DIW-Chef Fratzscher über Subventionen: „Es braucht ein neues Steuersystem“
DIW-Präsident Marcel Fratzscher ist gegen einen Industriestrompreis und Steuersenkungen für Firmen. Er wünscht sich mehr Mittel gegen Kinderarmut.
taz: Ist Deutschland gerade in keiner guten Verfassung, wie es zehn SPD-nahe Ökonomen kürzlich in einem Schreiben an die Bundesregierung formulierten – oder ist es bereits wieder der kranke Mann Europas?
Marcel Fratzscher: So viel Pessimismus ist fehl am Platz: Deutschland geht es wirtschaftlich den Umständen entsprechend gut. Es leidet zwar stärker als seine Nachbarn unter der Energiepreiskrise, weil es eine relativ offene Volkswirtschaft ist und abhängiger von russischem Gas sowie Öl war als andere. Es gibt aber keinen Grund, von einer drohenden Deindustrialisierung zu sprechen, wie das einige Politiker tun.
ist seit 2013 Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Der Ökonom lehrt zudem Makroökonomie an der Humboldt-Universität.
Der Internationale Währungsfonds prognostiziert immerhin eine Rezession in diesem Jahr von minus 0,3 Prozent.
Nichtsdestotrotz ist Deutschland eine starke Volkswirtschaft. In den 2010er Jahren hatte es ein relativ großes Wirtschaftswachstum, einen massiven Beschäftigungsaufbau, und die Industrieunternehmen konnten ihre Marktanteile weltweit ausbauen. Insofern geht es dem Land verhältnismäßig gut. Die Probleme sind weniger kurzfristiger, sondern vielmehr langfristiger Natur.
Was sind denn die großen Herausforderungen?
Wir müssen die Struktur der deutschen Volkswirtschaft grundlegend verändern. Viele große deutsche Industriekonzerne haben in den vergangenen Jahren die Transformation verschlafen. Und zwar sowohl in Bezug auf Klimawandel und Energiewende als auch auf viele Zukunftstechnologien im Rahmen der Digitalisierung. Klar ist auch: Es muss etwas bezüglich der sozialen Teilhabe gemacht werden, damit es eine Akzeptanz für die Transformation hin zu Nachhaltigkeit und Klimaschutz gibt. Nicht alle Menschen in Deutschland konnten von den guten Entwicklungen in den 2010er Jahren profitieren. Die jüngsten Krisen haben diese soziale Unwucht noch verstärkt.
Nun hat sich die Ampelkoalition nach langen Diskussionen auf die Einführung der Kindergrundsicherung geeinigt. 2,4 Milliarden Euro veranschlagt Familienministerin Lisa Paus dafür. Ist das ein sozialpolitischer Durchbruch?
Die verhandelte Lösung zur Kindergrundsicherung ist ein enttäuschender Kompromiss. Die zusätzlichen 2,4 Milliarden Euro sind wenig mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, der kaum substanzielle Linderung der Kinderarmut in Deutschland bringt.
Hat dann Familienministerin Lisa Paus richtig gehandelt, als sie Christian Lindners Wachstumschancengesetz im Kabinett blockierte, um mehr Geld für die Kindergrundsicherung herauszuholen?
Diese Diskussion ist ein Armutszeugnis. Wir haben in Deutschland eine der größten Kinderarmutsquoten in Europa. Bei Kindern von Alleinerziehenden beträgt sie fast 40 Prozent. Mehr Investitionen in die Kindergrundsicherung sind essenziell. Auch für die Gesellschaft als Ganzes. Die Unternehmen werden ebenfalls langfristig von der Kindergrundsicherung profitieren, wenn dadurch Kinder aus armen Familien qualifizierte Bildungsabschlüsse erlangen und so gute Fachkräfte werden.
Wie viel ist notwendig, um die Kinderarmut effektiv zu bekämpfen?
Bereits relativ kleine Beträge können einen großen Effekt haben. Würden bedürftige Familien einen zusätzlichen Transfer zu den aktuellen Leistungen von 100 Euro pro Kind und Monat erhalten, würden 400.000 bis 450.000 Kinder und Jugendliche aus der Armut befreit. Das würde zwischen vier und fünf Milliarden Euro jährlich kosten. Das ist eine sehr geringe Summe, wenn man sie mit den 15 Milliarden Euro jährlich vergleicht, die allein die Steuersenkungen in Rahmen des Inflationsausgleichsgesetzes im vergangenen Jahr kosten und die vor allem Gutverdienenden zugute kommen.
Lindner will mit seinem Wachstumschancengesetz die Unternehmen entlasten. Wie kann der Staat der Wirtschaft helfen?
Die Unternehmen brauchen jetzt Fachkräfte, eine große Initiative in Forschung und Entwicklung sowie Bildung. Entlastungen von Unternehmen über Industriestrompreis, Steuersenkungen und Blanko-Subventionen sind der falsche Weg. Sie zementieren alte Strukturen und verhindern Wettbewerb. Die Unternehmen brauchen verlässliche Rahmenbedingungen und damit Klarheit, wo es in den nächsten 20 Jahren hingeht.
Vor einigen Tagen hat sich eine Allianz pro Brückenstrompreis gegründet. Sie besteht aus Gewerkschaften und Industrieverbänden und warnt, dass bis zu 2,4 Millionen Arbeitsplätze und gut 240 Milliarden Euro Wertschöpfung an energieintensiven Unternehmen hängen. Ist das für Sie eine vernachlässigbare Größe?
Die Industrie ist wichtig in Deutschland. An ihr hängen viele gute Arbeitsplätze. Es ist wünschenswert, wenn die betroffenen Branchen innovativ und global wettbewerbsfähig bleiben. Zur Transformation gehört aber auch, dass mehr Unternehmen als üblich aus Deutschland verschwinden werden. Entweder, weil sie ins Ausland abwandern oder weil ihr Geschäftsmodell nicht mehr tragfähig ist. Das ist notwendig, damit neue Ideen, neue Produkte, neue Unternehmen entstehen können. Das bedeutet Transformation.
Was ist mit den Arbeitsplätzen, die dadurch vernichtet werden?
Bei der Beschäftigung mache ich mir keine Sorgen. Wir haben heute bis zu zwei Millionen offene Jobs. Wir haben ein Problem mit Fachkräftemangel – nicht mit Arbeitslosigkeit.
Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck fordert einen subventionierten Industriestrompreis, wenigstens eine Zeitlang. Weite Teile der SPD sind dafür, Kanzler Olaf Scholz aber dagegen. Wird der Industriestrompreis kommen?
Wahrscheinlich ja. Aber es ist eine politische Frage. Ein subventionierter Industriestrompreis ist aus ökonomischer Sicht aus zwei Gründen falsch: Erstens werden damit alte Strukturen zementiert und notwendige Veränderungen verhindert. Zweitens wird das Geld mit der Gießkanne verteilt. Wenn dem Staat gewisse Branchen wichtig sind, dann muss er Unternehmen sehr selektiv helfen. Ansonsten ist es lediglich eine Umverteilung, die die Transformation bremst.
Befürworter wenden ein, dass es nicht unbedingt darum geht, den Industriestrom billiger zu machen, sondern den Preis zu stabilisieren, weil dieser derzeit stark schwankt. Sie wollen den Unternehmen dadurch Planungssicherheit geben.
Planungssicherheit ist wichtig. Strompreisspitzen entstehen aus Knappheiten. Dagegen kann man durchaus auch etwas machen. Aber der Industriestrompreis ist dafür das falsche Instrument. Schwankungen im Preis sind kein Argument für einen durch Subventionen künstlich verringerten Industriestrompreis.
Wenn Sie weder für Steuersenkungen noch verbilligten Strom sind: Wo sollte der Staat dann den Unternehmen unter die Arme greifen?
Wenn der Staat Unternehmen hilft, sollte das sehr gezielt geschehen. Hilfen sollten bei der Forschung und Entwicklung ansetzen. Neue Abschreibungsmöglichkeiten bei Forschungs- und Entwicklungsprojekten wären ein Ansatz. Denn bei der Transformation geht es nicht darum, dass durch den Ausbau der Erneuerbaren der Strompreis wieder sinkt. Es geht darum, dass Prozesse neu und effizienter gestaltet werden müssen, dass neue Technologien umgesetzt werden. Dabei sind auch endlose Genehmigungsverfahren Gift für Investitionen.
Die Unternehmen klagen nicht nur über zu hohe Energiepreise. Viele monieren auch, dass US-Präsident Biden mit seinem milliardenschweren IRA-Subventionspaket zu ihrem Nachteil die eigene Wirtschaft massiv fördert. Muss die Bundesregierung da nachlegen?
Deutschland fördert seine Wirtschaft bereits in einem ähnlichen Umfang wie die USA. Biden hat für sein IRA in den nächsten zehn Jahren 369 Milliarden US-Dollar veranschlagt. Die Bundesregierung hat in den vergangenen anderthalb Jahren über die verschiedenen Fonds wie den Klima- und Transformationsfonds und den Wirtschaftsstabilisierungsfonds insgesamt 350 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Dabei ist die US-Volkswirtschaft fünfmal größer als die deutsche. Am Geld mangelt es also nicht, es sollte nur klüger eingesetzt werden.
Wohin sollte das Geld dann fließen?
Wir haben in Deutschland eine Investitionslücke von drei bis vier Prozent der Wirtschaftsleistung. Das sind 120 bis 160 Milliarden Euro, die mehr investiert werden müssten. Das meiste sind private Investitionen, aber auch in der öffentlichen Infrastruktur gibt es einen massiven Bedarf. Auch der Abbau der Bürokratie und die anstehende Gebäudesanierung kosten Geld. Und es darf nicht vergessen werden, dass die Hälfte der öffentlichen Investitionen von Kommunen getätigt werden. Da gibt es ein großes Süd-Nord-Gefälle. 30 Prozent der Kommunen sind überschuldet. Denen muss geholfen werden.
Und das alles ohne zusätzliche Mittel?
Nein. Derzeit gibt es durch die Fonds ausreichend finanziellen Spielraum im Haushalt. Für die nächsten zehn Jahre brauchen wir sicherlich zusätzliche Mittel. Da muss sich die Politik eingestehen und sich fragen, ob sie die Schuldenbremse als Überbleibsel vergangener Zeiten beibehalten will oder in Transformationszeiten für dringend notwendige Investitionen mehr Geld in die Hand nehmen will.
Sie sehen die schwarze Null, auf die Herr Lindner pocht, kritisch?
Eindeutig ja.
Darf sich der Staat in Zeiten steigender Zinsen überhaupt höhere Schulden leisten?
Ich mache mir wenig Sorgen um Deutschlands Schuldenstand. Er ist gering, Deutschland zahlt sehr wenig Zinsen. Eine Rendite von 2,8 bis 3,0 Prozent auf zehnjährige Staatsanleihen bei einer Inflation von voraussichtlich 6 Prozent bedeutet, dass die Zinsen, die der Bund für seine Schulden zahlen muss, nach Abzug der Inflation negativ sind. Der Staat ist einer der größten Gewinner der Inflation. Erstens, weil die Steuern ordentlich sprudeln und zweitens, weil die Schuldenquote im Vergleich zur Wirtschaftsleistung deutlich sinkt.
Mehr Schulden sind eine Finanzierungsmöglichkeit. Die andere wären höhere Steuern. Braucht es ein neues Steuersystem?
Es braucht ein neues, faireres Steuersystem. Das ist nicht allein eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch eine ökonomische. Es gibt kaum ein Land, das Arbeit stärker und Vermögen geringer besteuert als Deutschland. In Deutschland machen vermögensbezogene Steuern ungefähr 1 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. In Frankreich, Großbritannien oder den USA sind es 3 bis 4 Prozent. Würde Deutschland Vermögen so stark wie sie besteuern, dann bedeutete dies Mehreinnahmen für den Staat von jährlich 100 bis 120 Milliarden Euro.
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