Das Berliner Zimmer: Der Raum dazwischen
Hier wohnte preußischer Standesdünkel und es galt als „Herberge der Finsternis“: Eine Ausstellung beleuchtet das „Berliner Zimmer“.
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Das Zimmer, das Noniewicz in den Blickpunkt rückt, gehört zu einem Altbau im Stadtteil Jeżyce im westpolnischen Poznań. Einst Teil der im späten 19. Jahrhundert im preußischen Posen hochgezogenen Mietskasernenstadt, ist Jeżyce heute ziemlich angesagt. Bedrängte Wohnverhältnisse, Gentrifizierung, Lifestyle, Protest, alles liegt hier eng beieinander. Und auch die architektonische Verbindung zum 300 Kilometer entfernten Berlin.
„Berliński Pokój“ nennt Marek Noniewicz seine kleine Fotoserie. Ein Berliner Zimmer gibt es nämlich auch im polnischen Posen.
Ein Projekt, das Künstlerinnen und Künstlern aus zwei nahe beieinander liegenden Städten die Möglichkeit gibt, gemeinsam zu arbeiten, nennt die Kuratorin Marianna Michałowska die Ausstellung „Berliner Zimmer“, die im Polnischen Institut in Berlin zu sehen ist. Natürlich ist der Ausstellungstitel eine Metapher. Neben den Arbeiten von Noniewicz sind zum Beispiel auch Videointerviews von Sonya Schönberger zu sehen. In ihnen erzählen Berlinerinnen vom Ankommen in der Stadt und den Geschichten, die ihnen dabei begegnen. Es sind Geschichten des Übergangs, so wie auch das Berliner Zimmer ein Ort des Übergangs ist.
Auch Klangraum In der Ausstellung „Berliner Zimmer/Berliński pokój“ im Polnischen Institut Berlin setzen sich Künstler*innen aus Berlin und Posen mit Fotografien, Installationen und auch musikalisch mit dieser architektonischen Besonderheit auseinander. Geöffnet ist die Schau von Dienstag bis Freitag bis 2. Februar.
Doch was ist das eigentlich, ein Berliner Zimmer, und warum gibt es dieses Zimmer auch in Posen?
Die Geschichte einer „Aneignung“
Dass es durchaus eine Besonderheit ist, weiß Jan Herres. Der junge Architekt hat zahlreiche Berliner Zimmer in Augenschein genommen und ein Buch über ihre Geschichte und ihrer „Bezähmung“ geschrieben, nur dass Herres das lieber „Aneignung“ nennt. Ein Hamburger oder ein Kölner Zimmer, sagt Herres, gibt es nicht. Wohl aber gebe es „Berliner Zimmer“ neben Posen auch in Magdeburg oder Stettin.
Es hat also mit Preußen zu tun und den Mietskasernenstädten, die die Behörden dort zugelassen haben. Denn im Grunde ist das Berliner Zimmer nichts anderes als ein Gelenkraum zwischen dem herrschaftlichen Vorderhaus und den weniger noblen Seitenflügeln. Noch um 1800 standen die Vorderhäuser meist als Solitär auf den Grundstücken. Dort, wo sich heute Seitenflügel oder Hinterhäuser befinden, wurde Gemüse angepflanzt, in einigen Ställen Geflügel gehalten, in Remisen schufteten Handwerker.
Als Berlins Regierungsbaumeister James Hobrecht 1862 den nach ihm benannten Hobrecht-Plan vorlegte, wurde Berlin jedoch bald zur größten Mietskasernenstadt der Welt. Mit seinem Plan wollte Hobrecht Platz für Neubauten schaffen, die bisherige Bauordnung erlaubte es, die schmalen und tiefen Grundstücke eng zu bebauen. Wo zuvor Gemüse angebaut, Tiere gehalten wurden oder Handwerker arbeiteten, wurden Seitenflügel und Hinterhäuser um die engen, oft lichtlosen Hinterhöfe gebaut. „Als sich der Bedarf für größere Wohnungen entwickelte“, sagt Jan Herres, „lag die Idee nah, in den Seitenflügel durchzubrechen“.
Im Grunde ist das Berliner Zimmer also, wie es Herres schreibt, in einem „morphologischen Prozess“ entstanden. Und es ist ein Werk ohne Autor. Im gleichen Jahr, in dem James Hobrecht seinen Bebauungsplan vorlegte, wurde das „Assmannsche Musterbuch“ veröffentlicht, eine Art Baukatalog für die Terraingesellschaften und den Bau der Mietskasernen. „An diesen Grundrissen haben sich alle orientiert“, sagt Herres, der von einer „industriellen Vervielfältigung“ spricht.
Baurecht und Standesdünkel
Zur preußischen Entstehungsgeschichte des Berliner Zimmers gehört aber nicht nur das Baurecht, sondern auch der Standesdünkel. Bald nämlich war der herrschaftliche Wohnraum der Vorderhäuser auf das Berliner Zimmer ausgeweitet, dahinter, rechts und links eines langgestreckten Flures, begann im Seitenflügel der Wohn- und Arbeitsbereich des Gesindes. Damit dieses nicht durch das Berliner Zimmer spazierte, wurden neue Gelenkräume geschaffen. „Es gibt Wohnungen in Berlin, die haben Korridor neben Korridor, nur damit die Lebenskreise getrennt blieben“, sagt Jan Herres.
Für den Architekten, der als Erster überhaupt das Berliner Zimmer erforschte, ist das auch Ausdruck einer Segregation, die damals ihresgleichen suchte. „Dienstbotentreppenhäuser oder auch Portierslogen findet man in Hamburg nur im absoluten Großbürgertum, zehn Zimmer aufwärts“, sagt er. „Dieses preußische Klassendenken hatten die Hanseaten nicht.“ Auch baulich konnte es in Hamburg, wo sich in den Höfen keine Seitenflügel, sondern einzeln stehende und langgezogene „Terrassen“ finden, folglich auch kein Berliner Zimmer geben. Und in Wien wurde das Scharnier zwischen vorne und Seite oft mit dem Treppenhaus belegt.
Kein Zimmer hat seitdem die Gemüter so beschäftigt wie das Berliner. Natürlich hat das auch mit seinen Lichtverhältnissen zu tun. Weil das Berliner Zimmer nur ein einziges Fenster hat und dieses zum Hof liegt, ist es dort auch mitten am Tage ziemlich dunkel. Friedrich Engels nannte es deshalb eine „Berliner Spelunke“. In einem Brief an Wilhelm Liebknecht schrieb er 1893: „Hier in Berlin hat man das ‚Berliner Zimmer‘ erfunden, mit kaum einer Spur von Fenster, und darin verbringen die Berliner den größten Teil ihrer Zeit.“ Wegen der Lichtverhältnisse war das Berliner Zimmer für Engels auch eine „Herberge der Finsternis“.
Nicht minder abschätzig urteilte der Publizist Walter Kiaulehn in seinem 1958 erschienenen Buch „Berlin. Schicksal einer Weltstadt“. Einen „Verlegenheitsraum“, eine „melancholische Höhle mit verschiebbarer Hängelampe“ oder gar ein „besonderes Greuel“ nannte Kiaulehn das Berliner Zimmer: „Eigentlich ein Korridor, der mit Hilfe eines Fensters zum Zimmer hochgeschwindelt wurde. Für einen Korridor war es zu breit, für ein Zimmer zu dunkel.“
Belebung durch die 68er
Sein mieses Image konnte das Berliner Zimmer erst nach dem Krieg abschütteln. Und das hat auch mit der 68er-Bewegung zu tun. Zahlreiche West-Berliner Wohngemeinschaften sind in dieser Zeit im ehemaligen Westen der Stadt entstanden, dort also, wo es viele der bürgerlichen Gründerzeithäuser gab. In der Weimarer Republik waren die herrschaftlichen Wohnungen meist geteilt worden, mit der Nachfrage durch WGs wurden viele wieder zusammengelegt; das Berliner Zimmer bekam seine Rolle als Durchgangsraum zwischen Vorderhaus und Seitenflügel zurück.
Aus den Esszimmern der Belle Époque wurden nun Gemeinschaftsräume, in denen mit neuen Lebens- und Wohnformen experimentiert wurde. Und wenn das nicht klappte, konnte man immer noch ein Sofa, einen Fernseher und einen Kasten Bier ins dunkle Eckzimmer stellen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ein experimenteller Raum ist das Berliner Zimmer auch in der Ausstellung im polnischen Institut. Und ein Raum des Zusammenkommens. „Anbahnung“ nennen die Fotografen Andrea Vollmer und Michael Kuchinke-Hofer ihre Arbeiten, bei denen es um den „Moment der Begegnung“ geht, den „ersten flüchtigen Eindruck“, wenn man durch die Stadt eilt und plötzlich innehält.
Das Gedicht, das die beiden ihrer Fotoserie voranstellen, kann auch als eine Hommage an das Berliner Zimmer verstanden werden:
Wir teilen den Raum / den Moment / die Wärme / die Kälte / die Gerüche / die Geräusche / das Licht. Der Blick und die Gedanken schweifen im Hier und Jetzt / in Vergangenem. Wir suchen die Begegnung am Rande der Stadt / der Raum bekommt ein Gesicht / ein Moment dieser Anbahnung bleibt.“
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