Dänischer Gesundheitsökonom Kjellberg: „Wir glaubten, das beste System der Welt zu haben“
In Dänemark wurde das Krankenhauswesen radikal reformiert. Der dänische Gesundheitsökonom Jakob Kjellberg erklärt, was Deutschland davon lernen kann.

taz: Herr Kjellberg, in Deutschland diskutieren wir seit 20 Jahren über eine Krankenhausreform, die Sie in Dänemark schon nahezu hinter sich gebracht haben. Wann war bei Ihnen klar: So wie bisher geht es nicht weiter?
Jakob Kjellberg: Sehr offensichtlich wurde das, als in den 1990ern Fälle durch die Medien gingen, in denen Frauen mit Brustkrebs die Brust amputiert wurde, weil manche Krankenhäuser die neuen Techniken zur Brusterhaltung nicht beherrschten.
taz: Unglaublich.
Kjellberg: Das waren die drastischen Fälle, die damals Aufsehen erregten. Aber eigentlich wussten wir schon seit einigen Jahren, dass insbesondere in den kleineren Krankenhäusern die Qualität nicht dem Standard entsprach. In einigen gab es noch Vierbettzimmer mit Gemeinschaftsbad. Der Standard war insgesamt sehr niedrig, das Gesundheitssystem hinkte massiv hinterher. Unsere Überlebensrate nach Krebserkrankungen war in den 1990ern vergleichbar mit Osteuropa, es gab Diskussionen über Wartelisten und so weiter. Mehr und mehr wurde allen klar: Es muss etwas getan werden. Und dann gab es dänische Politiker, die Visionen für das Gesundheitssystem hatten und an strukturelle Veränderungen glaubten. So wurde die große Reform 2007 auf den Weg gebracht.
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taz: Wir sprechen von Zentralisierung, nicht wahr – weniger Krankenhäuser mit höherer Qualität?
Kjellberg: Ja, darauf liefen die Diskussionen hinaus. Auch die Medizin, die Ärzte und ihre Gewerkschaft befürworteten Investitionen in eine spezialisierte Gesundheitsversorgung, da Ärzte in der Regel lieber in urbanen Gebieten leben und nicht auf dem Land.
taz: In Deutschland haben wir auch deshalb einen sehr hohen Druck auf das Krankenhaussystem, weil die kleineren Häuser nicht rentabel sind. Spielte das bei Ihrer Reform auch eine Rolle?
Kjellberg: In Dänemark sind Krankenhäuser in öffentlicher Hand, Profit ist nicht wirklich ein Thema.
taz: Heißt das, in Dänemark bekommen die Krankenhäuser das Geld, das sie tatsächlich benötigen – und nicht etwa wie in Deutschland bestimmte Pauschalen?
Kjellberg: Wir haben auch ein System von fallbezogenen Pauschalen – das verwenden wir aber im Wesentlichen nur zum Qualitätsvergleich. Die Regionalregierungen verwalten das Geld und teilen es den Krankenhäusern zu.
taz: Und Geld gibt es inzwischen genug in Dänemark.
Kjellberg: Wir haben genug Geld für die Gesundheitsversorgung, das ist richtig.
taz: Und niemand hat Sorge, dass die Krankenhäuser viel zu viel ausgeben?
Professor für Gesundheitsökonomie und einer der führenden Experten für das dänische Gesundheitswesen. Er arbeitet am Nationalen Forschungs- und Analysezentrum für Wohlfahrt Vive in Kopenhagen.
Kjellberg: Ein Krankenhaus bekommt ein bestimmtes Budget, und wenn man das als Direktor nicht einhält, dann ist man nicht mehr Direktor. Das gilt auch für die Politiker in den Regionalregierungen. Es gehört nicht zu unserer Kultur in der öffentlichen Verwaltung, mehr auszugeben, als da ist.
taz: Im Zuge der Zentralisierung wurden ganz neue, moderne Krankenhauszentren geplant.
Kjellberg: Es ging bei dieser Reform ja nicht nur um Schließungen kleiner Kliniken, sondern um eine Erneuerung der gesamten Krankenhausinfrastruktur.
taz: Einige dieser Superkrankenhäuser sind fast 20 Jahre nach Verabschiedung der Reform noch immer nicht fertig, und das Budget haben sie auch gesprengt.
Kjellberg: Um genau zu sein, heißen sie nicht Superkrankenhäuser – so werden sie nur in den Medien genannt – sondern Qualitätsfondsgebäude. Unsere Krankenhausreform wird aus einem Qualitätsfonds bezahlt.
taz: In Deutschland heißt der Transformationsfonds…
Kjellberg: Bei solchen großen Bauvorhaben ist es jedenfalls normal, dass die im Jahr 2007 geplanten Kosten überschritten werden, wenn das Gebäude 2025 fertiggestellt wird. Es gab auch ein paar Fälle von schlechtem Management und ungünstigen Bauplanungen. Aber ich schätze, wenn alles fertig ist, werden die Mehrkosten beim Bau 20 Prozent betragen. Das ist im Vergleich sehr wenig.
taz: Wegen der Mehrkosten soll es zu Kürzungen beim Personal kommen.
Kjellberg: Es ist tatsächlich so, dass das Gesamtbudget des Qualitätsfonds nicht überschritten werden darf. Wenn also die Baukosten höher sind, muss das Geld woanders gespart werden. Aber wie gesagt, das sind in der Gesamtbetrachtung keine großen Summen.
taz: Die Gewerkschaften sehen das sicherlich anders. Haben die damals gar nicht für den Erhalt der kleinen Häuser gekämpft?
Kjellberg: Es gab heftige Diskussionen, teils auch Demonstrationen, wann immer irgendwo ein Krankenhaus geschlossen wurde. Da ging es um Arbeitsplätze und die Frage, ob dieses Krankenhaus nicht zu der Gesellschaft vor Ort gehört. Aber Fakt war: Niemand wollte mehr in diesen kleinen Krankenhäusern behandelt werden, als klar wurde, wie schlecht die Qualität dort ist. Insofern waren diese Debatten schon durch, als die große Reform verabschiedet wurde, und die meisten kleinen Krankenhäuser waren auch bereits geschlossen. Es gab in den 2000ern fast niemanden mehr, der an der Notwendigkeit einer Zentralisierung zweifelte. Deshalb war diese große Reform möglich, so funktioniert Demokratie.
taz: Sie meinen, indem man die Bevölkerung über die tatsächlichen Verhältnisse informiert?
Kjellberg: Wir glaubten in den 1980er Jahren fest daran, dass wir das beste Gesundheitssystem der Welt hatten. Viele Länder glauben das. Und dann gab es diesen Weckruf mit den Brustkrebsfällen. Damals haben wir angefangen, Daten zu messen, zu vergleichen und zu veröffentlichen. Das ist der Schlüssel für tiefgreifende Veränderungen. Heute können wir mit großer Gewissheit sagen, dass wir zu den Top 5 der Gesundheitssysteme weltweit gehören. Weil wir transparente Daten haben, die das belegen.
taz: Digitalisierung ist dafür sicher hilfreich.
Kjellberg: Das dänische Gesundheitssystem ist in vielerlei Hinsicht digitalisierter als jedes andere Gesundheitssystem, das ich kenne. Ich kann als Forscher mit kompletten Datensätzen arbeiten, die bis in die 1970er Jahre zurückreichen. Wenn man den Kern des Gesundheitssystems weiterentwickeln will, braucht man wirklich gute Daten.
taz: Und in den neuen Kliniken haben jetzt tatsächlich alle Patient*innen Einzelzimmer?
Kjellberg: Einzelzimmer mit eigenem Bad, das ist jetzt Standard, außer in den wenigen älteren Häusern, die es noch gibt.
taz: Eine Zweiklassenmedizin kennen Sie nicht?
Kjellberg: Wenn Sie in einem öffentlichen Krankenhaus in Dänemark sind, sind Sie ein öffentlicher Patient. Es gibt private Zusatzversicherungen zum Beispiel für Zahnbehandlungen oder Physiotherapie, die sind generell bei Erwachsenen in Dänemark nicht abgedeckt. Und es gibt auch ein paar private Kliniken für so etwas wie Brustvergrößerungen. Aber grundsätzlich ist der medizinische Standard für alle Dänen gleich hoch. Wir haben 20 Jahre Reform gebraucht, um ein exzellentes Krankenhauswesen mit kurzen Wartezeiten aufzubauen. Die können Sie mit einer Privatbehandlung in manchen Bereichen vielleicht noch von einem Monat auf zwei Wochen verkürzen – aber das fällt wirklich nicht ins Gewicht.
taz: Ging es bei der großen Reform nur um die Krankenhäuser?
Kjellberg: Wir haben sehr viel Geld in mehr Qualität in den Krankenhäusern und auch in die präklinische Versorgung gesteckt: Den Notruf, die Notaufnahmen, die Rettungswagen, die Hubschrauber. Wir sind in verschiedene Länder gereist, um zu sehen, ob wir etwas in unser System integrieren können, was wir noch nicht haben. Ich würde sagen, dieser Teil des Gesundheitssystems ist jetzt sehr gut. Aber es gab 2007 auch noch den Plan, die ambulante Versorgung zu verbessern. Und da haben wir kläglich versagt.
taz: Tatsächlich?
Kjellberg: Wir geben die Hälfte unserer Gesundheitsausgaben in den Krankenhäusern aus, deutlich mehr als die meisten anderen Länder. Und das liegt daran, dass wir bisher nicht genug in den Ausbau der ambulanten Gesundheitsversorgung, in mehr Qualität, in leichtere Zugänge und kürzere Wartezeiten investiert haben.
taz: Das können Sie doch noch angehen.
Kjellberg: Wir hatten über einen längeren Zeitraum sehr schwache Regierungen, im Grunde rechte oder linke Minderheitsregierungen. Sie konnten keine strukturellen Reformen durchführen. Jetzt haben wir eine Regierung, die eine breite Mehrheit vertritt, und tatsächlich werden viele Reformen angestoßen, auch vorangetrieben durch die starke Wirtschaft. Für das Gesundheitswesen gab es im vergangenen Jahr eine Expertenkommission, in der ich auch saß, die Vorschläge ausarbeiten sollte. Unser Fokus lag auf einer vollständigen Reform der ambulanten Versorgung. Diese Vorschläge wurden von der Regierung mehr oder weniger übernommen und im Dezember wurde ein Gesetz beschlossen, mit dem die Kapazitäten und die Qualität in den Hausarztpraxen verbessert werden sollen. Wir befinden uns also wieder in einer großen Umbruchphase. Diese Reform ist so grundlegend wie die Krankenhausreform, die wir 2007 beschlossen haben. Es wird nur nicht so viel darüber geredet.
taz: Aber wäre es besser gewesen, diese beiden Reformen wären Hand in Hand gegangen?
Kjellberg: Auf jeden Fall, das kann man nur empfehlen. Es ist wirklich toll, wenn man eine ausgezeichnete Krebsbehandlung hat. Aber das hat am Ende nur einen sehr geringen Einfluss auf die Lebenserwartung. Man muss viel früher anfangen als im Krankenhaus, nur dann lässt sich die Qualität ganz grundlegend verbessern. Das betrifft auch die Ungleichheit in der ambulanten Gesundheitsversorgung zwischen Stadt und Land.
taz: Woher kommt die?
Kjellberg: Ausgangspunkt ist der Wohnungsmarkt. Die Metropolregion Kopenhagen ist in den letzten 20 Jahren für viele unerschwinglich geworden. Früher war Kopenhagen eine Stadt für ältere und arme Menschen. Heute ist es eine Stadt, in der junge Menschen mit doppeltem Einkommen und ohne Kinder leben. Die anderen ziehen in ländliche Gebiete, und dort ist die medizinische Versorgung schlechter, weil dort weniger Ärzte sind. Die Lebenserwartung ist in den ländlichen Regionen Dänemarks nachweislich geringer.
taz: Und wie wollen Sie das ändern?
Kjellberg: Bisher müssen Hausärzte 1.600 Patienten versorgen – egal ob es sich dabei in der Stadt um überwiegend junge, gesunde Menschen handelt oder auf dem Land um ältere Menschen mit chronischen Erkrankungen. Das wird sich mit der Reform ändern, auf dem Land werden die Hausärzte weniger Patienten versorgen müssen für das gleiche Geld – und das wird den Job dort attraktiver machen.
taz: Tatsächlich? Wollen die Ärzte nicht trotzdem lieber in den Metropolen arbeiten?
Kjellberg: Das wird nicht gehen. Zum einen gibt es feste Vorgaben, wie viel Personal die Krankenhäuser einstellen dürfen. Zum anderen bilden wir aktuell mehr Ärzte aus, als wir eigentlich brauchen. So schaffen wir im Grunde genommen Arbeitslosigkeit unter den Ärzten. Das wird dafür sorgen, dass sich die Ärzte umorientieren müssen.
taz: Über mehr Medizinstudienplätze wird auch in Deutschland seit Ewigkeiten diskutiert, aber das ist immens teuer, und aktuell fehlen Milliarden im Haushalt.
Kjellberg: Geld macht es natürlich leichter, Dinge zu ändern. Aber genauso entscheidend ist die breite Einsicht in die Notwendigkeit tiefgreifender Reformen und eine Regierung, die sagt, wir gehen das jetzt an.
taz: Daran fehlt es in Deutschland, würde ich sagen.
Kjellberg: In Deutschland fehlt vor allem eine zentralisierende Instanz. Es ist schwierig, wenn der Staat keine strenge Kontrolle über das eigene Gesundheitssystem hat und keine transparenten Daten über die Qualität zur Verfügung stehen. In Dänemark ist das anders, weil das Gesundheitssystem uns gehört und wir es selbst betreiben.
taz: Also alles wunderbar in Dänemark?
Kjellberg: In der medizinischen Behandlung mag das so sein oder ist auf dem richtigen Weg. Aber auch wir haben ein riesiges ungelöstes Problem: Uns fehlen Pflegekräfte, um vor allem ältere Menschen in ihrem eigenen Zuhause zu versorgen. Wenn wir bis 2035 schauen und 2019 als Basis nehmen und dann die Demografie und all das berücksichtigen, dann bilden wir 10.000 Ärzte mehr aus, als wir brauchen. Aber uns fehlen 15.000 Pflegehelfer in den Gemeinden, diesen Job will niemand machen. Und das liegt nicht nur an der Bezahlung.
taz: Sie könnten dieses Problem durch Migration angehen, aber die Migrationspolitik Dänemarks gehört zu den restriktivsten in Europa.
Kjellberg: Das ist tatsächlich keine Lösung, mit der die Dänen glücklich würden. Und ob es ethisch vertretbar ist, Menschen ins Land zu holen für Jobs, die keiner machen will, halte ich auch für fraglich. Nein, bisher haben wir wirklich keine Ahnung, wie wir den massiven Mangel an Pflegekräften, der uns bevorsteht, bewältigen sollen.
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