft, sie hätte im Verlauf des jahrzehntelangen Prozesses der Annäherung der Türkei an Europa nie wirklich die Absicht gehabt, die Türkei in ihre Reihen aufzunehmen. Sei es aus religiösen und kulturellen Gründen, sei es aus machtpolitischen Erwägungen: Immerhin würde die Türkei mit 80 Millionen Einwohnern die gesamte Machtbalance in Brüssel erschüttern. Der Vorwurf, gegenüber der Türkei falschgespielt zu haben, gilt insbesondere für Angela Merkel, die sofort, als sie die Regierungsgeschäfte 2005 von Gerhard Schröder übernommen hatte, begann, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf allen Ebenen systematisch zu sabotieren.
Der zweite, noch gravierendere Grund für die Krise ist die unterschiedliche Einschätzung des Putschversuchs im vergangenen Jahr. Ja, es ist richtig, wenn die Bundesregierung Erdoğan vorwirft, den Putschversuch für die Durchsetzung seines autoritären Präsidialsystems zu instrumentalisieren. Doch es ist falsch zu sagen, es hätte nie einen Putschversuch gegeben, das war alles allein eine große Inszenierung.
Wir wissen bis heute nicht genau, was in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 passiert ist. Aber alles spricht dafür, dass die Gülen-Sekte bei dem Putschversuch eine tragende Rolle gespielt hat. Davon ist nicht nur Erdoğan überzeugt, sondern auch die gesamte Opposition und wohl mindestens 90 Prozent der Bevölkerung. Selbst ein so kritischer Geist wie der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk hat kürzlich in einem Interview erklärt, nach Sichtung allen vorhandenen Materials sei er ebenfalls überzeugt, dass die Gülen-Sekte für den Putschversuch zumindest mitverantwortlich ist.
Erstaunliche Selbstgerechtigkeit
Wenn dann der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, in einem Spiegel-Interview kategorisch erklärt, die Gülen-Sekte sei vollkommen unschuldig, sie sei lediglich „eine zivile Vereinigung zur religiösen und säkularen Weiterbildung“, dann zeugt das schon von einer erstaunlichen Selbstgerechtigkeit. Der Mann hat entweder keine Ahnung oder er schützt die Gülen-Sekte mit Absicht.
Genau die zweite Interpretation hat sich in der türkischen Öffentlichkeit längst festgesetzt, und leider tut die Bundesregierung alles, um die türkische Propaganda, sie schütze die Sekte, zu unterfüttern. Man muss nicht Erdoğans Definition von der „Terrororganisation FETÖ“ übernehmen, aber man sollte nicht in die Haltung verfallen, nur weil Erdoğan bestimmte Leute anklagt, seien sie automatisch unschuldig.
Unter den nach Deutschland geflüchteten Gülen-Leuten sind definitiv auch solche, die den Schutz hier nicht verdienen. Nehmen wir zwei Beispiele: der frühere Chefankläger Zekeriya Öz und der Gülen-Imam Adil Öksüz. Von beiden fordert die Türkei die Auslieferung, bei beiden stellt sich die Bundesregierung taub.
Schutz für Schuldige?
Zekeriya Öz ist der Sonderstaatsanwalt, der in den Jahren 2008 bis 2012 im Auftrag der Gülen-Sekte und zur Freude Erdoğans reihenweise Kritiker der Regierung, darunter viele Journalisten, mit konstruierten Anklagen völlig unschuldig in den Knast brachte. Er persönlich war es, der den bekannten Investigativjournalisten Ahmet Şik 2010 ins Gefängnis brachte wegen eines kritischen Buchs über die Gülen-Sekte, in dem genau beschrieben wurde, wie die Sekte den Staat unterwanderte.
Jetzt ist Öz in Deutschland, weil er im entscheidenden Machtkampf zwischen der Sekte und Erdoğan auf der falschen Seite stand, aber ein unschuldiger Demokrat ist er keineswegs.
Genauso der Gülen-Imam Adil Öksüz, der vermutlich in der Putschnacht im Hauptquartier der Putschisten die Anweisungen von Fethullah Gülen weitergab und sich dann ins Ausland absetzte.
Es ist wahrscheinlich richtig, beide dennoch nicht auszuliefern, weil sie in der Türkei kein fairer Prozess erwartet. Aber sich öffentlich so vor die Gülen-Sekte zu stellen, wie es der BND-Chef sicher nicht ohne Kenntnis der Kanzlerin getan hat, nährt nur die Verschwörungstheorie, letztlich seien Deutsche und Amerikaner diejenigen gewesen, die den Putsch in Auftrag gegeben hätten. Solange die Bundesregierung das nicht korrigiert, wird sie in der türkischen Öffentlichkeit, auch jenseits der Erdoğan-Anhänger, nicht mehr durchdringen können.
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