Datensammlung und Corona-Apps: Der Körper als Ausweis
Der staatliche Zugriff auf den eigenen Körper wird normalerweise kritisch gesehen. In der Krise jedoch wird die Einordnung ins Kollektiv praktiziert.
Auf der ganzen Welt setzen Regierungen im Kampf gegen die Coronapandemie auf Handyüberwachung. Auch das Robert-Koch-Institut (RKI) hat mittlerweile eine eigene App entwickelt: Die „Corona-Datenspende-App“ übermittelt Gesundheitsdaten zu Aktivitäten und Schlafverhalten, Pulsschlag und Körpertemperatur von Fitness-Trackern oder Smartwatches an die Server des RKI. Zusätzlich werden Körper-Daten wie Alter, Größe und Gewicht sowie die Postleitzahl abgefragt.
Da sich die Vitalzeichen bei grippeähnlichen Erkrankungen verändern, soll es möglich sein, mit den Gadgets typische Covid-19-Symptome zu erkennen und Infektionsketten zu unterbrechen. „Hände waschen, Abstand halten, Daten spenden“, lautet der erweiterte Hygienebegriff. Datenspenden als Reinlichkeitsritual?
Nach Angaben des RKI haben bereits 300.000 Menschen die App heruntergeladen. Zwar betont das Institut, dass die Freigabe der Daten anonym und freiwillig sei. Trotzdem gibt es Kritik an dem Projekt. Der Chaos Computer Club warnt vor zahlreichen Schwachstellen.
Was an dem Experiment verstört, ist die Rhetorik der „Datenspende“. Zwar handelt es sich hier um einen gängigen Begriff aus der Informatik. Im medizinischen Kontext wirkt er jedoch seltsam. Nicht nur, weil der Begriff Assoziationen an „Blutspende“ weckt, sondern suggeriert, als sei die Preisgabe sensibler Gesundheitsdaten eine gute Tat. Ist es unsozial, wenn man seine Daten für sich behält? Oder wäre es im Gegenteil nicht sozial, wenn man sich der Datenübermittlung verweigert und damit einen Transparenzdruck vermeidet, an dessen Ende sich auch chronisch Kranke exponieren müssen?
Bio-Politik und Macht
Die digitale Selbstvermessung (Self-Tracking) war ja anfangs eher ein spielerischer Umgang mit der Gesundheit – und mehr egoistisch als altruistisch motiviert. Die Fitness-Gurus der Quantified-Self-Bewegung, die morgens beim Frühstück ihre Schlafdaten checken und Excel-Tabellen ihrer Kardiodaten erstellen, wollten vor allem ihren eigenen Körper optimieren. Dass sich aber irgendwann der Staat (das RKI ist eine Bundesoberbehörde) für diese Daten interessiert, war dann eben doch bloß eine Frage der Zeit.
Der Philosoph Michel Foucault hat mit seinem Konzept der „Bio-Macht“ beziehungsweise der „Bio-Politik“ beschrieben, wie der Staat die Zugriffsgewalt auf das Leben erlangt. Macht bedeutet nicht mehr, über den Tod zu entscheiden, sondern die „sorgfältige Verwaltung der Körper und die rechnerische Planung des Lebens“. Die Integration der gelehrigen Körper in den Produktionsapparat war nach Foucault zunächst konstitutiv für die Entwicklung des Kapitalismus, später war die Bio-Macht gewissermaßen der Geburtshelfer des modernen Staats, der mit der Unterwerfung der Körper in Schulen und Armeen mittels der Disziplin eine „politische Anatomie“ formierte. „Der menschliche Körper“, schreibt Foucault in seinem Klassiker „Überwachen und Strafen“, „geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt.“
Die Dressierung und Disziplinierung, wie sie noch in Kasernen, Schulen und Klöstern des 19. Jahrhunderts praktiziert wurde, ist im liberalen Rechtsstaat der Selbstdisziplin gewichen. Seit der Abschaffung der Wehrpflicht müssen junge Männer nicht mehr beim Kreiswehrersatzamt stramm stehen und ihren Körper von einem mürrischen Amtsarzt „mustern“ lassen. Stattdessen stählt sich das spätmoderne Subjekt, dem der Werbeslogan „Mein Körper gehört mir“ in Fleisch und Blut übergegangen ist, in Fitnessstudios und diszipliniert sich mit Diätplänen.
Der Verwaltungsstaat hat (einmal abgesehen von der gerichtlich immer wieder angefochtenen Mindestkörpergröße für Polizisten) Liberalität in Bezug auf Körperlichkeit an den Tag gelegt, was sich zuletzt bei der Anerkennung eines dritten Geschlechts zeigte. Wann immer der Staat versucht, seine Bio-Macht auszuspielen, begehrten die Bürger auf – sei es beim Veggie Day oder der Impfpflicht.
Umso erstaunlicher, wie sich nun die Bürger der biopolitischen Übergriffigkeit des Staates fügen. Was ist passiert, dass Politiker unwidersprochen über „Immunitätspässe“ oder „Immunitätslizenzen“ sprechen können, so als wäre der Körper das neue legitime Ausweisdokument?
Der eigene Körper, der vorher noch Gestaltungsraum war, wird zum Risikocontainer, den man unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in den immer klinischer werdenden öffentlichen Raum trägt. Der physische Körper ist nur dann frei, wenn er fieberfrei ist (also keine Symptome aufweist) oder Antikörper nachweist (also immun ist).
Während die austrainierten Athletenkörper der Profifußballer sich bald wieder auf dem Rasen versammeln dürfen, muss der Otto Normalverbraucher mangels Testkapazität und Ansteckungsrisiko zu Hause bleiben. Man ist also nicht bloß räumlich in häuslicher Quarantäne gefangen, sondern auch im eigenen Körper, weil es nun mal keine andere Hülle gibt und die Erfindung von Avataren noch auf sich warten lässt. Das macht die Pandemie so beklemmend – weil sie uns vor Augen führt, dass wir eben doch keine Maschinen sein können, sondern „bloß“ ein äußerst komplexer biologischer Organismus sind.
Radikale Entgrenzung
Der Soziologe Bruno Latour hat in einem Essay geschrieben, dass die Pandemie kein „natürliches“ Phänomen wie vergangene Hungersnöte und der Klimawandel sei. Die klassische Definition von Gesellschaft ergebe keinen Sinn mehr, weil ihr Zustand von vielen nichtmenschlichen Akteuren beziehungsweise Aktanten wie etwa Mikroben, dem Internet oder dem Gesetz abhänge. Es gibt kein Inneres oder Äußeres in einer Risikogesellschaft; einem Virus sind geografische wie körperliche Grenzen herzlich egal.
Diese radikale Entgrenzung öffnet den Raum für eine beinahe grenzenlose Herrschaft. Der Staat in Gestalt des Leviathan, der sich aus Hunderten einzelner Körper zusammensetzt und damit den Souverän verkörpert, ist in der Krise präsenter denn je. Und mit ihm steigt auch das Menetekel des „gesunden Volkskörpers“ wieder auf, das Phantasma einer Bio-Gesellschaft, die Gruppenzugehörigkeit qua biologischer Merkmale definiert.
Die darwinistische Lehre des „survival of the fittest“ kehrt nicht nur als krude wirtschafts- und gesundheitspolitische Betrachtung zurück, sondern sie wird im Grunde verkehrt, um mit ihr das Überleben der Schwächsten zu sichern. Wenn es heißt, die Jungen und Gesunden (also die Fitten) dürften bei einer schrittweisen Lockerung der Ausgangsbeschränkungen als Erste wieder raus, dann ist das nichts anderes als eine als „Solidarität“ bemäntelte soziale Selektion. Junge raus, Alte rein. Die Spaßgesellschaft, die die Kranken und Alten schon immer ausgeschlossen hat, kann diese Exklusion nun mit dem hehren Argument des Gemeinwohls legitimieren.
Martin Schallbruch, stellvertretender Direktor des Digital Society Institute der Berliner Managementhochschule ESMT und langjähriger Abteilungsleiter für Digitalisierung im Bundesministerium des Innern, hat kürzlich im Tagesspiegel einen bizarren Gastbeitrag unter der Überschrift „Lockdown ja – aber nur für Gefährder!“ veröffentlicht, in dem er so ziemlich alle kriminologischen Kategorien durcheinanderbringt: „Wer eine Maske trägt und zudem permanent eine App verwendet, die im Infektionsfall alle Kontakte alarmiert, stellt eine weit geringere Gefahr für die Allgemeinheit dar als jeder andere.“ Ist ein Risikopatient oder unmaskierter, App-loser Bürger dann ein „Gefährder“ wie ein islamistischer Extremist?
Wie bedrohlich die Grenzen zwischen Kriminalität und Krankheit bereits verschwommen sind, zeigt sich in Südafrika: Dort werden unter dem novellierten „Disaster Management Act“ wahrheitswidrige Angaben zum Gesundheitszustand unter Strafe gestellt. Wer den Behörden eine Infektion verheimlicht, muss mit einer Geld- oder Gefängnisstrafe rechnen. Der virologische Natur- und Urzustand – jeder Wirt ist dem anderen ein Feind! – schlägt um in einen neohobbesianischen „body politic“: Man muss Informationen seines Körpers mit der Gemeinschaft teilen.
Die Logik der Corona-App des RKI ist ähnlich: Der Einzelne verhält sich nur solidarisch, wenn er einen Teil seines Datenkörpers, gewissermaßen in einem quasireligiösen Akt, an die Gemeinschaft gibt. Die Vermassung der Körper durch Big Data, das Gerede von der „Herdenimmunität“, die Entindividualisierung durch Atemschutzmasken, all das lässt erahnen, wie sich westliche Gesellschaften unter epidemiologischem Druck auf ein kollektivistisches Modell zubewegen, in dem die Integrität des Gesellschaftskörpers mehr zählt als das Individuum.
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