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Das Konzept NationalstaatEin Volk ist kein Zuhause

Der deutsche und andere Nationalstaaten sind in einer Welt globaler Krisen überholt. Warum keine kosmopolitische Alternative?

„Ich möchte keinem Club angehören, der mich als Mitglied haben will!“: Groucho Marx Foto: Mary Evans/imago

D as angegraute Haupt des Nationalismus regt sich wieder überall in Europa, weswegen es an der Zeit ist, mal grundsätzlich zu werden. Von Groucho Marx ist der Satz überliefert: „Ich möchte keinem Club angehören, der mich als Mitglied haben will!“ So geht es mir mit dem „deutschen Volk“ (mit jeder anderen Nation auch), obwohl ich seit 1986 Staatsbürger bin, halb freiwillig eingebürgert, denn das Leben davor als Staatenloser war reichlich unbequem.

Das deutsche Volk ist eine Erfindung. So wie die Liliputaner oder die Leute aus Brobdingnag. Ich habe nichts gegen Erfindungen und bin ein Fan von „Gullivers Reisen“. Es geht nicht um Wertung, sondern um Beschreibung. Nationale Identität ist eine Abstraktion, die einen nicht durch den Alltag bringt. Sie stiftet Sinn in Ausnahmesituationen: auf Fernreisen, bei Weltmeisterschaften, im Krieg. Kaum ein Nationalstaat besaß anfänglich ein „Volk“ mit einheitlicher Nationalkultur. Das musste erst geschaffen werden, meist mit Gewalt.

Das deutsche Volk ist somit eine zwanghafte Erfindung, die das Homogene zu verteidigen hatte. Folglich ist der Begriff Volk blutdurchtränkt. Unvermeidlich die vielen Kämpfe und Kriege, die in seinem Namen geführt werden. Das eine Volk muss sich von anderen Völkern abgrenzen, um sichtbar zu werden. Es muss essenzielle Behauptungen aufstellen, um sich zu behaupten.

Das deutsche Volk ist zudem eine recht simple Erfindung. Das muss so sein, um möglichst rasch und unkompliziert Gemeinschaft zu stiften. Komplexe Ideen lassen sich schlecht in eine Flagge wickeln und mit einer Hymne begießen. Pathos verwendet eine einfache Sprache. Individuelles muss draußen bleiben. Nationalisten missachten den intimen Kern von Heimat. Sie setzen der persönlichen Weltbeziehung die Narrenkappe einer konstruierten Uniformierung auf. Und alle paar Jahrzehnte wird der Inhalt dieses Pathos ausgetauscht: vorvorvorgestern Preußen, vorvorgestern das Deutsche Reich, vorgestern BRD und DDR, gestern Deutschland, heute Deutschland in Europa und so weiter.

Das deutsche Volk ist eine simple Erfindung: Komplexe Ideen lassen sich schlecht in eine Flagge wickeln und mit einer Hymne begießen

Sehr wandlungsfähig, dieses deutsche Volk. Eine Erfindung, die auch anders aussehen könnte: Stellen wir uns vor, alle Deutsch sprechenden Menschen, jene aus dem Osten Belgiens sowie alle anderen auch, wären in einem Staat vereint, und dieser Staat hieße … Almanya, so wie Deutschland auf Türkisch heißt, oder Schwabia, so wie die Deutschen auf dem Balkan genannt werden. Was wäre gewonnen oder verloren? Nichts! Der Unterschied wäre kaum merklich. Folgt daraus nicht, dass diese Erfindung verschwinden könnte, ohne großes Getöse?

Das deutsche Volk ist eine Erfindung und zugleich die Voraussetzung für den deutschen Nationalstaat. Was spricht für diesen, außer Gewohnheit und das Echo einstiger progressiver Größe? Gewohnheit ist ein gefährliches politisches Phänomen. Wir akzeptieren das Geläufige unabhängig von seinen Vor- und Nachteilen, wir misstrauen dem Unbekannten. Politisch betrachtet sind die meisten von uns agoraphobisch.

Aber was ist mit der progressiven Größe, die der nationale Gedanke einmal zweifellos innehatte? Um Hannah Arendt zu zitieren: „Der Souveränitätsbegriff des Nationalstaats, der ohnehin aus dem Absolutismus stammt, ist unter heutigen Machtverhältnissen ein gefährlicher Größenwahn. Die für den Nationalstaat typische Fremdenfeindlichkeit ist unter heutigen Verkehrs- und Bevölkerungsbedingungen so provinziell, dass eine bewusst national orientierte Kultur sehr schnell auf den Stand der Folklore und der Heimatkunst herabsinken dürfte. Wirkliche Demokratie aber […] kann es nur geben, wo die Machtzentralisierung des Nationalstaats gebrochen ist und an ihre Stelle die dem föderativen System eigene Diffusion der Macht in viele Machtzentren gesichert ist.“

Der Nationalstaat ist zu klein und zu groß für die Herausforderungen der Gegenwart. Den ökologischen Krisen kann nur global begegnet werden, der Krise der Demokratie hingegen, der Sehnsucht der Menschen nach mehr Teilhabe und Mitbestimmung, viel besser lokal. Die Beschränkung auf eine Nation wird nicht mehr der Tatsache gerecht, dass Menschen selten in eine einzige Gemeinschaft hineinpassen, dass ihre Wechselbeziehungen und die Auswirkungen ihrer Handlungen die Grenzen sprengen, heute mehr denn je zuvor.

Ilija Trojanow

ist Schriftsteller, Weltensammler und Autor zahlreicher Bücher. Im August 2020 erschien sein Roman „Doppelte Spur“ bei S. Fischer.

Das deutsche Volk ist ein Anachronismus. Das ist Latein für „Schnee von gestern“, und wenn Sie in letzter Zeit auf der Zugspitze waren, dann wissen Sie, dass auf dem Gipfel Deutschlands das Gletschereis unwiederbringlich schmilzt. Wir sollten das nationale Pathos ablegen und unsere politischen Beziehungen mithilfe von Recht und Menschenrecht regeln, das für alle überall gültig ist.

Aber was ist mit dem emotionalen Gehalt der Idee eines „deutschen Volkes“? Was soll mir das Herz wärmen, wenn im kalten November unsere Kicker in Katar vor den Geistern von zehntausend umgekommenen Bauarbeitern um Ruhm kämpfen? Wie wäre es mit einer kosmopolitischen Alternative? Wenn Sie sich als Union-Fan, Jesuit und Yogi oder als Gewerkschafterin, Geigerin und Witzbold definierten? Das klingt für mich attraktiver als die Identifikation über ein Volk, das keine essenziellen Eigenschaften hat. Manchmal wird der deutsche Fleiß genannt und ich muss an die Dogan in Mali denken, die jeden Tag sechzehn Stunden arbeiten, um auf kargem Land zu überleben. Mit Work-Life-Balance ist dort wenig.

Was wir brauchen, ist die Freiheit der kulturellen Wahl. Heutzutage erst recht, da Milliarden Menschen zunehmend global vernetzt sind und sich höchst unterschiedlich identifizieren.

Ich habe die deutsche Sprache gewählt, und glauben Sie mir, ich liebe sie, heftiger und inniger als die Verteidiger des Deutschtums, die mir gelegentlich Hassmails schreiben, voller Fehler. Weswegen ich in ihrem Club nicht Mitglied sein möchte.

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14 Kommentare

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  • I. Applaus zu diesem Text!



    II. "… Recht und Menschenrecht …, das für alle überall gültig ist." - Daumen in die Wunde: Wie stehen wir nochmal zum Universalismus? Da haben sich doch progressive Denker davongeschlichen, in den letzten mindestens 50 Jahren. Bei welchem Recht treffen sich denn alle? Gemeinsamer Nenner mit Xi und Putin und MBS? Oder doch Manifest Destiny? Dazu wünsche ich mir eine Fortsetzung von Herrn Trojanow!

  • " ein Anachronismus. Das ist Latein ..."

    Nuja, das "-us" is tatsächlich Latein, aber insgesamt isses dann doch griechisch; sagen wir: ein latinisierter Graecismus, brav im lateinischen Nominativ. Und als solches ziemlich und ziemlich einzig: deutsch. Gelle ?

  • Die gezähmte Form des Nationalstaates, wie sie z.B. auch Deutschland darstellt, ist für mich nach wie vor ein Modell, das funktionieren kann. Mit Nationalismus und Deutschtümelei kann ich absolut nichts anfangen. Für mich ist Deutschland eher ein Gebilde, das einen rechtlichen, verwaltungsmäßigen und strukturellen Rahmen vorgibt, in dem man sein Leben einrichten kann. Der Nationalstaat ist ein Anachronismus, ja dem ist wohl so. Aber bis auf weiteres werden wir wohl mit diesem Anachronismus leben müssen, da sich bislang noch kein besseres, allgemein gewünschtes Alternativmodell herausgestellt hat.

  • Sie haben einen Grundsatz politischer Selbstbestimmung nicht verstanden.



    Die Beziehung von Bürgern zum Staat wird bereits von Recht bestimmt, bezogen auf das Territorium der Bundesrepublik.



    Ich möchte hier nicht unter den LGBTQ+ feindlichen Bestimmungen von Polen leben.



    Die EU im derzeitigen fluiden Zustand, das Rechts-Populisten Wahlen gewinnen, ist zumindest derzeit in keinem Zustand die Belange von den Mitgliedsstaaten ausreichend differenziert zu regeln, dass es in Ungarn oder Italien oder Polen oder Schweden und auch in Tschechien und Bulgarien nicht zu Volksaufständen führen könnte, wenn die Ehe für alle flächendeckend in Europa eingeführt werden würde. Es würde ein zentralistisches Monster entstehen.



    EU-Recht, und Veto-Recht gehört reformiert, ja, aber die politischen Entscheidungen sollen schon von Personen ausgehandelt werden, die auf diesem Territorium demokratisch legitimiert wurden.



    Zu den pathetischen Gefühlen von Mitbürgern bleibt doch nur die Toleranz, dass jeder sich in der Weise wohlfühlen soll, wie es in sein Leben passt.



    Wenn man also verkündet 'Wir sind Papst' amüsieren Die sich doch einfach.

  • Ja, es ist eine Erfindung. Und? Da die Geschichte schon erwähnt wurde, mal der Blick nach Vorne.



    Was sind denn die kosmopolitischen Alternativen? Die kommen in dem Hin und Her von Preussen bis nach Katar doch ein wenig kurz.



    Selbst wenn Nationen keine Identitäten mehr vermitteln, was man vielleicht begrüßen kann, so sind es Verwaltungseinheiten.



    Wenn 81 Mio sich für ein Bürgergeld entscheiden, dann kann man das nicht beliebig ausweiten, sondern kosmopolitsch nur schrumpfen. Dann müssten vielleicht nicht nur die Dogan 16h pro Tag zum Überleben arbeiten. Kann man ja mal zur Abstimmung stellen.

    • @fly:

      Guter Kommentar. Erstaunlich, dass der durch kam.

    • @fly:

      Ihr letzter Absatz gefällt mir gut.

  • Im Grunde sehr verständlich.

    Aus dem All betrachtet gibt es keine Grenzen, Länder, Nationalstaaten etc.

    Der natürliche Zustand der Erde ist einer ohne Grenzen.

    Doch ganz praktisch: Diese Welt hat jetzt acht Milliarden Bewohner hat. 1950 waren wir noch 2,7 Milliarden.

    Wie wollen Sie das strukturieren? Diese unendlich heterogenen Interessen? Eine Weltregierung? Natürlich wäre China dafür, selbstverständlich unter chinesischer Flagge. Oder unter der Flagge der World of Islam. Oder unter russischer?

    Gut, wenn sich kleinere Länder organisieren, die EU macht es vor, solange es nicht um Geld geht. Seit 70 Jahren waren die Spannungen, Streitereien und gegenseitigen Ressentiments in der EU nicht so groß wie jetzt. GB ist schon weg. Als nächstes Italien?

    Wie stehen kleinere Länder im Vergleich zu größeren da? Kleine Staaten gelten generell als reicher und sicherer als große Staaten, als glücklicher und weniger korrupt.

    Im weltweiten Vergleich ist das verruchte Deutschland seit fast 80 Jahren eines der friedlichsten Länder der Welt. Mit einer guten Chance, dass das auch noch lange so bleibt, solange nicht Armut, Arbeitslosigkeit, Inflation und Schulden weiter zunehmen.

    Hannah Arendt hatte zu ihrer Zeit mit dem Zitat ganz gewiss Recht.

    Auch heute gibt es noch eine Menge Leute, siehe AfD, die zurück ins völkische Walhalla wollen.

    Doch wie sieht die Gegenwart aus?

    50 Prozent der Kinder unter zehn Jahren haben inzwischen einen Migrationshintergrund wie die FAZ kürzlich meldete.

    Das deutsche Volk ist ein Anachronismus. "Schnee von gestern".

    Wir sollten uns nach einem anderen Namen umschauen. Global Section XY?

    Erste Voraussetzung für eine höhere Kultur ist eine höhere Bewusstheit. D. h. mehr Bildung. Schaffen wir aber leichter über eine weniger bevölkerte Welt. Ich befürworte eine globale Ein-Kind-Politik. Hilft auch gegen den Klima-GAU.

    www.faz.net/aktuel...rund-18165625.html

  • Im Mittelalter war Territorium eine private Angelegenheit des Hochadels.



    Nationalismus war eine Erfindung der französischen Revolution um die allgemeine Wehrpflicht einzuführen.



    In Deutschland war es eine Marketingaktion der 1815 stark gewachsenen Fürstentümer ihre neuen Untertanen einzubinden.

  • Schlimm ist, dass nach dem Zweiten Weltkrieg das musikalisch öde, aber textlich größenwahnsinnige Deutschlandlied bis heute unreflektiert genutzt wird. Zwar erscheint die dritte Strophe moderat, aber die beiden ersten Strophen sind noch da und werden hierzulande auch gerne von bestimmten Gruppen intoniert. Konsequent wäre es gewesen, dieses fürchterliche Lied direkt nach 1945 einzumotten - zumal es vor 1871 entstand, als es in der Endphase der Kleinstaaterei en vogue war, von einem großen, mächtigen und vereinten Deutschland zu träumen.

  • Was ist ein Weltensammler?



    War nicht eher Weltenbummler gemeint?

  • Nachdem nicht mehr Kaiser und Könige ein Herrschaftsgebiet als ihren Besitz definierten, benögtigte man andere Inhalte, um ein Staatsgebiet abzugrenzen. So kam die Idee des Nationalstaates im 19. Jahrhundert auf. Ich würde ihn gerne überwinden, aber die Frage bleibt, wie man Demokratie in einem offenen Gebilde gestaltet. Open boarders finde ich toll, aber wie einen umverteilenden Sozialstaat organisieren, der ja nur auf einem defnierten Gebiet Szeuern und Sozialabgaben erheben und innere Sicherheit organisieren kann. Ein Weltbürgerrecht wäre ein Traum: aber wie organisiert man das im Detail? Und genau darauf kommt es an, auf Wohnung, Arbeit, soziale Sicherheit, Daseinsvorsorge, also Schulen und ein Gesundheitssystem, das funktioniert.

  • Geschätzter - Schon - from member of Groucho Marx Fraktion.



    Wie wär‘s statt klein-klein-Shit - mit =>

    Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 2.0 ?? - 🥳🥳 -



    “Heiliges Römisches Reich (lateinisch Sacrum Imperium Romanum oder Sacrum Romanum Imperium), seit dem Ende des 15. Jahrhunderts auch Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation (lateinisch Sacrum Imperium Romanum Nationis Germaniae),



    de.wikipedia.org/w...C3%B6misches_Reich



    “Aufgrund seines multiethnischen, vor- und übernationalen Charakters und seines universalen Anspruchs entwickelte sich das Reich nie zu einem Nationalstaat moderner Prägung, sondern blieb ein monarchisch geführter, ständisch geprägter Verband von Kaiser und Reichsständen mit nur wenigen gemeinsamen Institutionen wie dem Reichstag und dem Reichskammergericht. Seit der Frühen Neuzeit war das Reich strukturell nicht mehr zu offensiver Kriegsführung, Machterweiterung und Expansion fähig. Rechtsschutz und Friedenswahrung galten seither als seine wesentlichen Zwecke. Das Reich sollte für Ruhe, Stabilität und die friedliche Lösung von Konflikten sorgen, indem es die Dynamik der Macht eindämmte: Untertanen sollte es vor der Willkür der Landesherren und kleinere Reichsstände vor Rechtsverletzungen mächtigerer Stände und des Kaisers schützen. Da seit dem Westfälischen Frieden von 1648 auch benachbarte Staaten als Reichsstände in seine Verfassungsordnung integriert waren, erfüllte das Reich zudem eine friedenssichernde Funktion im System der europäischen Mächte.“



    & Däh



    “Das Reich konnte seit der Mitte des 18.Jhd. seine Glieder immer weniger gegen die expansive Politik innerer und äußerer Mächte schützen. Dies trug wesentlich zu seinem Untergang bei. Durch die Napoleonischen Kriege und die daraus resultierende Gründung des Rheinbunds, dessen Mitglieder aus dem Reich austraten, war es nahezu handlungsunfähig geworden. Das Heilige Römische Reich erlosch am 6. August 1806 mit der Niederlegung der Reichskrone durch Kaiser Franz II.“ •

  • 6G
    650228 (Profil gelöscht)

    "Das deutsche Volk ist ein Anachronismus."

    Und das ukrainische Volk? Das türkische Volk? Die Kuna?